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Kellner in rot-weißen Uniformen und mit blauen Fliegen um den Hals verteilten Brunnenkresse-Sandwiches und Weinflaschen in Eiskübeln im Prominentenpavillon. Barkeeper mit farblich ähnlich patriotisch gestalteten Ärmelschonern rollten Bierfässer und Servierwagen voll hartgekochter Eier in die Zelte der Werftarbeiter am Flussufer. Ein warmer Lufthauch wehte durch den riesigen Schuppen, in dem sich die Helling befand, und Sonnenstrahlen drangen durch die Glasscheiben im Dach. Es schien, als sei die Hälfte der Bevölkerung von Camden, New Jersey, auf den Beinen, um den Stapellauf der Michigan zu feiern, die mit ihren 16 000 Tonnen am oberen Ende einer Gleitbahn, die sich in den Fluss hinabsenkte, im Gleichgewicht gehalten wurde.
Der Schuppen war mit dem Klang von Stahl, der gegen Holz geschlagen wurde, erfüllt, doch der Rhythmus des Hämmerns hatte sich deutlich verlangsamt. Die Keile hatten das Schiff von fast allen Pallen gelöst. Außer auf einigen wenigen Keilen ruhte der Rumpf auf dem Schlitten, der den stählernen Koloss ins Wasser tragen sollte.
Die Plattform, die den stählernen Bug des Schiffes umgab und auf der die Schiffstaufe stattfinden sollte, war ebenfalls mit roten, weißen und blauen Wimpeln und Girlanden geschmückt. Eine Champagnerflasche in einem geflochtenen Netz, die mit Seidenbändern – gleichfalls in den Farben der amerikanischen Flagge – verziert war, auch um das Herumfliegen von Glassplittern zu vermeiden, wartete in einem großen mit Rosen gefüllten Korb auf ihren Einsatz.
Die Taufpatin des Kriegsschiffes, eine hübsche dunkelhaarige junge Frau, die die Taufe vornehmen würde, stand in einem gestreiften Flanellkostüm und mit einem breitkrempigen, mit rosafarbenen Pfingstrosen ausstaffierten Merry-Widow-Hut auf dem Kopf daneben. Sie ignorierte die aufgeregten Instruktionen eines stellvertretenden Marineministers – ihres Vaters –, der sie warnte, sich im letzten Moment auf keinen Fall zurückzuhalten, sondern die Flasche »mit aller Kraft zu schleudern, sobald sich das Schiff in Bewegung setzt, sonst ist es zu spät«.
Sie hatte jedoch nur Augen für einen großen, hellblonden Detektiv in weißem Anzug, dessen Blick ruhelos hin und her wanderte und bis auf sie alles einer genauen Prüfung unterzog.
Isaac Bell hatte kein Bett mehr gesehen, seit er vor zwei Tagen in Camden eingetroffen war. Ursprünglich hatte er vorgehabt, mit Marion am Abend vor dem Festakt anzureisen und in Philadelphia zu dinieren. Aber das war gewesen, ehe das Büro in Philadelphia ein dringendes Telegramm nach New York geschickt hatte. Beunruhigende Gerüchte seien im Umlauf, ein geheimnisvoller Deutscher habe die Absicht, den Stapellauf zu stören. Detektive, die die deutsche Einwanderergemeinschaft überwachten, hatten von der kürzlich erfolgten Ankunft eines Deutschen gehört, der behauptete, aus Bremen zu kommen, jedoch mit deutlichem Rostocker Akzent spreche. Er rede zwar davon, Arbeit bei der New York Ship zu suchen, habe sich jedoch nie bei der Firma gemeldet und vorgestellt. Gleichzeitig hätten mehrere Hilfsarbeiter unerklärlicherweise ihre offiziellen Kontrollabzeichen verloren, die sie als Werftangehörige identifizierten.
An diesem Morgen war Angelo Del Rossi, der befrackte Inhaber der Tanzhalle in der King Street, in der Alasdair MacDonald ermordet worden war, in aller Herrgottsfrühe bei Isaac Bell erschienen. Er berichtete, dass eine verzweifelte und verängstigte Frau bei ihm vorbeigekommen sei. Ein Deutscher, auf den die Beschreibung des Mannes aus Rostock passe – groß, blond, bedrückt wirkend –, habe gegenüber der Frau einige verdächtige Bemerkungen von sich gegeben, die sie sofort an Del Rossi weitergemeldet habe.
»Sie ist gelegentlich im ambulanten Gewerbe tätig, Isaac, wenn Sie wissen, was ich meine.«
»Ich habe schon von solchen besonderen Nebentätigkeiten gehört«, versicherte ihm Bell. »Was genau hat sie gesagt?«
»Dieser Deutsche, mit dem sie zusammen war, platzte irgendwann unvermittelt damit heraus, dass keine Unschuldigen sterben sollten. Sie fragte ihn, was er damit meine. Sie hatten wohl einiges getrunken. Er verstummte, wurde dann aber wieder gesprächiger, wie es bei Trinkern typisch ist, und erklärte, die Sache und das Ziel seien zwar richtig, nur die Methoden seien falsch. Abermals fragte sie, was er damit meine. Dann brach er zusammen und weinte und sagte – und das, so versichert sie, wären genau seine Worte gewesen: ›Der Dreadnought wird fallen, aber Menschen werden sterben.‹«
»Glauben Sie ihr?«
»Sie hatte keinerlei Vorteil davon, dass sie zu mir kam, außer einem reinen Gewissen. Sie kennt Männer, die auf der Werft arbeiten. Sie will nicht, dass ihnen etwas zustößt. Daher war sie so mutig, sich mir anzuvertrauen.«
»Ich muss mit ihr reden«, sagte Bell.
