24. DEZEMBER 1975

 
Wenn Jenny jemals irgendwem – einem Außenstehenden, dem mitfühlenden Fremden, Wanderpsychologe und Scheidungsrichter in einem, von dem sie sich manchmal vorstellte, er klopfe plötzlich an ihre Tür – hätte schildern müssen, wie es war, mit Wayne Sullivan verheiratet zu sein, dann hätte sie ihm vom heutigen Abend erzählt. Es ist sechs Uhr, hätte sie gesagt, meine Eltern sind da, um mit uns zu Abend zu essen, ich habe die Jungen schon fürs Weihnachtsphoto umgezogen, und Wayne ruft an und sagt, dass er erst in ein, zwei Stunden heimkommt. Weil er noch ein paar letzte Einkäufe machen muss.
Jenny war beim Abspülen. Die Reste des Truthahns waren schon in Tupperschüsseln gefüllt und in den Kühlschrank geräumt. Aus dem Wohnzimmer drangen die Stimmen von Danny und ihrer Mutter; ihr Vater war mit Alex im Spielzimmer – alle paar Minuten hörte sie Alex einen Quietscher ausstoßen oder in seinem Zweijährigen-Singsang irgendwelchen Unsinn daherrufen. Es war zwanzig vor neun. Fast drei Stunden schon, sagte sie zu dem Mann in ihrem Kopf, und noch immer keine Spur von ihm. Und das ist typisch für Wayne. Hier wartet ein ganzes Wohnzimmer voller Geschenke. Kein Mensch verlangt irgendetwas von ihm, außer dass er kommt und mit uns am Tisch sitzt. Und er denkt, er hat noch nicht genug gemacht, und verdirbt uns das Abendessen. Typischer geht’s kaum.
Ihre Mutter las Danny vor; sie war ebenfalls Lehrerin, und Jenny konnte das sorgfältige Auf und Ab ihres Tonfalls hören, die kleinen Betonungen, mit denen sie der Geschichte Dramatik verlieh. Ihre Mutter hatte sich heute Abend selbst übertroffen. Sie war eine Meisterin im Wahren des Scheins, und heute hatte ihnen diese Gabe weiß Gott gute Dienste geleistet. Jennys Vater war aufgebraust, als Jenny verkündet hatte, dass Wayne sich verspäten würde – Jennifer, ich schwör’s dir, der Mann macht das mit voller Absicht -, aber ihre Mutter hatte sich an ihrem Stock hochgezogen und war zu ihrem Vater hin übergegangen und hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt und gesagt: Er meint es nett, Schatz, er kauft Geschenke. Er gibt sich solche Mühe – auf seine Art eben.
Danny hatte nach seinem Vater gefragt, wie auch nicht, und sie hatte ihm gesagt: Daddy kommt ein bisschen später, und er hatte gemault, und Alex hatte gleich eingestimmt, aber ihre Mutter hatte sie beide zur Couch herübergerufen und sie das Fernsehprogramm aussuchen lassen, so dass sie abgelenkt waren. Kurz bevor das Essen aufgetragen wurde, humpelte ihre Mutter in die Küche hinüber, und Jenny gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Danke, sagte sie.
Einen sonderbaren Mann hast du, sagte ihre Mutter.
Wem sagst du das.
Aber einen lieben. Einen ganz lieben.
Ihre Mutter rührte die Soße um, ein entschlossenes Lächeln auf dem Gesicht.
Sie hatten langsam gegessen, immer wieder mit Blick zur Uhr – Jenny wartete lange, bevor sie die Nachspeise holte, und um acht gab sie auf und räumte den Tisch ab. Sie stellte einen Teller mit Truthahn und Kartoffeln – Wayne mochte nichts anderes – zum Wärmen in den Ofen.
Jenny schrubbte das Geschirr – noch dasselbe Service, das sie damals zur Hochzeit bekommen hatten, einschließlich der gekitteten Teller, die an ihrem ersten Hochzeitstag zu Bruch gegangen waren. Wohl zum hundertsten Mal überlegte sie, wie ihr Leben wohl wäre, wenn sie jetzt in Larrys Küche stünde statt in der von Wayne.
