Im Falle, dass
Kurz nach ein Uhr
morgens, eine Stunde, nachdem er die beiden im Leichenschauhaus
identifiziert hatte, bog Danny mit seinem Pick-up in Toms und
Brynns Einfahrt ein. Ihr schmales Backsteinhaus war dunkel bis auf
das erleuchtete Wohnzimmerfenster: Eine Babysitterin hütete Colin,
den dreijährigen Sohn. Danny hatte vom Leichenschauhaus aus kurz
mit ihr gesprochen, ihr gesagt, er würde gleich da sein – und dann
den längstmöglichen Weg aus der Stadt heraus gewählt. Zweimal hatte
er von einer Tankstelle aus versucht, seine Freundin Kim
wachzuklingeln und ihr Bescheid zu sagen, aber Kim war nicht
drangegangen.
Danny schaltete den
Motor ab. Die arme Babysitterin war schon am Telefon in Tränen
ausgebrochen; inzwischen war sie wahrscheinlich völlig aufgelöst.
Dannys Hände lasteten tonnenschwer auf dem Lenkrad. Vielleicht
sollte er noch ein paar Runden um den Block fahren – verdammt, so
großartig ging es ihm schließlich auch nicht. Oder er haute einfach
ab; der Zubringer zur Interstate 70 war ganz nah, er könnte von
Columbus durchbrettern bis nach Alaska, ohne auch nur einmal zu
tanken.
Dann schob ein
Schatten den Wohnzimmervorhang beiseite und spähte auf die Einfahrt
heraus. Gefangen.
Eine Frau öffnete
ihm, die wohl zehn Jahre älter als er war – die Mutter der
Babysitterin. Sie trug einen Kurzhaarschnitt, mit dem ein Filmstar
wahrscheinlich blendend ausgesehen hätte; sie sah damit nur aus wie
die Mutter eines Teenagers, breit und plump und schon grau an den
Schläfen, die sich jünger machen will, als sie ist. Hinter der
Mutter, auf die Couch gekauert, saß die Babysitterin, die Arme
gegen den Bauch gedrückt, als hätte sie Magenschmerzen, ihre Augen
so rot, dass Dannys Augen gleich mitbrannten. Er murmelte seinen
Namen, worauf Mutter wie Tochter ihn skeptisch musterten. Er hatte
mit der Band geprobt, als der Anruf von der Polizei kam, seine
Klamotten waren mindestens eine Woche alt und stanken nach
Zigarettenrauch; sein Haar hing in Strähnen aus dem
Pferdeschwanz.
Es tut mir so leid,
sagte die Frau zu ihm.
Ich werd’s schon
packen, sagte er, verblüfft, dass er überhaupt etwas herausbekam,
und sei es noch so hirnrissig.
Brauchen Sie wen, der
bei Ihnen bleibt?
Ich rufe gleich eine
Freundin an, sagte er.
Die Frau wirkte
erleichtert.
Die Babysitterin
fragte mit belegter Stimme: Kann ich ihn noch mal
sehen?
Und so standen sie zu
dritt in der Tür von Colins Zimmer. Erst letzte Woche hatte Brynn
selbstleuchtende Sterne und Monde an die Decke und Wände geklebt,
die ganz schwach den Schimmer der Straßenlaterne draußen einfingen.
Der Raum schien riesig auf diese Weise, wändelos.
Colin schlief, die
bloßen Beine freigestrampelt, das Gesicht zur Wand gedreht. Er war
praktisch nackt, mit einem Höschen am Leib und sonst nichts. Danny
zwang sich, nicht wegzuschauen wie früher, wenn Brynn Colin zum
Wickeln auf den Fußboden gelegt hatte. Oder wie letzte Woche bei
Toms großer Zeig-Danny-was-für-ein-großer-Junge-du-bistzeig-ihm-wie-toll-du-schon-Pipi-machst
-Schau, als sie sich alle im Bad drängeln mussten, um Colin
zuzugucken, wie er sein Geschäft verrichtete, das Gesicht
angestrengt verzogen, als würde er einen Faden durch ein Öhr
fädeln. Prima hast du das gemacht,
lobte Danny ihn hinterher, und Colin, der sich die Hände wusch, sah
kurz hoch und sagte, Natürlich, als
würde ihm nicht eine Latzhose mit Teddybären drauf um die Knöchel
schlackern.
Danny wollte schon
ins Zimmer gehen und den Jungen wieder zudecken, ließ es aber
bleiben. Colin wurde bald drei; Dreijährige waren nun mal
unordentlich und oft auch nackig. Zimperlichkeiten waren da nicht
am Platz, jetzt nicht mehr.
Die Babysitterin
stieß ein Wimmern aus.
Pscht, machte Danny
und dirigierte die zwei hastig zurück ins Wohnzimmer.