»Sie wird Ihnen nichts erzählen. Sie macht keinen Unterschied zwischen Privatdetektiven und Cops, und Letztere mag sie gar nicht.«
Bell holte eine Goldmünze aus seinem Gürtel und reichte sie dem Saloonbesitzer. »Kein Cop würde ihr zwanzig Dollar zahlen, damit sie redet. Geben Sie ihr dies. Bestellen Sie ihr, dass ich ihren Mut bewundere und nichts tun werde, das sie in Gefahr bringen könnte.« Er musterte Del Rossi mit strengem Blick. »Sie glauben mir doch, Angelo. Oder etwa nicht?«
»Meinen Sie, sonst wäre ich zu Ihnen gekommen?«, konterte Del Rossi mit einer Gegenfrage. »Ich werde sehen, was ich tun kann.«
»Reicht das Geld?«
»Es ist mehr, als sie in einer Woche verdient.«
Bell gab ihm eine weitere Münze. »Hier ist noch eine Woche. Es ist lebenswichtig, Angelo. Vielen Dank.«
Ihr Name lautete Rose. Sie hatte keinen Nachnamen genannt, als Del Rossi ein Treffen zwischen ihnen im hinteren Teil seiner Tanzhalle arrangierte, und Bell fragte auch nicht danach. Unerschrocken und selbstbewusst wiederholte sie alles, was sie Del Rossi bereits erzählt hatte. Bell ließ sie reden, stellte nur gelegentliche behutsame Fragen, und sie fügte schließlich hinzu, dass die Abschiedsworte des Deutschen, als er schwankend das Zimmer verließ, das sie in einer Hafenbar gemietet hatten, lauteten: »Es wird geschehen.«
»Würden Sie ihn wiedererkennen, wenn er Ihnen noch einmal begegnete?«
»Ich glaube schon.«
»Wie würde es Ihnen gefallen, vorübergehend auf die Lohnliste der Van Dorn Agency gesetzt zu werden?«
Nun spazierte sie in einem weißen Sommerkleid und einem mit Blumen geschmückten Hut über die Werft und tat so, als sei sie die kleine Schwester der beiden stämmigen Van-Dorn-Agenten, die sich als Rohrschlosser verkleidet hatten und den Stapellauf ihres Schiffes feiern wollten. Ein Dutzend weitere Detektive streiften über die Werft und überprüften die Identitäten aller, die in der Nähe der Michigan arbeiteten, vor allem der Zimmerleute, die die Keile direkt unter dem Schiffsrumpf bearbeiteten. Diese Männer mussten spezielle rote Passierscheine bei sich tragen, die die Van Dorn Agency – anstatt der New York Ship – für den Fall ausgegeben hatte, dass die Büros der Schiffswerft bereits von Saboteuren infiltriert worden waren.
Die Boten, die Bell auf der Plattform auf dem Laufenden hielten, waren auf Grund ihres jugendlichen Aussehens ausgewählt worden. Bell hatte angeordnet, dass sie sich wie Collegestudenten kleiden sollten – Strohhüte, Sommeranzüge, runde Kragen und Krawatten –, um die Besucher, die zur Begrüßung des neuen Schiffes aus der Stadt gekommen waren, nicht abzuschrecken.
Er hatte eine Verschiebung des Festaktes gefordert, aber eine Absage der Zeremonie wurde nicht einmal theoretisch in Erwägung gezogen. Zu viel hinge von dem Stapellauf ab, hatte Captain Falconer erklärt, und alle Beteiligten würden aufs Schärfste dagegen protestieren. Die New York Ship wolle es sich auf keinen Fall nehmen lassen, die Michigan noch vor der South Carolina von Cramp’s Shipyard, deren Fertigstellung nur noch wenige Wochen in Anspruch nehmen würde, zu Wasser zu lassen. Die Navy wollte den Rumpf endlich schwimmen sehen, um den weiteren Ausbau in Angriff nehmen und beenden zu können. Außerdem wagte niemand im Kabinett, Präsident Roosevelt über eine Verzögerung ins Bild zu setzen.
Die Zeremonie sollte um Punkt elf Uhr beginnen. Captain Falconer hatte Bell unmissverständlich klargemacht, dass der Stapellauf pünktlich stattfinden werde. In weniger als einer Stunde würde der Dreadnought entweder heil und unbehelligt auf der Helling ins Wasser gleiten, oder der deutsche Saboteur würde zuschlagen und unter den unschuldigen Zuschauern ein Blutbad anrichten.
Eine Marine-Blaskapelle stimmte ein Medley mit Kompositionen von John Philip Sousa an, und auf dem Podium am Bug des Schlachtschiffrohbaus fanden sich Hunderte von prominenten Gästen ein, die eingeladen worden waren, um aus nächster Nähe verfolgen zu können, wie die Champagnerflasche am Schiffsrumpf zerschellte. Bell entdeckte den Innenminister, drei Senatoren, den Gouverneur von Michigan und mehrere Mitglieder von Präsident Roosevelts sportlichem »Tennis-Kabinett«.
Die obersten Bosse der New York Ship kamen zusammen mit Admiral Capps, dem Chefkonstrukteur der Navy, die Treppe herauf. Anstatt mit der Werftleitung unterhielt sich Capps lieber mit Lady Fiona Abbington-Westlake, der Ehefrau des britischen Marineattachés, einer bildschönen Frau mit einer schimmernden Flut kastanienbraunen Haars. Isaac Bell musterte sie verstohlen. Die Van-Dorn-Rechercheure, die mit dem Spionagefall um Hull 44 befasst waren, hatten berichtet, dass Lady Fiona mehr Geld ausgab, als ihr Mann verdiente. Schlimmer noch, sie zahlte einem Franzosen namens Raymond Colbert Schweigegeld. Niemand wusste, was Colbert gegen sie in der Hand hatte oder ob es damit zusammenhing, dass ihr Mann Geheimnisse der französischen Marine meistbietend verkaufte.
Das deutsche Oberhaupt, Kaiser Wilhelm II., wurde durch einen von einer Säbelnarbe gezeichneten Militärattaché, Leutnant Julian Van Stroem, vertreten, der erst vor kurzem aus Deutsch-Ostafrika zurückgekehrt war. Verheiratet war er mit einer amerikanischen Freundin Dorothy Langners. Plötzlich teilte Dorothy selbst in dunkler Trauerkleidung die Menge. Die lebhafte rothaarige junge Frau, die ihm schon im Willard Hotel aufgefallen war, begleitete sie. Katherine Dee, so hatte die Rechercheabteilung berichtet, war die Tochter eines irischen Auswanderers, der nach Irland zurückgekehrt war, nachdem er mit dem Aufbau katholischer Schulen in Baltimore ein Vermögen verdient hatte. Da er schon wenig später verstorben war und Katherine damit zu einer Waise gemacht hatte, hatte diese eine Klosterschule in der Schweiz besucht.
