III.
Die Sonne vor dem
Schlafzimmerfenster steht hoch am Himmel. Eine Weile liege ich
einfach da, versuche mich auf die vergangene Nacht zu besinnen,
darauf, wann ich wohl eingeschlafen bin. Aus der Küche dringt
Lachen herüber – Stanes Lachen – und Karels tiefe Stimme, die etwas
antwortet. Und da fällt es mir wieder ein, und die Scham siedet
auf.
Und gleichzeitig,
unterschwellig, Enttäuschung.
Ich kann mich nicht
vor ihnen verstecken. Ich ziehe den Bademantel über und gehe ins
Wohnzimmer, meine Füße eisig auf dem kalten Holzboden. Stane und
Karel sitzen in der Küche vor dem Laptop. Das ganze Haus riecht
nach Kaffee und gebratenem Speck; Karel hat seine gesamten
Kochkünste aufgeboten.
Guten Morgen,
Fräulein Faulpelz, sagt Stane kichernd.
Guten Morgen, Herr
Schlaumeier, sage ich und wuschle ihm durchs Haar.
Karel sieht vom
Computer hoch und sagt: Kaffee steht auf dem Herd. Und er wirft mir
einen schnellen Blick zu – wie ein Hund, der etwas angestellt hat
und dafür Prügel erwartet.
Irgendwelche
Neuigkeiten?, frage ich.
Papa ist fast auf dem
Gipfel, sagt Stane. Die Linie ist schon soo dicht dran. Er spreizt
Daumen und Zeigefinger auseinander.
Das Wetter ist gut,
sagt Karel. Er müsste es schaffen.
Na, das ist ja schön.
Ich setze mich hin; ich habe keine Ahnung, was ich sonst noch sagen
könnte.
Jetzt, wo ich bei
ihnen bin, frühstücken wir, obwohl es nach der Uhr fast schon
Mittag ist. Wieder empfinde ich diese seltsame Losgelöstheit:
während ich Schinkenspeck esse, kämpft sich Tausende von Kilometern
entfernt mein Mann die Abschlusswand des Shipton’s Peak hoch. Er
vollbringt jetzt, in diesem Moment, was noch keiner vor ihm
vollbracht hat. Er schreibt seinen Namen ins Buch der Geschichte,
und ich sitze hier und trinke meinen Kaffee.
Ich hab mir gedacht,
sagt Karel, wenn wir mit Essen fertig sind, könnten wir doch einen
Spaziergang machen. Ich würde mir gern den Römerwall ansehen. Stane
ist auch dafür, oder?
Au ja, sagt Stane
eifrig. Wollen wir?
Und auch mir scheint
das eine hervorragende Idee – sehr viel besser, als im Haus zu
hocken und darauf zu warten, dass das Telefon klingelt. Und ich bin
zu Tränen dankbar, dass Karel noch hier ist, dass er versucht, so
zu tun, als wäre das, was zwischen uns passiert ist, nicht
geschehen.
Nach dem Frühstück
dusche ich und ziehe mich an, und während Stane und Karel schon in
den Garten vorgehen, trödle ich noch kurz im Haus. Und dabei
beschließe ich, das Mobiltelefon zu vergessen. Es ist ein
herrlicher Tag da drau ßen, und wenigstens ein bisschen will ich
dort sein, in der Welt, statt in meinem Kopf mit seinen Bildern von
Atemnot, Erfrierungen, viertausend Metern gähnender
Tiefe.
Dann gehen wir los.
Auf der anderen Talseite taucht die Sonne das Grau der Kalkalpen in
ein warmes Gold, und die Kiefernhänge weiter unten leuchten üppig
und grün. Der Fluss im Talgrund hat keine eigene Farbe, er besteht
nur aus Lichtpunkten und Uferspiegelungen. Wir folgen der Mauer des
Römerwalls, der strenggenommen recht unspektakulär ist: fast
überall niedrig und bröckelig, mit vereinzelten hohen
Stützpfeilern, von Bäumen überhangen und stellenweise von
wucherndem Wurzelwerk zum Einsturz gebracht.