Dort versicherte er
ihnen nochmals, dass sie ruhig gehen konnten – was sie taten,
jedoch nicht, bevor Danny nach seiner Brieftasche getastet und
Mutter und Tochter im Chor ein beinahe erbostes Nein! gerufen
hatten.
Als sie weg waren,
stand Danny eine Zeitlang in der Küche, die am anderen Ende des
Ganges lag, Colins Zimmer gerade entgegengesetzt. Es war der
einzige Raum im Haus, in dem es nicht süßlich nach Kleinkind roch,
sondern nach Chili, Omeletts, den Pfannkuchen, die Tom am
Wochenende für alle backte. Der Geruch machte Danny bewusst, dass
er seit heute Mittag nichts mehr gegessen hatte; ihm war ganz
schwindlig vor Hunger. Aber bei dem Gedanken, in Toms und Brynns
Essensresten herumzustöbern, fühlte er sich wie der größte
Schweinehund auf Erden.
Toms Flasche Maker’s
Mark in der Speisekammer dagegen, das war eine andere Sache. Danny
durchtrennte das Siegel und goss sich einen Schuss ein. Und noch
einen. Der Whiskey trieb ihm die Tränen in die Augen; Tränen, die
sich selbständig zu machen drohten. Er atmete ein paarmal tief
durch und ging dann zum Küchentelefon, um noch mal bei Kim
anzurufen.
Es klingelte viermal,
fünfmal. War es, ganz theoretisch nur, denkbar, dass er sie ertappt
hatte? Ihr Verhältnis war angespannt in letzter Zeit, und so sicher
sich Danny einerseits war, dass sie ihn nicht betrügen würde, hatte
doch andererseits diese neue Zögerlichkeit, die er an ihr bemerkte,
in seinem Kopf so reichlich Zeit zum Gären gehabt, dass daraus
Schreckbilder aller Art gewuchert waren. Er empfand ein irrwitziges
Triumphgefühl, als das Telefon immer weiter klingelte. Wenn schon
Land unter, dann richtig!
Doch dann – endlich –
meldete Kim sich mit einem krächzenden Hallo.
Ich bin’s, sagte er.
Es ist ziemlich dringend.
Danny.
Ja. Kim, hör zu. Du
musst bitte aufwachen. Geh in die Küche und schenk dir einen Drink
ein.
Kehliges Lachen. Zu
spät, sagte sie. Ich war den ganzen Abend mit Amanda unterwegs. Sie
hustete. Hm. Wieso?
Danny beschloss,
nicht nachzuhaken.
Baby, sagte er, hör
zu. Ich bin bei Tom und Brynn. Sie sind tot.
Was?
Tom und Brynn.
Autounfall.
Kim sagte nichts,
also redete Danny weiter.
Mein Name war in Toms
Brieftasche. Ich musste ihre Leichen identifizieren.
Die Worte wollten
nicht in einem Stück herauskommen, und Danny merkte, dass er
zitterte. Er trank noch einen Schluck und ließ den Whiskey ein
Weilchen in Mund und Nase brennen, bevor er die Kiefer lockerließ.
Er konnte Kim atmen hören, ein schnelles Atmen, vielleicht weinte
sie. Sie sollte weinen – wenn
sie weinte, durfte er es auch. Er
lehnte die Stirn an die kühle gelbe Wand. Er und Tom hatten die
Küche zusammen gestrichen, an einem Wochenende letztes Jahr, als
Brynn mit Colin ihre Eltern besuchte. Das war das letzte Mal
gewesen, dass er und Tom einen draufgemacht hatten wie früher, mit
Biertrinken, Grillen, Sportgucken und den Actionvideos, die sonst
wegen Colin tabu waren. Schwelgen und
prassen, hatten sie immer wieder gesagt, während sie bis in
den frühen Samstagmorgen hinein strichen, um das restliche
Wochenende freizuhaben. Im Lauf der Zeit war ein Sprechgesang
daraus geworden: Schwel-gen-und-pras-sen-schwelgen-und-pras-sen. Um
vier Uhr morgens hatten sie Rippchen gegrillt und als Frühstück
gegessen. Hier drin war das gewesen, in dieser Küche.
Ich hab’s Tom
versprochen, sagte er zu Kim. Ich muss Colin zu mir
nehmen.
Und endlich begriff
sie. O Gott, sagte sie.
Du musst herkommen.
Bitte.
Hmm, machte Kim, und
er konnte sie herumtasten hören, wahrscheinlich nach ihrer kleinen
Katzenbrille. Bist du bei ihnen im Haus?
Ja.
Er hörte, wie sie
sich eine Zigarette anzündete. Eigentlich versuchte sie aufzuhören.
Aber Danny versuchte ja eigentlich auch, weniger zu
trinken.
Okay, sagte sie.
Okay. Ich zieh mir nur schnell was an.