Der attraktive Ted Whitmark, der ihnen dichtauf folgte, schüttelte Hände, klopfte auf Rücken und verkündete mit einer Lautstärke, die vom Glasdach des Werftschuppens widerhallte: »Die Michigan wird Uncle Sams bestes Kampfschiff sein.« Während Whitmark, ein leidenschaftlicher Spieler und ebenso intensiver Trinker, in seinem Privatleben des Öfteren eine ziemlich jämmerliche Figur abgab – zumindest ehe er Dorothy kennengelernt hatte –, hatte die Rechercheabteilung mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass er besonders geschickt darin war, lukrative Verträge mit der Regierung abzuschließen.
Wie es für die inzestuösen Beziehungen in der Clique der Industriellen, Politiker und Diplomaten, die um die »Neue Navy« herumschwirrten, typisch war, hatten er und Dorothy Langner sich während eines von Captain Falconer veranstalteten Muschelessens kennengelernt. Dazu hatte Grady Forrer in der Rechercheabteilung der Van Dorn Agency einmal bissig bemerkt: »Der einfachste Teil war festzustellen, wer mit wem ins Bett steigt; schwieriger ist jedoch, zu erfahren warum. Wobei das Warum von Geld über vorzeitige Beförderung und Spionage bis zu Sabotage reichen kann.«
Bell sah, wie der Anflug eines Lächelns um Dorothys Lippen spielte. Er folgte ihrem Blick und bemerkte, wie der Schiffsingenieur Farley Kent ihr Lächeln mit einem Kopfnicken erwiderte. Dann legte Kent seinem Gast – Leutnant Yourkewitsch, Kriegsschiffarchitekt des Zaren – den Arm um die Schultern und stürzte sich mit ihm in die Gästeschar, als wolle er Ted und Dorothy möglichst aus dem Weg gehen. Ted, der nichts von dem kurzen Blickwechsel bemerkt hatte, ergriff die Hand eines älteren Admirals und tönte: »Ein großer Tag für die Navy, Sir. Wirklich, ein großer Tag.«
Dorothys Blick wanderte wieder in Bells Richtung und fixierte ihn. Freundlich erwiderte er ihren Blick. Er hatte sie seit seinem Besuch in ihrem Haus in Washington nicht mehr gesehen, hatte sie jedoch auf Van Dorns Drängen hin per Telefon darüber informiert, dass er die starke Hoffnung hege, den Namen ihres Vaters schon bald von jeglichem Makel reinwaschen zu können. Sie hatte sich herzlich bei ihm bedankt und die Hoffnung geäußert, ihn bei dem Festbankett anlässlich des Stapellaufs wiederzusehen. Wenn er die Blicke, die sie ihm nun schickte, richtig deutete, wären weder Ted Whitmark noch Farley Kent über dieses Treffen besonders erfreut, vermutete Bell.
Ein warmer Atemhauch traf sein Ohr. »Für eine Lady in Trauerkleidung ist das aber ein recht gewagtes Lächeln.«
Marion Morgan kam hinter ihm hervor und steuerte direkt auf Captain Falconer zu. Er sah heldenhaft prächtig aus in seiner weißen Galauniform, dachte sie, oder prächtig heldenhaft, den Kopf über seinem Stehkragen stolz erhoben, die Brust mit funkelnden Orden gespickt, einen Zeremoniensäbel an der schmalen Hüfte.
»Guten Morgen, Miss Morgan«, begrüßte Lowell Falconer Marion Morgan herzlich. »Gefällt es Ihnen hier?«
Sie und Isaac hatten am Abend zuvor auf Falconers Jacht diniert. Als Bell ihm versprochen hatte, dass Arthur Langner von dem Verdacht, Schmiergeld angenommen zu haben, vollkommen befreit werden würde, hatte ihr offen zur Schau getragener Stolz auf ihren Verlobten keinen Zweifel daran gelassen, wem ihre innige Liebe galt. Trotzdem, so gestand sich Falconer reumütig ein, war er nicht gerade enttäuscht gewesen, als Bell sich entschuldigen musste, um eine weitere Kontrolle der Helling unter dem Schiffsrumpf zu beaufsichtigen. Nachdem sich der Detektiv entfernt hatte, bewegte sich ihre Unterhaltung vom Schlachtschiffbau über das Herstellen von Kinofilmen, Seekriegstaktik, die Gemälde von Henry Reuterdahl, die Washingtoner Politik bis hin zu Falconers Karriere. Rückblickend erkannte er, dass er ihr viel mehr über sich offenbart hatte, als es seine Absicht gewesen war.
Der Held von Santiago kannte sich selbst gut genug, um sich einzugestehen, dass er sich in sie verliebt hatte. Doch er bekam nicht das Geringste davon mit, dass ihn die schöne Miss Morgan als Tarnung benutzte, während sie einen elegant gekleideten Japaner verfolgte, der sich ständig mit einem Kopfnicken und einem Tippen gegen die Hutkrempe nach rechts und links grüßend durch die Versammlung schob.
»Warum«, wollte sie von Falconer wissen, um Zeit zu gewinnen, »heißt die Werft eigentlich New York Ship, wenn sie sich in Camden, New Jersey, befindet?«
»Das verwirrt jeden«, erklärte Falconer mit seinem liebenswürdigsten Lächeln und einem schalkhaften Augenzwinkern. »Ursprünglich wollte Mr Morse seine Werft auf Staten Island aufbauen, aber Camden bot bessere Eisenbahnverbindungen und die Nähe zu Philadelphia – mit seinem umfangreichen Reservoir an erfahrenen Werftarbeitern. Warum lächeln Sie so, Miss Morgan?«
Daraufhin sagte sie: »So, wie Sie mich gerade angesehen haben, kann ich von Glück sagen, dass Isaac in der Nähe und bewaffnet ist.«
»Nun, das sollte er auch sein«, entgegnete Falconer schroff. »Wie dem auch sei, in Camden, New Jersey, befindet sich jedenfalls die modernste Schiffswerft der Welt. Was den Bau von Dreadnoughts betrifft, so ist nur noch unsere wichtigste Einrichtung im Brooklyn Navy Yard größer und leistungsfähiger.«
»Und warum ist das so, Captain?« Ihre Beute kam allmählich näher.