Stane läuft Karel und
mir voraus, umkreist uns dann wieder wie ein wachsamer Schäferhund
seine Herde, ehe er erneut davonsaust, um den Weg vor uns
auszukundschaften. Er schleppt einen Beutel Plastikmännchen mit,
ein ganzes Regiment, wie es scheint, und jedesmal, wenn er wieder
bei uns auftaucht, hat er einen davon in der Faust. Manchmal redet
er mit ihnen.
Karel geht neben mir
her, die Hände in den Jackentaschen vergraben, und lässt den Blick
von einer Seite des Tals zur anderen wandern – überallhin außer zu
mir. Sein Gesicht ist die Ruhe selbst: ein sicheres Zeichen, dass
die Sache noch an ihm nagt. Unsere Schritte knirschen überlaut,
vielleicht weil Stane gerade zu weit vorneweg läuft, als dass wir
viel von ihm hören könnten – vielleicht aber auch, weil Karel und
ich noch keine zehn Worte miteinander gesprochen
haben.
Als ob ich eine
Sechzehnjährige wäre, die neben einem Jungen hergeht und nicht
weiß, ob sie seine Hand nehmen soll oder nicht.
Nein. Als ob ich eine
Zwanzigjährige wäre, die verkatert im Bett eines Mannes aufwacht
und auf einen möglichst würdigen Abgang sinnt.
Nein, das stimmt auch
nicht. Vielleicht sollte ich mir einfach die Wahrheit eingestehen:
dass ich eine verheiratete Frau von zweiunddreißig bin, die an der
Schwelle zu ihrem ersten Seitensprung steht. Die vielleicht Lust
hätte, sich in einen anderen Mann zu verlieben. Und dass es keiner
Situation gleicht, die ich kenne. Ich werde rot. Eine seltsame
Schwerkraft ist zwischen Karel und mir am Werk. Immer wieder stoßen
unsere Hüften aneinander, und wir streben hastig voneinander
weg.
Ich versuche an Jozef
zu denken, an die Strapazen der Abschlusswand. In ebendiesem Moment
muss er Qualen leiden, halb erstickt, ausgedörrt – nur eine
Handbreit vom Tod entfernt. Und egal ob er den Gipfel erreicht hat
oder sich noch aufwärts kämpft – ja selbst, wenn er schon beim
Abstieg ist -, er wird an mich denken, an Stane. Ich ziehe mich mit meinen Händen bis zu dir. Das
passiert jetzt, in diesem Moment, fern im Osten, auf der anderen
Seite des Erdballs.
Wir kommen zu einer
Öffnung in der Mauer. Dahinter führt der Weg den Berg
hinauf.
Die Worte rutschen
heraus, ohne dass ich es will. Ich sage zu Karel: Gehen wir hier
durch. Der Weg führt zu einer schönen Wiese hoch. Von da oben
siehst du fast das ganze Tal.
Karel überlegt länger
als nötig. In Ordnung, sagt er.
Ich rufe Stane
zurück. Ganz außer Atem kommt er angelaufen. Ich sage ihm, dass wir
zur Wiese hochgehen.
Zu meiner
Überraschung fragt er, ob er unten an der Straße bleiben
kann.
Ich habe meine
Soldaten dabei, sagt er. Ich will hier spielen.
Dann kommst du nicht
mit uns hoch?
Er zuckt die Achseln
und schaut weg, in die Ferne. Die Geste hat er von seinem Vater
übernommen. Ich kann mir nicht vorstellen, was er im Schilde führt
– wahrscheinlich gar nichts, wahrscheinlich ist er es nur leid,
Erwachsene über Kunst und die Römer reden zu hören. Wenn es nur wir
beide wären, würde ich vielleicht darauf bestehen, dass er
mitkommt. Aber in mir steigt eine schuldbewusste Freude auf bei dem
Gedanken, mit Karel allein zu sein. Stane ist ständig irgendwo im
Wald unterwegs, es ist nichts dabei – sage ich mir.
Wir bleiben nicht
lang, sage ich. Lauf nicht zu weit von der Straße weg,
ja?
Ist gut,
Mama.