Larry und Emily hatten letztes Frühjahr ein neues Haus am anderen Ende des Countys gekauft, zur Feier von Larrys Wahl zum Sheriff. Jenny hatte es selbstredend zusammen mit Wayne und den Jungen besichtigt, aber ein paar Mal war sie auch allein dortgewesen – Emily besuchte zweimal im Monat ihre Großmutter in einem Pflegeheim in Michigan und blieb über Nacht. Jenny war im Sommer dagewesen, während der Schulferien, wenn Wayne in der Arbeit war. Sie lud die Kinder bei ihren Eltern ab und parkte ihr Auto so, dass es von der Straße aus nicht zu sehen war. Es war ein hübsches Haus, groß und hell, mit schönen Panoramafenstern, zu denen die Abendsonne hereinschien, gefiltert durch das Laub zweier riesiger Ahornbäume im Vorgarten. Larry wollte nicht das Ehebett benutzen – nein, das wäre nicht recht, auch wenn ich sie nicht liebe -, also schliefen sie in dem schmalen, ächzenden Gästebett miteinander. Es war Larrys altes Bett aus Highschool-Tagen, was der Sache eine zusätzliche nostalgische Süße verlieh: Auf diesem Bett hatte Larry zum erstenmal ihre Brüste berührt, damals in grauer Vorzeit, als Jenny sechzehn war. Jetzt rührten sie und Larry sich den ganzen Nachmittag nicht aus dem Gästezimmer fort. Sie lachten und schwatzten; wenn Larry kam (mit einem bellenden Laut, den sie drollig gefunden hätte, wenn er sie nicht so erregt hätte), war es, als spränge ihm ein Korken aus der Kehle, und er erzählte ihr stundenlang von den traurigen Geschicken der Bürger von Kinslow. Und immerzu liebkoste er sie dabei mit seinen großen Händen.
Ich hätte schon in der Highschool mit dir schlafen sollen, sagte sie ihm an einem dieser Nachmittage. Dann hätte ich mich nie mit irgendwem anderen eingelassen.
Was hab ich dir gesagt?
Sie lachte. Aber manchmal lachte sie nur, um nicht weinen zu müssen – nicht vor Larry, nicht in der knappen Zeit, die sie miteinander verbringen konnten. Er machte sich andauernd Gedanken um sie, und sie wollte, dass es so viele frohe Gedanken waren wie nur möglich.
Ich hab den falschen Mann geheiratet, hätte sie ihm am liebsten gesagt, aber sie brachte es nicht über sich. Sie hatten sich gerade erst scheu gestanden, dass sie ineinander verliebt waren – aber zu fragen, was nun werden sollte, trauten sie sich beide nicht. Larry war frisch ins Amt gewählt; auch wenn er damit die Nachfolge seines Vaters antrat, war er doch der jüngste Sheriff, von dem man jemals gehört hatte, und mit einem Skandal und einer Scheidung war an weitere Amtszeiten vermutlich nicht zu denken. Und Sheriff-Sein war das, was Larry wollte – der einzige Beruf, den er je gewollt hatte, deshalb war er ja auch zur Polizei gegangen, statt zu studieren wie sie und Wayne. Wenn er doch studiert hätte! Sie und Wayne waren in der Schule nie sonderlich befreundet gewesen, aber auf dem College fanden sie sich, weil sie Larry gemeinsam hatten – weil Jenny sich nach Larry sehnte und Wayne sie zum Lachen bringen, sie von ihrer Einsamkeit ablenken konnte. Weil er sanft und freundlich war – nicht wie die ganzen anderen besoffenen Idioten, die nur aufs Grabschen aus waren.
Und daheim in der Kirche lernte Larry derweil Emily kennen – er rief Jenny an einem Abend in ihrem zweiten Collegejahr an, um ihr zu sagen, dass er sich verliebt hatte, dass er glücklich war und hoffte, dass Jenny sich mit ihm mitfreute.
Ich bin mit Wayne zusammen, sagte sie – platzte heraus damit, erleichtert, es endlich sagen zu können.
Im Ernst? Larry hatte kurz geschwiegen. Mit unserem Wayne?
Aber so viel Jenny auch davon träumen mochte, Larry zum Mann zu haben (und dieser Tage träumte sie häufig davon), wusste sie doch, dass es bestenfalls unrealistisch war. Sie konnte nur hier stehen und warten, ob ihr tatsächlicher Ehemann (der ihr manchmal eher wie ein dritter Sohn vorkam) heute noch irgendwann begreifen würde, dass die Familie rief – und sich dabei vorstellen, wie Larry bei sich daheim mit Emily im Wohnzimmer saß. Wahrscheinlich redeten sie auch nicht miteinander; Emily sah im Zweifel fern, und Larry saß im Sessel und las ein Buch über den Bürgerkrieg. Oder er dachte an sie. In Jennys Bauch kribbelte es.