»Sie arbeiten dort nach einem hochmodernen System. Größere Bauteile werden vorgefertigt. Brückenkräne transportieren sie über das gesamte Werftgelände, als seien es Zutaten beim Kuchenbacken. Diese Schuppen über den Hellingen sorgen dafür, dass sich schlechtes Wetter nicht auf die Bautätigkeit auswirken kann.«
»Sie erinnern mich an unsere verglasten Studios, die wir für Innenaufnahmen benutzen, wobei die Studios natürlich viel kleiner sind.«
»Aufbauten und Geräte, die gewöhnlich erst nach dem Stapellauf hinzugefügt werden, können im Schutz der Dächer bereits montiert werden. Wenn das Schiff vom Stapel läuft, befinden sich seine Geschütze bereits an Ort und Stelle.«
»Faszinierend.« Der Mann, den sie beobachtete, war stehen geblieben und blickte durch eine Lücke im Gerüst, die einen Blick auf den langen Panzergürtel des Schiffes gestattete. »Captain Falconer? Wie groß ist die Besatzung der Michigan?«
»Fünfzig Offiziere. Einhundertfünfzig Soldaten.«
Sie äußerte einen Gedanken, der so schrecklich war, dass sich ihr Gesicht verdüsterte. »Das sind furchtbar viele Seeleute auf engstem Raum, falls einmal das Schlimmste geschieht und das Schiff sinkt.«
»Moderne Kriegsschiffe sind gepanzerte Särge«, antwortete Falconer weitaus offener, als er es einem Fremden gegenüber getan hätte. Aber ihre Gespräche am vorangegangenen Abend hatten eine solide Vertrauensbasis zwischen ihnen geschaffen und ihm ihre überlegene Intelligenz demonstriert. »Ich habe während der Schlacht gegen die Japaner in der Straße von Tsushima Russen zu Tausenden sterben gesehen. Schlachtschiffe versanken innerhalb von Minuten. Bis auf ein paar Zielsucher auf den Beobachtungsmasten und ein paar Männer auf der Kommandobrücke waren alle anderen unter Deck gefangen.«
»Kann ich davon ausgehen, dass unser Ziel in Zukunft darin besteht, Kriegsschiffe zu bauen, die nur langsam sinken und den Männern ausreichend Gelegenheit geben, sich in Sicherheit zu bringen?«
»Das Ziel sind Schlachtschiffe, die möglichst lange einsatzbereit bleiben. Dazu müssen die Besatzung, die Maschinen und die Geschütze durch schwere Panzerung abgeschirmt werden. Gleichzeitig muss die Schwimmfähigkeit des Schiffes erhalten werden. Die Seeleute, die siegen, bleiben auch am Leben.«
»Demnach ist dies ein besonders glücklicher Tag, wenn ein solch modernes Schiff vom Stapel läuft.«
Captain Falconer sah Marion mit finsterer Miene unter seinen buschigen Augenbrauen hinweg an. »Unter uns, Miss, dank der Tatsache, dass der Kongress ihre Größe auf 16 000 Tonnen beschränkt hat, hat die Michigan fast drei Meter weniger Freibord als die alte Connecticut. Wenn sie jemals bei schwerer See achtzehn Knoten schaffen sollte, dann wird sich die gesamte Besatzung nasse Füße holen, oder ich fresse meine Mütze.«
»Also veraltet, noch ehe sie überhaupt schwimmt?«
»Dazu verdammt, langsame Konvois zu begleiten. Falls sie jemals mit einem richtigen Dreadnought aneinandergerät, sollte das lieber in ruhigen Gewässern geschehen. Verdammt noch mal!«, schnaubte er. »Wir sollten sie in der San Francisco Bay als Empfangskomitee für die Japaner vor Anker gehen lassen.«
Eine zierliche junge Frau näherte sich mit einem sehr teuren Hut, der mit Nadeln, die mit der Aufschrift »Possum Billy« für den Präsidentschaftskandidaten William Taft warben, an ihrer roten Haarpracht befestigt war. »Entschuldigen Sie, Captain Falconer. Gewiss erinnern Sie sich nicht mehr an mich, aber ich habe das Picknick an Bord Ihrer Jacht sehr genossen.«
Falconer ergriff ihre Hand, die sie ihm zögernd entgegenstreckte. »Ich erinnere mich sogar sehr gut an Sie, Miss Dee«, meinte er lächelnd. »Hätte die Sonne bei unserem Muschelessen nicht geschienen, Ihr Lächeln hätte diesen Mangel gewiss voll und ganz wettgemacht. Marion, diese junge Dame ist Miss Katherine Dee. Katherine, begrüßen Sie meine sehr gute Freundin Marion Morgan.«
Katherine Dees große blaue Augen wurden noch größer. »Sind Sie die berühmte Filmregisseurin?«, fragte sie atemlos.
»Ja, die bin ich.«
»Ich liebe Hot Time in the Old Town Tonight! Ich habe den Film schon viermal gesehen.«
»Nun, vielen Dank.«
»Spielen Sie eigentlich jemals selbst in Ihren Filmen mit?«
Marion lachte. »Lieber Himmel, nein!«
»Warum nicht?«, fragte Captain Falconer. »Sie sind eine schöne Frau.«
»Vielen Dank, Captain«, sagte Marion und lächelte Katherine an. »Aber gutes Aussehen ist im Film nicht unbedingt auf Anhieb zu erkennen. Die Kamera hat ihre eigenen Standards. Sie bevorzugt gewisse Merkmale.« Wie das bei Katherine Dee der Fall war, dachte sie bei sich. Aus irgendeinem geheimnisvollen Grund unterstrichen Linse und Licht Katherines Typ mit ihrer zierlichen Figur, dem großen Kopf und den großen Augen.