Bis zu der Wiese sind
es nicht mehr als zehn Minuten. Der Pfad zwischen den Bäumen ist
schattig und kühl, und aufatmend stelle ich fest, dass meine Sorgen
hier, wie noch jedesmal, ein Stück in den Hintergrund treten. Ich
liebe die Wälder im Sommer, den dicken Teppich trockener Nadeln
unter meinen Sohlen, den sauberen Duft. Hier und da sprießen
Felszacken aus dem Erdreich, wie Berge, die noch wachsen müssen,
mit Moospolstern bedeckt. Manche davon sind von Magnesiaspuren
verunziert, da, wo Jozef an Griffen und Problemen arbeitet.
Meistens bin ich dabei und passe auf, dass die Matte richtig unter
ihm liegt. Neuerdings geht auch Stane manchmal mit und hilft
ihm.
Karels Gesicht ist
nicht mehr ganz so umwölkt; er findet es schön hier, auch wenn er
es in seiner Schwermut nicht zugeben mag.
Und dann haben wir
die Wiese erreicht. Sie ist am Hang gelegen, und an ihrem oberen
Ende halten wir an und lehnen uns an einen Felsblock und blicken
hinab auf unseren Streifen Tal. Der Fluss schlängelt sich
glitzernd. Unser Haus ist gerade noch zu sehen, ganz links, die
Sonne blitzt von einem Dachfenster. Der höchste Berg auf der
anderen Talseite hat in der Mulde gleich unterm Gipfel ein
Wolkenband eingefangen – von hier aus wirkt es kaum größer als ein
Haus, dabei muss es hundert Meter lang sein. Die Berge machen sich
ihr eigenes Wetter, sagt Jozef; manchmal regnet es da oben, wenn
das ganze restliche Tal in grelles, trockenes Licht getaucht ist.
Erde und Himmel drehen sich gegenläufig, sagt er, und manchmal
verhaken sie sich, und dann knirscht es. Kaum denke ich das, da
erhebt sich ein Wind, und die Bäume unter uns am Hang rauschen und
biegen sich. Dieselbe Luft, in der mein Mann klettert.
Aber das stimmt
nicht. Jozef klettert in achttausend Metern Höhe. Wir hier sind bei
zwölfhundert. Ich schaue über die Alpengipfel in ein tiefes, klares
Blau. Mein Mann ist ein Verrückter und schon halb im
Weltraum.
Ich lehne mich ein
bisschen anders hin, und meine Hand streift die von
Karel.
Schön hier, sage ich.
Findest du nicht?
Hör zu, sagt Karel,
so abrupt, dass er danach husten muss. Hör zu, Ani, ich glaube, ich
fahre nachher nach Hause.
Die Vorstellung
erfüllt mich mit noch größerer Traurigkeit, als ich gedacht habe.
Karel sagt es, und das Tal wirkt gleich weniger schön, das
Himmelsblau schwerer.
Das brauchst du
nicht, sage ich.
Nein, sagt er. Aber
ich sollte. Ich habe meine Zuständigkeit überschritten, und mir ist
hundeelend zumute. Mein Leben ist auch so schon ein Scherbenhaufen,
da brauche ich nicht noch das auf dem Gewissen.
Seine Hand hat sich
nicht von meiner wegbewegt.
Mit zwanzig hätte ich
das nicht gelten lassen, ich hätte ihn in meine Arme gezogen –
damals hielt ich das noch für ein Allheilmittel.
Du hast
wahrscheinlich Recht, sage ich. Aber denk bitte nicht, das heißt,
dass ich es bereue.
Seine Augen sind
jetzt sanft und braun und eine Spur feucht.
Ganz im Ernst, Karel.
Ob du es glaubst oder nicht, ohne dich hätte ich diese Woche nicht
durchgestanden.
Ich hoffe, das
stimmt, sagt er und tätschelt meine Hand. Seine weiche Handfläche
liegt leicht auf meinen Fingern.
