Unterwegs
Das sind die
Fakten:
Ich war neun, und ich
fuhr mit meinem Vater quer durch die Staaten, von Colorado zurück
nach Illinois. Meine ganze Kindheit über hatten wir in Colorado
gewohnt, und unser Umzug in den Mittleren Westen war befrachtet und
bedrückt, ein (wie sich herausstellte, letztes) Zugeständnis meines
Vaters an meine Mutter: die Rückkehr in ihre Heimatstadt Chicago.
Die Liebe zu den Bergen war eine der wenigen Gemeinsamkeiten
zwischen meinem Vater und mir; und als sich ergab, dass er eine
Woche länger in Colorado bleiben musste, um den Verkauf unseres
Häuschens unter Dach und Fach zu bringen, erlaubte er mir, bei ihm
zu bleiben. Mein Vater war ein unnahbarer, schweigsamer Mann, aber
diese letzte Woche wanderten und fischten wir friedlich zusammen,
ohne ein Wort über die Stadt zu verlieren. Dann brachen wir,
widerstrebend, nach Osten auf.
Mein Vater mochte
keine Hotels, deshalb waren wir spät nachts auf dem Highway
unterwegs – spät auf eine Art, wie das nur auf Reisen möglich ist,
weit entfernt von jeglichem Zuhause, als wären wir ausgenommen von
der realen Welt, der realen Zeit. Und da, beim Essen in einer
Raststätte in Kansas, sah ich sie: einen Jungen und einen
Mann.
Der Junge war so alt
wie ich, vielleicht etwas jünger. Er und ich sahen uns von unseren
Tischen quer durch den Raum an, während mein Vater schlief, den
Kopf auf den Armen. Der Junge kam mir komisch vor: blass,
aufgewühlt. Der Mann, der bei ihm war – groß und unrasiert -, hatte
den Arm auf der Banklehne liegen, hinter den Schultern des Jungen.
Er rauchte und schaute dem Jungen beim Essen zu. Sie gingen vor
uns.
Als wir von der
Raststätte wegfuhren, strichen unsere Scheinwerfer über einen
Pick-up auf dem Parkplatz. Darin saß, sein Gesicht aufleuchtend in
dem grellen Lichtstrahl, der Junge. Er wirkte auf mich, als hätte
er gerade geweint oder würde gleich anfangen zu weinen. Er wirkte
verängstigt. Der Mann saß neben ihm, im Schatten, seine Hand auf
der Schulter des Jungen. Ich glaubte – und ich glaubte es immer
mehr, je mehr ich darüber nachdachte -, ich glaubte gesehen zu
haben, wie der Mann seinen Kopf von dem des Jungen wegzog. Dann
waren sie wieder in Dunkel getaucht. Ihr Pick-up fuhr hinter uns
auf die Straße und bog auf den Zubringer Richtung Westen, während
wir nach Osten fuhren. Mein Vater schien nichts Ungewöhnliches
bemerkt zu haben; dennoch sagte ich nichts zu ihm. Was hätte ich
auch sagen sollen? Ich war mir nicht sicher, was ich gesehen hatte,
und mein Vater konnte mit meinen Hirngespinsten wenig
anfangen.
Aber auf der
Weiterfahrt nach Chicago, nach Hause, versuchte ich mir
auszudenken, wohin der kleine Junge unterwegs sein mochte und was
zwischen ihm und dem Mann vorging. Wahrscheinlich gar nichts, das
war mir klar. Ich war selber schon von meinem Vater angeschnauzt
worden, mit Tränen als Folge; welcher Junge war das nicht? Aber ich
konnte meine Beklemmung nicht abschütteln. Ich war neun, ich neigte
zu nervösen Phantastereien, Alpträumen. Ich fing an, mir
vorzustellen, dass ich Zeuge von etwas Entsetzlichem geworden war.
Wenn der Mann nun gar nicht der Vater des Jungen war? Den ganzen
Rest der Fahrt kreisten meine Gedanken um diesen Pick-up, um den
Mann und den Jungen, die sich immer weiter von uns entfernten. Mit
jeder Meile wurde ich mir sicherer, dass der Junge einer Gefahr
entgegenfuhr. Oder doch nicht? Es schien mir ein Rätsel, das zu
lösen ich in der Lage hätte sein sollen, aber je länger ich es im
Kopf herumwälzte, desto weniger hätte ich sagen können, was ich
eigentlich gesehen hatte.
Im Jahr darauf
trennten sich meine Eltern, und mein Vater zog fort. Wie ich
befürchtet, nein, wie ich vorausgesehen hatte, verschwand er immer
weiter aus unserem Blickfeld, bis er ein Fremder geworden war,
Absender knapper Glückwunschkarten. Den Rest meiner Kindheit war
ich mit mir selbst beschäftigt, mit meinen Träumen, meiner
Verlorenheit. Aber das Gesicht des Jungen, erschreckt, verängstigt
im Scheinwerferlicht – dieses Stückchen Realität war zu mir
durchgedrungen. Das bedeutete mir etwas. Manchmal sah ich eine
Milchtüte und überlegte, ob eins der Jungengesichter darauf wohl
das seine war. Aber ich erinnerte mich nur undeutlich an seine
Züge. Es hätte jeder Junge sein können. Der Mann hätte jeder Mann
sein können. Sie hätten überallhin unterwegs sein können, zu allem.
Ich sah den Jungen am Ufer eines Gebirgsbachs liegen, weiß wie ein
Schneebrett, mit dem Gesicht nach unten. Dann wieder saß er neben
mir und malte Schnörkel in sein Algebraheft.
Vielleicht, dachte
ich, kann ich ihm helfen. Vielleicht kann ich ihn irgendwo
hinbringen. Vielleicht kann ich ihn aus meinem Kopf bringen. Aber
ich zaudere. Wäre es besser, die Wahrheit zu wissen? Oder sie nicht
zu wissen?
Und immer wieder
denke ich: mein Junge. Was passiert jetzt mit meinem
Jungen?