Als könnte sie ihre Gedanken lesen, sagte Katherine: »Oh, ich wünschte, ich könnte einmal zusehen, wie ein Film gedreht wird.«
Marion Morgan musterte die junge Frau ein wenig genauer. Sie schien für jemanden mit einer derart kleinen Gestalt erstaunlich kräftig zu sein. Das war seltsam. Mehr noch, hinter Katherines atemlos mädchenhaftem Auftreten glaubte Marion etwas Merkwürdiges zu spüren. Doch war es nicht so, dass die Kamera sehr oft Merkwürdigkeiten in Eigenschaften verwandelte, die das Kinopublikum ansprachen? Sie wollte schon bestätigen, dass diese junge Frau über Qualitäten verfüge, die eine Kamera sicherlich lieben werde, und ihr lag eine Einladung in ihr Studio bereits auf der Zunge. Doch an dieser jungen Frau war auch noch irgendetwas, das Marion Unbehagen bereitete.
Dann spürte Marion, wie sich Lowell Falconer neben ihr aufplusterte, was er immer tat, sobald er eine schöne Frau sah. Die Frau, die sich ihnen jetzt näherte, war jene hochgewachsene Brünette, die Isaac schon vorher schöne Augen gemacht hatte.
Lowell trat vor und streckte die Hand aus.
Marion fand, dass Dorothy Langner sogar noch bemerkenswerter war, als nach den Beschreibungen, die sie bisher gehört hatte, zu erwarten gewesen war. Ihr fiel ein Begriff ein, den ihr seit langem verwitweter Vater, der trotz seines mittlerweile vorgerückten Alters endlich wieder einen Sinn für die Freuden des Lebens entwickelte, einmal gemurmelt hatte: »Ein echter Hingucker.«
»Dorothy, es freut mich besonders, dass Sie hierhergefunden haben«, sagte Falconer. »Ihr Vater wäre sicherlich sehr stolz, Sie hier zu sehen.«
»Ich selber bin stolz, seine Geschütze betrachten zu können. Alle bereits montiert. Dies ist eine hervorragende Werft. Sie erinnern sich an Ted Whitmark?«
»Natürlich«, antwortete Falconer und ergriff Whitmarks Hand, um sie zu schütteln. »Ich denke, Sie werden sicherlich sehr beschäftigt sein, wenn die Flotte in San Francisco einläuft, um Nachschub zu fassen. Dorothy, darf ich Sie mit Miss Marion Morgan bekannt machen?«
Marion war sich darüber bewusst, dass sie genau taxiert wurde, während sie einander begrüßten.
»Und natürlich kennen Sie Katherine«, beendete Falconer die Begrüßungszeremonie.
»Wir sind gemeinsam mit der Eisenbahn hierhergekommen«, erklärte Whitmark. »Ich habe einen Privatwagen gemietet.«
Marion sagte: »Entschuldigen Sie mich, Captain Falconer, ich sehe gerade einen Gentleman, dessen Bekanntschaft zu machen Isaac mich gebeten hat. Es war sehr nett, Sie kennenzulernen, Miss Langner, Mr Whitmark, Miss Dee.«
Das Hämmern verstummte plötzlich. Das Schiff ruhte jetzt mit seinem gesamten Gewicht auf dem Schlitten. Isaac Bell eilte zur Treppe, um einen letzten prüfenden Blick nach unten zu werfen.
Dorothy Langner fing ihn am oberen Ende der Treppe ab. »Mr Bell, ich hatte gehofft, Sie hier zu treffen.«
Sie reichte ihm ihre behandschuhte Hand, und Bell ergriff sie höflich. »Wie geht es Ihnen, Miss Langner?«
»Seit unserer Unterhaltung viel besser. Meinen Vater zu rehabilitieren, das bringt ihn zwar nicht zurück, aber es ist doch ein großer Trost, und dafür bin ich Ihnen schon jetzt äußerst dankbar.«
»Ich hoffe, dass wir recht bald eindeutige Beweise vorlegen können, aber, wie ich schon sagte, ich habe nicht die geringsten Zweifel, dass Ihr Vater ermordet wurde, und wir werden seinen Mörder seiner gerechten Strafe zuführen.«
»Gibt es bereits einen Verdächtigen?«
»Darüber möchte ich mich zu diesem Zeitpunkt noch nicht äußern. Mr Van Dorn wird Sie auf dem Laufenden halten.«
»Isaac – ich darf Sie doch Isaac nennen, oder?«
»Natürlich, wenn Sie wollen.«
»Da ist noch etwas, das ich schon einmal gesagt habe. Ich möchte Sie nochmals daran erinnern.«
»Wenn es um Mr Whitmark geht«, meinte Bell mit einem entwaffnenden Lächeln, »dann sollte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass er soeben im Anmarsch ist.«
»Ich wiederhole«, sagte sie ruhig, »ich habe es absolut nicht eilig. Außerdem reist er in Kürze nach San Francisco ab.«
Bell erkannte, dass der wesentliche Unterschied zwischen Marion und Dorothy darin bestand, wie sie die Männer betrachteten. Dorothy ging es nur darum, ihrer Liste von Eroberungen einen neuen Namen hinzufügen zu können. Wohingegen Marion Morgan keinen Zweifel hatte, Männer für sich gewinnen zu können, und es sich daher nicht ständig beweisen musste. Es zeigte sich in ihrer Art zu lächeln. Marions Lächeln war so einnehmend wie eine Umarmung, während Dorothys eine einzige Herausforderung war. Aber Bell blieb die Verzweiflung und Zerbrechlichkeit hinter der selbstsicheren Fassade nicht verborgen. Fast war es so, als drängte sie sich ihm auf und bäte ihn, ihr über den Verlust ihres Vaters hinwegzuhelfen. Und er glaubte nicht, dass Ted Whitmark der richtige Mann war, um das zu versuchen.
»Bell, nicht wahr?«, rief Whitmark laut, während er heranrauschte.