Dann schließt er die
Augen und sagt: Jozef und Gaspar haben einmal versucht, mich zum
Klettern zu bringen. Habe ich dir das je erzählt? Wir sind zu dritt
in die Dolomiten gefahren, im Sommer. Es war ein Desaster. Ich hing
in der Wand und konnte kein Glied rühren. Ich bin fast gestorben,
nur zwölf Meter überm Boden an dem harmlosesten Felsen in ganz
Südtirol, weil meine Arme und Beine so schlotterten. Sie mussten
mich an einem Seil wieder herunterlassen, und Gaspar musste mich um
die Taille halten dabei. Ich habe geheult. Achtzehn Jahre alt, und
ich habe geheult wie ein Schlosshund. Sie waren sehr
verständnisvoll, das waren sie immer, aber ich wusste, ich war
anders als sie. Wir alle wussten das.
Er starrt auf die
Steilwände auf der anderen Talseite, und vielleicht denkt er
dasselbe wie ich: dass es da drüben nicht einen Felszacken gibt, an
dem Jozef nicht auf und ab und kreuz und quer gekraxelt
ist.
Ich fasse seine Hand
und sage ihm etwas, das ich keinem Menschen je erzählt habe. Nicht
einmal Jozef. Es ist ein Geheimnis, das ich so gut hüte, dass ich
es kaum mir selbst eingestehe. Warum soll ich es jetzt nicht Karel
beichten? Ich wäre bereit gewesen, ihm weit mehr von mir zu geben
als das, und dieser Augenblick hier, auf unserer Wiese – diese
letzte Spanne unseres Zusammenseins – scheint der rechte Zeitpunkt
für Geheimnisse.
Ich habe etwas ganz
Schlimmes gemacht, sage ich. Weißt du noch damals, nach Gaspars
Tod? In was für einem furchtbaren Zustand Jozef da
war?
Ja, das weiß ich,
sagt Karel.
Und ich beichte es
ihm.
Im Jahr, nachdem
Gaspar gestorben war, zogen Jozef und ich in eine winzige Wohnung
im Zentrum von Ljubljana. Ich gab Malunterricht, und Jozef
arbeitete als Ausbilder im Alpenverein. Er hasste diese Arbeit.
Aber in dem Jahr konnte nichts ihn froh machen. Er hatte sich
mehrere Zehen abgefroren; er konnte anfangs nur am Stock gehen, was
hieß, dass er auch für die Baustellenjobs ausfiel, die er so
mochte. Und natürlich vermisste er Gaspar – Gaspar, der ihm das
Klettern beigebracht hatte, der ihn zu sich genommen hatte, als
Jozef ihrem Vater davongelaufen war. Aber mehr als alles andere
vermisste er die Berge, die Berge und das Klettern. Er weinte jeden
Abend. An manchen Wochenenden mochte er gar nicht aus dem Bett
aufstehen.
Ich fasste ihn
behutsam an. Ich sagte ihm immerzu, wie froh ich war, dass er noch
lebte. Ich sagte ihm, was für ein glückliches Leben wir zusammen
haben würden. Ich sagte ihm sogar, dass er ja vielleicht irgendwann
wieder würde klettern können – es schien eine so einfache Lüge,
eine so einfache Art, ihn zu trösten. Ich glaubte – ich wusste -,
letzten Endes würde auch Jozef zu dem Schluss gelangen, zu dem ich
schon längst gelangt war: dass die Kletterei zu gefährlich war, der
Preis des Scheiterns in den Bergen zu hoch.
Aber dann lernte er
Hugo kennen, der ihn anbetet und der ihm half, sich selbst wieder
zu mögen. Jozef kaufte sich spezialangefertigte Schuhe; er brachte
sich bei, ohne den Stock auszukommen. Dann machten er und Hugo
zusammen erste Bergtouren. Und als ich eines Tages heimkam,
montierte Jozef gerade seine Klettergriffe an unserer
Wohnzimmerwand.
Ich muss es versuchen, sagte er.
Ich sagte mir, dass
er dazu körperlich nie und nimmer in der Lage wäre.
Aber eines
Wochenendes, keine zwei Monate später, kündigte er an, dass er und
Hugo eine leichte Route am Triglav ausprobieren wollten. Die
Nordwand des Triglav ist zwölfhundert Meter hoch, und senkrecht.
Keine Route dort ist leicht.
Ich wurde hysterisch.