Aber was spintisierte sie sich da zusammen? Bei den Thompkins war schließlich auch Weihnachten; Larrys Eltern waren da, das hatte Jennys Mutter, die mit Mrs. Thompkins befreundet war, doch vorhin erwähnt. Nein, bei Larry ging es sicher ganz ähnlich zu wie bei ihnen, nur fröhlicher. Larry und sein Vater und Bruder tranken Eierpunsch, angerührt nach einem speziellen Weihnachtsrezept, und Emily und Mrs. Thompkins, die sich mehr zu sagen hatten als Emily und Larry, standen plätzchenbackend in der Küche und schwatzten. Bei dem Gedanken an all diese Geselligkeit und Betriebsamkeit schnürte sich Jenny die Kehle zu. Lieber stellte sie sich Larrys Haus trist vor: als einen leeren Ort, viel zu groß für Larry, der Jenny brauchte, Jenny und die Kinder -
Sie trocknete sich gerade die Hände ab, als sie das Auto durch den Wald heranknattern hörte. Wayne musste endlich einen neuen Auspufftopf besorgen. Sie seufzte, dann rief sie laut: Daddy ist da!
Daddy!, rief Danny. Oma, endlich!
Wenn Wayne das nur hören könnte!
Sie schaute aus dem Küchenfenster und sah Waynes Auto auf die Garage zurollen, sah, wie die breite weiße Lichtbahn seiner Scheinwerfer sich auf dem Garagentor verengte, feste Umrisse annahm. Er parkte zu nah am Tor. Jenny hatte ihn mindestens ein dutzendmal gebeten, so viel Abstand zu lassen, dass sie mit dem Vega notfalls noch aus der Garage herauskam. Sie sah Wayne hinterm Steuer, sein Gesicht orange leuchtend vom Widerschein der Lämpchen am Armaturenbrett seines Impala. Er hatte seine Brille auf; sie konnte die Lichtreflexe sehen, kleine Streichholzflämmchen.
In ihrer Phantasie ließ sie Larry nach Hause kommen – ließ ihn vor einem anderen Küchenfenster vorfahren und aus seinem Streifenwagen steigen. Sie hörte die Stimmen ihrer Söhne, die Daddy! riefen. Ein blasphemischer Gedanke; dennoch spürte sie ein Prickeln dabei. Larry liebte die Jungen, und die beiden liebten ihn; Jenny schaute manchmal mit ihnen im Revier vorbei, dann ließ Larry sie in seinem Polizeiauto mitfahren. Seine Ehe mit Emily wäre vielleicht glücklicher, wenn sie Kinder miteinander hätten. Jenny durfte das eigentlich nicht wissen, niemand durfte es wissen, aber Emily war unfruchtbar. Sie hatten es kurz vor dem Umzug in das neue Haus bestätigt bekommen.
Wayne stellte den Motor ab. Das Licht über der Garage brannte nicht, und Jenny konnte ihn nicht mehr sehen; das Bild des Wagens wurde überlagert von ihrem eigenen Spiegelbild in der Fensterscheibe. Sie drehte sich um und fing an, das Geschirr einzuräumen. Ich glaube, da kommen noch ein paar Geschenke, hörte sie ihre Mutter sagen. Lautes Juchzen von Danny, Antwortquietschen von Alex.
Gleich würde Wayne zur Haustür hereinkommen und vergessen, sich den Schnee von den Füßen zu treten. Und sie musste ihm entgegengehen und ihm einen Kuss geben und so tun, als schmeckte sie den Zigarettenrauch in seinem Atem nicht. Sonst schmollte er wieder.
Das brachte sie am meisten auf die Palme: Sie konnte es ihm erklären und nochmals erklären (später, wenn die Kinder im Bett waren), Wayne würde einfach nicht begreifen, was er falsch gemacht hatte. Er hatte den Kindern Geschenke gekauft – er hatte wahrscheinlich auch ihr ein Geschenk gekauft. Er war in letzter Zeit launisch gewesen, hatte viele Überstunden gemacht, und das hier – das wusste sie – war seine Art der Abbitte. In seinem Kopf ging es alles wunderbar auf: Er würde eine Geste machen, die weit mehr wog als jede Grantigkeit, jedes Schweigen am Abendbrottisch. Er würde zur Tür hereinkommen wie der Weihnachtsmann höchstpersönlich. Und wenn sie ihm sagte: Das Einzige, was ich mir wirklich gewünscht habe, war ein ganz normales Essen mit der Familie, würde er verletzt schauen, als hätte sie ihn geohrfeigt. Aber, würde er sagen, und seine Mundwinkel würden sich nach unten biegen, ich wollte doch nur – und dann dürfte sie sich haargenau die Geschichte anhören, die er sich eben jetzt im Kopf zurechtlegte …
Sie hatten das schon öfter durchgespielt. Zu oft. Sie wusste genau, wie der Abend weitergehen würde. Und die Aussicht auf diese ganze Prozedur, ihre Vorhersehbarkeit -
Jenny stellte einen Teller hart auf der Anrichte ab. Sie blinzelte; in ihrer Nase stach es. Beim Gedanken an Wayne wurde ihr elend. Ihr Mann kam am Weihnachtsabend nach Hause, und sie ertrug es nicht.