»Richtig – Isaac Bell.«
Er sah, wie Schlepper auf dem Fluss in Position gingen, um den Rumpf an den Haken zu nehmen, sobald er ins Wasser eingetaucht war. »Entschuldigen Sie mich. Ich werde an der Helling gebraucht.«
Yamamoto Kenta hatte alle erreichbaren Fotos von Stapelläufen amerikanischer Kriegsschiffe gründlich studiert, um die passende Kleidung auszuwählen. Er konnte nicht kaschieren, dass er Japaner war. Aber je weniger fremdartig seine Kleidung aussah, desto freier konnte er sich auf dem Werftgelände bewegen und desto näher käme er auch an die ausgewählten Gäste heran. Als er seine Mitreisenden im Zug von Washington gesehen hatte, erkannte er voller Stolz, dass er mit einem hellen blau-weißen Seersuckeranzug und einer zur Farbe des Zierbandes seines Strohhuts passenden grünen Fliege die perfekte Kostümierung für diese Gelegenheit gefunden hatte.
Zur Begrüßung verschiedener Ladys, wichtiger Persönlichkeiten und älterer Gentlemen zog er auf der Werft in Camden wiederholt den Strohhut. Die erste Person, der er nach seiner Ankunft auf der bemerkenswert modern ausgerüsteten Schiffswerft begegnete, war Captain Lowell Falconer, der Held von Santiago. Sie hatten sich im vorangegangenen Herbst während der feierlichen Enthüllung einer bronzenen Gedenktafel zu Ehren von Commodore Thomas Tingey, dem ersten Kommandanten des Washington Navy Shipyard, miteinander unterhalten. Yamamoto Kenta hatte bei Falconer den Eindruck hinterlassen, die japanische Marine im Rang eines Leutnants verlassen zu haben, um sich seiner eigentlichen Leidenschaft, der japanischen Kunst, zu widmen. Captain Falconer hatte seinerzeit eine kurze Führung durch das Waffendepot mit ihm veranstaltet und dabei bewusst auf einen Besuch in der Gun Factory verzichtet.
Als Yamamoto Kenta an diesem Morgen Falconer zum unmittelbar bevorstehenden Stapellauf von Amerikas erstem Dreadnought beglückwünschte, hatte Falconer mit einem säuerlichen »Fast-Dreadnought« geantwortet, da er davon ausging, dass ein ehemaliger Offizier der japanischen Kriegsmarine – alter Seebär wie er selbst – die Schwächen des Schiffes auf Anhieb erkennen würde.
Yamamoto Kenta tippte abermals an die Hutkrempe, diesmal, um eine hochgewachsene, auffällig blonde Frau zu grüßen.
Im Gegensatz zu den anderen amerikanischen Ladys, die mit einem eisigen Kopfnicken für »diesen mickrigen Asiaten«, wie eine von ihnen ihrer Tochter halblaut zugemurmelt hatte, an ihm vorbeigingen, überraschte sie ihn mit einem freundlichen Lächeln und der Feststellung, dass das Wetter für den Stapellauf geradezu ideal sei.
»Und für das Aufblühen besonders schöner Blumen«, erwiderte der japanische Spion, der sich in der Nähe amerikanischer Frauen ausgesprochen wohl fühlte, nachdem er mit mehreren Vertreterinnen der besten Gesellschaft Washingtons kurze Affären unterhalten hatte, da sie sich einredeten, dass ein reisender Museumsexperte für asiatische Kunst ein seelenvoller Künstler und zugleich ein aufregender Exot sein müsse. Nach seiner koketten Bemerkung konnte er erwarten, dass sie sich entweder entfernte oder näher käme.
Er fühlte sich zutiefst geschmeichelt, als sie sich für Letzteres entschied.
Ihre Augen schimmerten in einem aufregenden Korallenmeergrün.
In ihrem Auftreten war sie besonders direkt. »Keiner von uns beiden ist wie ein Marinemensch gekleidet«, sagte sie. »Was führt Sie hierher?«
»Ich arbeite im Smithsonian Institute und habe heute meinen freien Tag«, erwiderte Yamamoto Kenta. Unter ihrem Baumwollhandschuh entdeckte er keine Wölbung eines Traurings. Wahrscheinlich war sie die Tochter eines wichtigen Amtsträgers. »Ein Kollege in der Kunstabteilung hat mir seine Einladungskarte und ein Empfehlungsschreiben überlassen, das mich viel wichtiger erscheinen lässt, als ich tatsächlich bin. Und Sie?«
»Kunst? Sind Sie Künstler?«
»Lediglich ein Konservator. Der Institution wurde eine große Sammlung als Schenkung überlassen. Man bat mich, einen kleinen Teil davon zu katalogisieren – einen sehr kleinen Teil allerdings nur«, fügte er mit einem bescheidenen Lächeln hinzu.
»Meinen Sie die Freer Collection.«
»Ja! Sie kennen sie?«
»Ich durfte meinen Vater einmal ins Haus der Freers in Detroit begleiten, als ich noch ein Kind war.«
Es überraschte Yamamoto Kenta keineswegs, dass sie den phantastisch reichen Hersteller von Eisenbahnwagen kannte. Zu den gesellschaftlichen Kreisen, die sich im Umfeld von Amerikas Neuer Navy etabliert hatten, gehörten die Privilegierten, jene Leute mit den weitreichenden Beziehungen und die Neureichen. Diese junge Lady schien zu Ersteren zu gehören. Ganz gewiss sogar, denn ihr selbstsicheres Auftreten und ihre stilvolle Erscheinung unterschieden sie sehr deutlich von den häufig schrill anmutenden Neulingen in diesen Kreisen. »Was«, fragte er, »ist Ihnen von diesem Besuch noch in Erinnerung geblieben?«
Ihre bezaubernden grünen Augen schienen regelrecht aufzublitzen. »Was ich niemals vergessen werde, sind die Farben in den Holzschnitten Ashiyuki Utamaros.«
»Meinen Sie die Kabuki-Bilder?«
»Ja! Die Farben waren so lebendig und dabei zugleich so fein aufeinander abgestimmt. Das machte seine Wandbilder äußerst bemerkenswert.«
»Seine Wandbilder?«
»Das schlichte Schwarz auf Weiß seiner Kalligraphie war so … so – wie lautet das Wort? – klar, als sollte damit ausgedrückt werden, dass Farbe eigentlich unnötig ist.«
»Aber Ashiyuki Utamaro hat doch gar keine Wandbilder hergestellt.«
Ihr Lächeln verflog. »Habe ich das etwa falsch in Erinnerung?« Sie lachte kurz, ein unbehaglicher Laut, der Yamamoto Kenta warnte, dass hier irgendetwas nicht stimmte. »Ich war erst zehn Jahre alt«, sagte sie eilig. »Aber ich bin absolut sicher, mich erinnern zu können – nein, ich irre mich wohl. Nein, ich bin wirklich dumm. Das ist mir furchtbar peinlich. Jetzt muss ich Ihnen ziemlich töricht vorkommen.«
»Überhaupt nicht«, erwiderte Yamamoto Kenta beschwichtigend, während er sich wiederholt umschaute, um zu sehen, wer sie auf der dicht bevölkerten Plattform beobachtete. Er konnte aber niemanden entdecken. Seine Gedanken rasten. Hatte sie etwa versucht, irgendwelche Lücken in seinen überstürzt erworbenen Kunstkenntnissen aufzuspüren? Oder hatte sie sich tatsächlich geirrt? Gott sei Dank hatte er gewusst, dass Ashiyuki Utamaro eine große Druckerei geleitet hatte und nicht der mönchisch lebende Künstler war, der in strenger Abgeschiedenheit mit ein paar Pinseln, mit Tusche und Reispapier arbeitete.