Jozef versuchte mich auf seine Art zu beruhigen: indem er mir seine
Könnerschaft beteuerte, seinen Glauben an sich selbst. Das war der
Tag, an dem er mir sagte, dass meine Liebe ihn am Leben erhält.
Dass er zu mir klettert.
Schließlich wurde er
wütend. Er schrie mich an: Willst du nur einen
halben Menschen lieben? So bin ich nun einmal. Du wusstest, wie ich
bin, als du dich in mich verliebt hast.
Aber mir war nicht klar, was das heißt, sagte ich.
Ich wusste es nicht.
Es ist deine Entscheidung, sagte er, und er ging
zur Tür hinaus. Entweder du nimmst mich als
der, der ich bin, oder gar nicht.
Danach wechselten wir
kaum ein Wort, und an dem Wochenende packten er und Hugo ihre
Ausrüstung und fuhren ins Gebirge. Und er überlebte den Triglav –
und nicht nur das: Er und Hugo kletterten gut, sie eröffneten eine neue Variante. Als Jozef
heimkam, umarmte ich ihn und sagte ihm, dass es mir leid tat. Und
es war nicht gelogen – ich konnte ohne ihn nicht sein, ganz egal,
wie sehr ich an ihm verzweifelte und mich um ihn ängstigte. Zumal
Jozef überglücklich war, wieder ganz der Alte.
Ich kann nicht anders sein, als ich bin, sagte er
zu mir. Ich kann es nicht,
Ani.
Wir liebten uns viele
Male in dieser Nacht, und als wir danach beieinanderlagen, sagte
er, dass er wieder an den Himalaya dachte.
Jetzt sage ich es
Karel: Daraufhin habe ich angefangen, Löcher in seine Kondome zu
pieksen.
Karel sieht mich an,
sieht wieder hinaus auf die Wiese, rechnet nach.
Er sagt: Du warst
schwanger, als Jozef auf den Makalu gegangen ist.
Ja.
Er drückt meine Hand.
Es tut mir leid, flüstert er.
Ich dachte, er würde
aufhören, sage ich. Aber dann ging es mit den Solos los. Das Kind
hat alles nur schlimmer gemacht.
Ich habe zu weinen
begonnen und kann nicht weitersprechen. Karel streichelt meine
Hand. Ich ziehe ihn zu mir hin.
Und es passiert, es
passiert.
Nach ein paar Minuten
in seinen Armen höre ich zu weinen auf. Ich sehe Karel ins Gesicht.
Sehe, wie seine Lippen nicht so recht wissen, wohin mit sich, sehe
ihn hin- und hergerissen zwischen Betroffenheit und Verlangen. Er
ist ein so guter Mann – wie sein Bruder es auch wäre, wenn sein
Bruder nicht wahnsinnig wäre.
Karels Hände gleiten
zu meinen Hüften hinunter, und wir halten einander. Ich nehme seine
eine Hand in meine beiden Hände, zwischen seinem Körper und meinem,
und drücke sie. Ich liebkose seine Handfläche mit meinen Daumen.
Ich bin Haut rau wie Schmirgelpapier gewohnt, Verbandsmull und
Magnesia und abgebrochene Nägel. Nicht diese Hand, die mit meinen
zu verschmelzen scheint.
Und dann sind wir
noch näher beisammen, ich und er, und er berührt mein Gesicht mit
all dem Staunen und all der Zartheit, nach der ich mich gesehnt
habe. Er beugt sich vor und küsst meine Stirn, sein Bart ein
weiches Gefühl an meinem Nasenrücken. Ich schließe die Augen und
horche nach Stanes Schritten, die den Weg heraufkommen, aber die
Luft ist völlig still, das ganze Tal ohne Laut.
Der Gedanke an meinen
Sohn sollte mich abhalten, aber nein: ich schlinge Karel die Arme
um die Mitte, hebe mein Gesicht zu seinem auf. Ich bin, scheint es,
eine Frau, die in Hörweite ihres Sohnes einen Mann küssen kann, der
nicht ihr Ehemann ist.