Vor einem Monat, als Wayne in Chicago zu tun hatte, hatte sie der Polizei einen Eindringling gemeldet. Das war riskant, sie wusste es, aber ihr war urplötzlich so zum Weinen gewesen bei der Vorstellung, dass sie und Larry sich wochenlang nicht sehen würden. Sie hatte gefragt, ob der Sheriff wohl vorbeikommen könne, und der Sheriff war gekommen. Sein glückliches Gesicht, als sie ihm die Tür aufmachte, als er verstand, dass Wayne fort war! Sie nahm ihn mit nach oben, und sie liebten sich, und hinterher sagte sie: Jetzt überrasch du mich, und er fuhr mit ihr in seinem Streifenwagen zu einem Stück Straße nicht weit von ihnen, das auf eine Meile oder mehr völlig leer lag, und sagte Halt dich fest, und trat das Gaspedal durch. Der Wagen schien geradezu darauf gewartet zu haben. Sie stützte sich am Armaturenbrett ab, und die Straße, die leicht hügelig war, hob sie aus ihrem Sitz und fing sie wieder auf, bis sie sich fühlte wie ein junges Mädchen. Hundertzwanzig Sachen, sagte Larry auf seine ruhige Art in ihr Kreischen hinein. Nur geht uns leider die Straße aus.
Daheim umarmte sie ihn dann, küsste sein Kinn. Er hatte es ihr schon gesagt, mehr oder minder, und nun sagte sie es ihm: Ich liebe dich. Er wurde bis über beide Ohren rot.
Sie würde Wayne verlassen.
Natürlich hatte sie auch vorher schon daran gedacht – war im Kopf probehalber die Möglichkeiten durchgegangen, immer wieder einmal in den letzten vier Jahren, und verstärkt, seit es Larry gab. Aber jetzt wusste sie es plötzlich sicher; eine Grenze war überschritten. Sie hatte auf einen Auslöser gewartet, irgendetwas mit Larry, aber nun würde sie schon vorher handeln müssen. Wie viel Vorlauf brauchte sie? Ein paar Monate, allerhöchstens. Sie musste sich irgendwo eine Wohnung organisieren. Eine Arbeitsstelle – vielleicht in Indianapolis, auf alle Fälle aber außerhalb von Kinslow. Und dann würde sie Larry sagen – sie musste es behutsam angehen, aber sie wollte, dass es feststand, ein- für allemal -, dass es jetzt bei ihm lag: Sie war bereit.
Denn das war die Wahrheit: Sie liebte ihren Mann nicht – ja sie mochte ihn nicht einmal besonders – und würde nie mehr etwas für ihn empfinden. Es musste sein. Larry hin oder her, es musste sein.
Etwas draußen vor dem Fenster zog ihren Blick auf sich. Wayne hatte die Beifahrertür des Impala geöffnet und beugte sich hinein; sie konnte seinen Rücken unter dem Deckenlämpchen sehen. Was machte er da? Vielleicht hatte er seinen Aschenbecher umgeschüttet. Sie trat ans Fenster und brachte ihr Gesicht nahe an das Glas.
Er duckte sich aus der Tür und richtete sich auf. Er sah sie und schaute, immer noch an der offenen Autotür stehend, einen Moment lang zu ihr herüber. Er wischte sich mit der behandschuhten Hand die Nase. Weinte er? Schuldgefühl durchzuckte sie, so als könnte er ihre Gedanken gelesen haben. Aber dann lächelte er und hob einen Finger: Gleich.
Sie winkte kurz – rein mit dir, aber dalli – und zog ein Gesicht, verdrehte die Augen zum Rest des Hauses hin. Hopp.
Er schüttelte den Kopf, hielt wieder den Finger hoch.
Jenny verschränkte die Arme. Nächste Woche würde sie Larry sehen; Emily fuhr nach Michigan. Dann konnte sie schon einmal anfangen, es ihm zu sagen.
Wayne beugte sich ins Auto, stellte sich dann wieder gerade hin. Er grinste.
Sie streckte die Hände nach den Seiten, Handflächen nach oben: Was ist jetzt? Ich warte.