Sie sah sich um, als suche sie verzweifelt nach einem Vorwand, um sich zu entfernen. »Ich fürchte, ich muss nun gehen«, sagte sie. »Ich bin noch mit einer Freundin verabredet.«
Yamamoto Kenta tippte gegen seinen Strohhut. Aber sie überraschte ihn schon wieder. Anstatt sofort die Flucht zu ergreifen, streckte sie ihm ihre langgliedrige behandschuhte Hand entgegen und sagte: »Wir wurden einander gar nicht vorgestellt. Ich fand es sehr anregend, mich mit Ihnen zu unterhalten. Ich bin Marion Morgan.«
Yamamoto Kenta verbeugte sich und war durch ihre Offenheit sichtlich verwirrt. Vielleicht litt er unter Verfolgungswahn. »Yamamoto Kenta«, sagte er und schüttelte ihr die Hand. »Stets zu Diensten, Miss Morgan. Falls Sie das Smithsonian jemals besuchen sollten, fragen Sie bitte nach mir.«
»Oh, das werde ich ganz gewiss tun«, erwiderte sie und entfernte sich.
Der verwirrte japanische Spion verfolgte, wie Marion Morgan so elegant wie ein Schlachtkreuzer durch die bewegte See mit Blumen geschmückter Hüte glitt. Ihr Kurs kreuzte sich mit dem einer Frau, die einen scharlachroten Hut trug, der mit Seidenrosen üppig bestückt war. Die Hutkrempen hoben sich nach rechts und links und bildeten ein Dach, unter dem sich ihre Wangen berührten.
Yamamoto Kenta spürte, wie sein Mund aufklappte. Er erkannte in der Frau, die Marion Morgan begrüßte, die Geliebte eines verräterischen französischen Marineoffiziers im Kapitänsrang, der sogar seine Mutter für einen Blick auf die Pläne einer hydraulischen Kreiselturbine verkauft hätte. Er verspürte den beinahe unwiderstehlichen Drang, seinen Hut abzunehmen und sich am Kopf zu kratzen. War es als Zufall zu werten, dass sich Marion Morgan und Dominique Duvall kannten? Oder spionierte die schöne Amerikanerin für die hinterhältigen Franzosen?
Ehe er diesen Gedanken weiterverfolgen konnte, musste er seinen Strohhut vor einer schönen Lady ziehen, die von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet war,
»Darf ich Ihnen mein Beileid aussprechen?«, sagte er zu Dorothy Langner, die er während der Enthüllung der Bronzetafel auf dem Washington Navy Yard kennengelernt hatte, bevor er ihren Vater ermordete.
Ein Zimmerermeister in blau gestreiftem Overall fungierte als Isaac Bells Führer, als er eine letzte Inspektion des Schiffsrumpfs durchführte. Sie gingen zweimal daran entlang, auf der einen Seite hin und auf der anderen zurück.
Die letzten Holzstreben, die das Schiff stützten, waren entfernt worden, desgleichen die Pallen – die langen Balken, die seinen Bug und das Heck fixierten. Wo sich kurz vorher noch ein dichter Wald von Stützen und Streben erhoben hatte, konnte man den Schlitten jetzt ungehindert in seiner gesamten Länge betrachten. Nur die Kippstempel lehnten noch am Schiff – schwere Balken, die sich automatisch lösen und umkippen sollten, sobald sich das Schiff in Bewegung setzte und die Führungsschienen hinabglitt, die dick mit gelbem Talg eingeschmiert worden waren.
Fast jeder Kielblock, der das Schiff stützte, war entfernt worden. Die letzten Blöcke wurden durch vier Dreieckshaken zusammengehalten, die an einzelnen Holzwürfeln festgeschraubt waren. Zimmerleute zerlegten sie, indem sie die Schrauben herausdrehten, die sie zusammenhielten. Als die Dreiecke abfielen, sackte das Schlachtschiff im Schlitten ein wenig tiefer. Eilig lösten sie auch die Kielblöcke, es waren die letzten, die das Schiff noch festhielten, und erst jetzt verlagerte die Michigan mit einem lauten Seufzen von Panzerplatten, die sich minimal verschoben, und Nieten, die sich setzten, ihr gesamtes Gewicht auf den Schlitten.
»Alles, was den Rumpf jetzt noch an Ort und Stelle hält, sind die Bremskeile«, erklärte der Zimmermann seinem Begleiter. »Wenn man sie wegzieht, gerät die Michigan ins Rutschen.«
»Fällt Ihnen irgendetwas auf? Fehlt vielleicht etwas?«, fragte der Detektiv.