Karels Gesicht füllt
mein Blickfeld aus, seine Hüften liegen eng an meinen. Ich nehme
ihm die Brille ab und stecke sie in seine Jackentasche. Meine Hände
schlüpfen unter die Jacke, und ich spüre die Glätte seines Rückens
unter dem dünnen Hemd. Er küsst gut, heftiger, als ich erwartet
hätte. Er legt mir seine große, warme Hand auf den Bauch. Aus
meiner Kehle kommen kleine Geräusche, genau wie wenn ich Jozef
küsse.
Weil das meine
Pflicht ist, versuche ich mir Einhalt zu gebieten, an meinen Mann
zu denken:
Jozef tritt auf die
Wiese. Er hat den Aufstieg doch abgebrochen, sie haben ihn mit dem
Hubschrauber geholt, und hier ist er, frisch heimgekehrt. Er sieht
uns. Karel hat die Hände unter meiner Bluse, hinten an meinem
Kreuz. Auf Jozefs Gesicht malt sich Schrecken, dann Schmerz, und
ich sehe ihm an, was er denkt: Dafür
habe ich also gekämpft. Ich bin am Leben geblieben, dafür. Karel küsst meine Kinnlade, gleich unterm
Ohr. Jozef ruft: Meine Frau, mein Bruder
-
Aber das erscheint zu
sehr wie Rache, zu sehr, als würde ich Karel aus Zorn küssen, was
ganz und gar nicht der Fall ist.
Also stelle ich mir
meinen Mann als Frischverliebten vor: Jozef, zehn Jahre jünger,
kommt ins Café. Sein Bart ist zu groß für sein Gesicht, und seine
Augenwinkel fälteln sich, als er mich anlächelt – als würde er mich
erkennen, als wäre er überrascht, ausgerechnet hier eine so alte
Freundin wiederzusehen.
Karel fasst mich
fester um die Taille, zieht mich noch dichter an sich heran, bis
ich auf den Fußballen stehe. Ich öffne meinen Mund weit an
seinem.
Jozef. Es ist die
Nacht nach Stanes Geburt, und ich wache auf, und Jozef sitzt wach
in der Ecke; er lächelt mich zärtlich an und fragt, ob ich einen
Schluck Wasser möchte. Er hält mir das Glas an die Lippen, und dann
küsst er mich und streichelt mein Haar. Ich
liebe dich, wispert er und fährt mir mit seinem rauen Finger
die Wange entlang. Dich und unseren
Sohn.
Karel schiebt die
Hände unter mein Gesäß und hebt mich auf den Felsen. Ich hake die
Waden um seine Schenkel. Er drückt den Mund in meinen
Blusenausschnitt.
Liebe mich, sagt Jozef. Solange du mich liebst, kann mir nichts
zustoßen.
Jetzt, in diesem
Moment, krallen seine Hände sich um Fels, in seiner Lunge sticht
es, sein Mund schmeckt Blut.
Der Tod dann eben.
Denk an den Tod – der Tod hat uns schließlich unseren Freibrief
gegeben. Also gut: Jozef, der im Krankenhaus an meinem Hals
wimmert. Papas Augen rot vor Kummer und Wut. Und weiter: Gaspars
Sarg. Mein Mann, noch im Schock, der am Stock zu ihm hinhumpelt,
die Hand auf den Deckel legt, als wäre etwas darunter. Gaspars
schmächtige blonde Freundin, die plötzlich aus Dresden angereist
kommt, keinen Menschen hier kennt und sich mit ihrem ganzen Schmerz
an mich hängt. Wir waren verlobt, sagt
sie zu mir, ihre Stimme so dünn, dass jedes einzelne Wort ihr weh
tun muss. Wir hatten es noch niemandem
erzählt, wir wollten damit warten, bis er zurück ist. Papa
sitzt in seinem Sessel, den Kopf in die Hand gestützt, Karels Hände
auf seinen Schultern. Jozef auf der anderen Seite des Raums umarmt
Bergsteigerkollegen, einige aus Russland hergeflogen, aus Amerika.
Auch zwei Sherpas aus Nepal sind da. Die Ehefrauen oder Freundinnen
schauen einander nicht an, außer mit raschen Seitenblicken,
versehentlichen Wendungen des Kopfes. Da stehen wir und hören die
Männer, die wir lieben, einander versichern: Wenigstens ist er bei dem gestorben, was ihm das Liebste
war. Ich halte Gaspars deutsches Mädchen im Arm und weiß
genau, was sie denkt, was sämtliche Frauen hier denken: Wenn Gaspar
bei dem gestorben wäre, was ihm das Liebste war, dann wäre er
daheim gestorben; dann wäre er in ihr gestorben. Diese mutigen
Männer sind Feiglinge, so sehe ich das. Ich lasse den Blick durchs
Zimmer schweifen, leicht betrunken von den Schlucken aus dem
Flachmann, den Karel mitgebracht hat, höre an meiner Schulter das
Mädchen schniefen und weiß – weiß es plötzlich unumstößlich -, dass
dieser Abend nur die Generalprobe ist.
Mein Mann als
Lebender hält mich nicht ab. Aber Jozef tot, verloren – bei dem
Gedanken löse ich mich von Karel.
Die Liebe lässt mich
nicht treu bleiben.
Aber die
Scham.
Entschuldige, sagt
Karel heiser.
Ich schüttle den Kopf
und schiebe mich von ihm weg. Nein, sage ich, wütend jetzt. Nein.
Das waren wir schließlich beide.
Er nickt zweimal,
schnell, und reibt sich das Kinn, als hätte ich ihm dort weh
getan.
Wir haben uns auf
einen Kurs verständigt, aber trotzdem liegt noch eine Wildheit in
der Luft, dieses Etwas, das so leicht aufgeflammt ist zwischen uns
und sich so schwer wieder vertreiben lässt. Ich gehe bis zum
Wiesensaum und wieder zurück, mehr um mich zu beruhigen als aus
sonst einem Grund. Karel steht neben den Felsen, die Hände in den
Taschen, mit hängenden Schultern. Ich möchte ihm sagen, dass er
sich keine Vorwürfe machen soll, aber für den Moment kann ich ihm
nicht näherkommen.
Hinter der
Hügelflanke kräuselt sich ein Staubfähnchen: Ein Auto fährt langsam
in Richtung Haus. Ich wechsle einen Blick mit Karel. Seite an Seite
stehen wir oben am Hang und versuchen zu erkennen, wer es sein
könnte – die Straße ist kaum sichtbar von hier, nur an manchen
Stellen ahnt man sie zwischen den Bäumen. Die Staubschleppe
verliert an Tempo, wallt höher, und für eine Sekunde sehen wir
einen Kleinbus mit dem 24ur-Emblem auf
der Seite.
Etwas ist passiert,
sage ich.
Wir eilen den Pfad
hinab. Ich versuche mich zu wappnen. Heute ist Gipfeltag, und das
ist alles, was die Reporter interessiert; keiner von ihnen denkt
daran, dass Jozef, wenn er es denn bis zum Gipfel schafft, immer
noch wieder hinuntermuss, halbtot. Aber vielleicht ist ja etwas
anderes passiert. Hugo würde die Medien niemals vor mir
informieren, sage ich mir. Aber ich war eine Stunde weg, und es
sind haufenweise Leute im Basislager, alle mit
Satellitentelefonen.
Ich glaube nicht
daran, aber im Herzen glaube ich es natürlich doch: Ich habe mein
Versprechen gebrochen. Ich habe Karel geküsst, und Jozef ist
tot.
Fast im Laufschritt
erreiche ich den Waldrand, die Straße. Der Wagen hat angehalten,
zwanzig, dreißig Meter entfernt. Ich gehe auf ihn zu und
sehe:
Ein Kameramann und
eine Reporterin stehen am Römerwall, direkt vor einem der hohen,
bröckelnden Pfeiler, der drei Meter aufragt. Und an der
Pfeilerwand, etwa auf Höhe ihrer Köpfe, hängt Stane. Ich höre die
Stimme der Frau, laut genug, dass auch Stane es hören kann: Ganz
der Vater, schau dir das an.
Stane klettert. Nicht
das Gekraxel, das ich ihn an Baumstämmen habe vollführen sehen. Die
Reporterin hat Recht.