Der Zimmermann hakte die Daumen in die Taschen seiner Latzhose und schaute sich mit scharfem Blick um. Vorarbeiter scheuchten Arbeiter von der Helling weg und aus dem Schuppen hinaus. Nachdem niemand mehr auf die Keile einhämmerte, herrschte eine gespenstische Stille. Bell hörte die Hornsignale der Schlepper draußen auf dem Fluss und das Murmeln der erwartungsvollen Zuschauer auf der Plattform über seinem Kopf.
»Alles sieht völlig okay aus, Mr Bell.«
»Sind Sie ganz sicher?«
»Das Einzige, was sie jetzt noch tun müssen, ist, diese Flasche zu zerschlagen.«
»Wer ist der Mann mit dem Rammstab?« Bell deutete auf einen Mann, der plötzlich im Schuppen erschien. Auf der Schulter trug er eine lange Stange.
»Das ist der tapfere Bursche, der eigens dafür bezahlt wird, dass er den letzten Bremsklotz lockert, falls er nicht von selbst nachgibt.«
»Kennen Sie ihn?«
»Bill Strong. Der Neffe des Bruders meiner Frau.«
Eine Dampfpfeife gab einen langen, durchdringenden Ton von sich. »Wir sollten den Schuppen jetzt verlassen, Mr Bell. Wenn das Schiff in Bewegung gerät, fällt jede Menge Schrott herunter. Falls wir das Zeug auf den Kopf bekommen, wird es heißen, dass es ein Unglücksschiff ist – nach einem blutigen Stapellauf.«
Sie gingen zur Treppe, die zur Plattform hinaufführte. Gerade als sie sich an der Stelle trennen wollten, wo der Zimmermann zu seinen Gefährten am Flussufer weiterzugehen und Bell zur Plattform hinaufzusteigen beabsichtigte, warf der Detektiv noch einen letzten Blick auf die Helling, den Schlitten und den roten Schiffsrumpf. Am Ende der Helling, dort, wo die Schienen ins Wasser eintauchten, waren massive Eisenketten durch hufeisenförmige Ösen geschlungen worden. Durch Schleppkabel mit dem Schiff verbunden, würden die Ketten die Michigan abbremsen, wenn sie in den Fluss glitt.
»Was macht dieser Mann mit der Schubkarre?«
»Er bringt mehr Talg, um die Gleitbahn zu schmieren.«
»Kennen Sie ihn?«
»Ich wüsste nicht, dass ich ihn schon mal gesehen habe. Aber da kommt schon einer Ihrer Männer, um ihn zu kontrollieren.«
Bell beobachtete, wie ihn der Van-Dorn-Agent anhielt. Der Mann mit der Schubkarre zeigte den hellroten Passierschein vor, den man haben musste, um sich unter dem Schiffsrumpf aufhalten zu dürfen. Im gleichen Moment, als der Detektiv zur Seite trat und dem Mann ein Zeichen gab weiterzugehen, gab jemand einen schrillen Pfiff von sich, und der Agent rannte in diese Richtung los. Der Mann ergriff die Haltebügel seiner Schubkarre und rollte sie zu den Gleitschienen.
»Ein wahrer Patriot«, stellte der Zimmermann fest.
»Was meinen Sie?«
»Weil er diese rot-weiß-blaue Fliege trägt. Er ist ein echter Uncle Sam. Bis später, Mr Bell. Schauen Sie mal im Zelt der Arbeiter vorbei. Dort spendiere ich Ihnen ein Bier.« Während er sich zum Gehen wandte, meinte er noch: »Ich glaube, ich hole mir auch so eine Fliege für den Unabhängigkeitstag. Die Kellner trugen diese Dinger im Zelt vom großen Boss.«
Bell blieb noch einen Moment stehen und sah zu, wie der Mann seine Karre zum Schiffsheck schob. Ein großer Mann, hager, blass, das Haar unter die Mütze gestopft. Außer Bill Strong, der mit seinem Rammstock weit vorn am Bug kauerte, war er der einzige Mann an der Helling. War es ein Zufall, dass er eine Kellnerfliege trug? Hatte er sich durchs Tor geschmuggelt, indem er so tat, als sei er ein Kellner, bis niemand mehr an der Helling war und er Gelegenheit hatte, ungehindert aktiv zu werden? Sein Passierschein hatte den Detektiv überzeugt. Selbst auf diese Entfernung hin hatte Bell erkennen können, dass er die richtige Farbe hatte.
Der Mann begann, hastig Talgklumpen aus der Schubkarre auf die Gleitschienen zu schaufeln. So hastig, stellte Bell fest, dass es eher aussah, als wolle er um jeden Preis die Schubkarre leeren, statt die Schmiere gleichmäßig zu verteilen.
Isaac Bell stürmte die Treppe hinunter. Er rannte am Schiffsrumpf entlang und zog gleichzeitig seine Browning.
»Stopp!«, rief er. »Hände hoch!«
Der Mann wirbelte herum. Seine Augen waren tellergroß. Angst verzerrte seine Miene.
»Schaufel fallen lassen! Pfoten hoch!«
»Was ist los? Ich habe doch meinen roten Passierschein vorgezeigt.« Er hatte einen deutschen Akzent.
»Weg mit der Schaufel!«
Der Mann umklammerte den Stiel so krampfhaft, dass die Sehnen wie Taue auf seinen Händen hervortraten.
Gedämpfter Jubel brandete über Bells Kopf auf. Der Deutsche blickte hoch. Ein Zittern durchlief das Schiff. Plötzlich bewegte es sich. Bell schaute ebenfalls hoch und spürte von oben eine Bewegung. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie sich ein Balken, dick wie eine Eisenbahnschwelle, vom Rumpf löste und auf ihn zukippte. Er machte einen Satz zurück. Der Balken krachte auf die Stelle, wo er gerade noch gestanden hatte, fegte ihm den breitkrempigen Hut vom Kopf und streifte seine Schulter mit der Wucht eines austretenden Pferdes.
Ehe Bell sein Gleichgewicht wiederfand, holte der Deutsche mit der Schaufel aus, biss die Zähne zusammen und schlug mit der Entschlossenheit eines Baseballspielers zu, der einen Soft Pitch in einen Home-Run verwandeln wollte.