Er hatte Unterricht.
Stane hält sich genau
auf die richtige Art fest, mit den Daumen über den Fingerspitzen,
den Schwerpunkt von der Wand wegverlagert, und dann plötzlich legt
er sich schräg, hängt sich in einen Riss, während die Füße in die
entgegengesetzte Richtung drücken. Bis ich bei ihm angelangt bin,
hat er die Hand schon an der Oberkante des Pfeilers, und dabei
stößt er ein Lachen aus, dieses beglückte kleine Jauchzen, das ich
so gut kenne.
Die Reporter
klatschen Beifall, und der Kameramann geht noch näher heran, und
Stane nimmt eine Hand von dem Stein, um zu winken.
Die Reporterin sagt
irgendetwas über eine neue Generation, als ich mich an ihr
vorbeidränge. Ich packe Stane um die Mitte und zerre ihn von dem
Pfeiler herunter. Er ist schwerer, als er einmal war, aber ich
halte seinem Gewicht stand, auch wenn es mich beinahe
umwirft.
Stellen Sie die
Kameras ab, sage ich. Verschwinden Sie. Die Kamera schwenkt zu mir
herüber. Die Reporterin fragt, ob ich nicht etwas zu Jozefs
heutigem Erfolg sagen möchte. Die ganze Nation schaut zu, sagt sie.
Wir sind alle sehr stolz.
Ich wende mich ab,
zurück in Richtung Haus, den verdatterten Stane immer noch im Arm.
Ich bin so wütend, dass ich fast blind dahinlaufe. Ich stürme an
Karel vorbei, der gerade zwischen den Bäumen hervortritt, und ich
sage zu ihm: Schick sie weg.
Mama, lass mich los,
sagt Stane. Lass mich los.
Ich stelle ihn hin,
und dann versetze ich ihm zwei Schläge aufs Hinterteil, kräftige.
Die Nachrichtenleute können uns sehen, aber das ist mir gleich. Ich
zerre Stane am Arm weiter. Er windet sich, versucht sich
loszureißen, ohne zu wissen, warum oder wohin. Ich kann mir nicht
helfen. Ich ziehe ihn von der Straße herunter, den Hang hinab
zwischen die Bäume, außer Sicht. Und dort schlage ich zu, immer
wieder, so lange, bis er aufhört sich zu wehren und zu weinen
anfängt. Bis er’s sich merkt.
Dann knie ich mich
hin und schlinge die Arme um ihn. Stane riecht nach
Kleine-Jungen-Schweiß und Kiefernnadeln. Er versucht erneut, sich
loszureißen, aber dann sieht er, dass ich weine, und das
beeindruckt ihn mehr als die Prügel. Ich presse ihn an mich, meinen
zitternden Sohn.
Er ist ein Mann, der
ein Mädchen in einem Café anlächelt, die Augenwinkel gefältelt wie
bei seinem Vater. Er schreit einen Namen in stiebenden Schnee, in
heulenden Wind, allein.
Mama, sagt er. Was
ist denn, ich bin doch nur geklettert.
Und ich sage: Das
darfst du nicht, Stane.
Ich halte ihn als
Säugling in meinen Armen, strecke ihn zum allerersten Mal Jozef
hin. In Jozefs Gesicht zerbirst etwas, als er seinen neugeborenen
Sohn nimmt und den Blick dann hebt und mich ansieht – sein erster
Vaterblick. Und ich weiß: Mein Mann wird nie wieder klettern, er
wird nie wieder ein Risiko eingehen, nun da er seinen Sohn gesehen
hat, seinen Augapfel. In mir bebt und pocht alles so sehr, dass ich
meine, ich muss sterben vor Liebe. Ich blicke auf Stane in den
Armen seines Vaters, und ich denke: Mein süßes
Kind, weißt du, was du getan hast? Du hast mir deinen Vater
wiedergeschenkt. Du hast uns gerettet. Du hast mich
gerettet.
Du darfst das nicht,
sage ich in Stanes Ohr. Ich schüttle ihn bei jedem
Wort.
Nie, nie,
nie.