Weißt du, wie du hier
-
Lieber Gott. Ein
Autounfall? Wie ist das passiert?
Weiß man nicht. Sie
sind irgendwie auf die Gegenfahrbahn gekommen. Frontal in einen
Sattelschlepper rein.
Hatten sie
getrunken?
Er wollte schon
ärgerlich werden – was für eine Frage war das denn? Aber Tom und
Brynn waren auf dem Heimweg von einem Abendessen gewesen. Sie
hatten wahrscheinlich beide Wein getrunken. Danny hatte die Polizei
gefragt, wie es passiert war, und von Alkohol war nicht die Rede
gewesen.
Weiß ich nicht, sagte
er. Eher nicht.
Kim fragte: Ist Colin
wach?
Noch
nicht.
Was willst du ihm
sagen?
Kim … Jetzt weinte er
richtig. Komm einfach her, ja?
Ja. Es – ja. Ich fahr
sofort los.
Ist gut. Ich liebe
dich.
Im Augenblick, in dem
er es sagte, legte sie auf.
Worauf es vorbei war
mit Dannys Beherrschung; eine geschlagene Viertelstunde heulte er
Rotz und Wasser, auf dem Fußboden hockend zwischen zerkrümelten
Frühstücksflocken und – er konnte unter die Mikrowelle sehen – zwei
roten Klötzchen, Duplo-Steinen. Er wusste nicht, wann er je zuvor
so geweint hatte, außer vielleicht irgendwann im College, als er
zugedröhnt und einsam war. Aber nicht – nie, weil jemand gestorben
war, nie aus Trauer. Er drückte sich
die Hände in den Mund. Alles, nur nicht diese schrecklichen
Laute.
Alles, dass nur Colin
nicht wach wurde.
Tom hatte es Danny
schon angetragen, als Colin noch ein Säugling war. Sie hatten sogar
ihre Witze darüber gemacht.
Womit hat der Arme
das verdient, hatte Danny gefragt: mich
als Paten?
Tom grinste und
wendete ihre Steaks auf dem Grill, bevor er einen Schritt
zurücktrat, eine Hand in der Tasche seiner ausgebeulten Shorts, den
Bauch über den Bund herausgeschoben. Bis vor einem Jahr hatte er
sich fit gehalten, aber dann war sein Bauch im gleichen Tempo
runder geworden wie der von Brynn. Wobei Danny auch in Toms Haltung
etwas Neues bemerkte: eine Lockerheit – oder Erfülltheit. Er hatte
einen Sohn: seine große Tat, das eine große Ziel im
Leben.
Tom sagte, mit
Pokerface: Mir fehlt es ganz einfach an Alternativen. Er trank
einen Schluck Bier und blickte durch den Garten zur hinteren
Veranda, wo Brynn, die in einem Holzstuhl saß, sich ihr rostbraunes
Haar im Nacken hochschob und ins Telefon sagte: Ich weiß, ich weiß.
Colin lag unsichtbar neben ihr, versteckt in den Tiefen einer
Korbwiege, die sie mit dem Fuß anstieß.
Tom sagte: Meine
Eltern sind in Afrika – und mal ehrlich: sie kämen auch so nicht in
Frage. Walt hat selber vier. Brynns Mutter hat mit Brynns Vater
schon mehr als genug zu tun – und ihre Schwester ist schlicht und
ergreifend durchgeknallt. Wenn uns etwas zustößt, dann will ich,
dass jemand sich um Colin kümmert, der dazu auch in der Lage
ist.
Da scheinst du mehr
zu wissen als ich.
Stell dir vor, sagte
Tom mit einem Grinsen, das tu ich.
So ging das zwischen
ihnen seit der dritten Klasse. Von den ersten Anfängen ihrer
Freundschaft an war Tom der Beständige gewesen, sich seiner Sache
sicher, optimistisch, während Danny der Zauderer war, der
Trietschler, der Komplizierte. Danny hatte ihre Freundschaft – die
Tatsache, dass sie zusammenpassten – immer als eines der Rätsel des
Kosmos empfunden. Aufgeweckt und begabt waren sie beide, aber Tom
folgte einer klaren Linie, und Danny – Danny folgte eben Tom. Und
sein Leben wurde schöner dadurch. Er hätte eine lange Liste von
Dingen anfertigen können, an die er sich niemals herangetraut
hätte, wenn nicht Tom ihm befohlen hätte, mit dem Gezeter
aufzuhören und es einfach zu probieren. Sprich
sie an, du Feigling. Üb wieder Gitarre, du bist verdammt noch mal
gut. Wo ist das Problem? Ich muss mich hier vor tausend Leuten
hinstellen und Walzer tanzen, und bei dir reicht’s schon, wenn du
zwei, drei lausige Witze erzählst. Und er konnte sich an
keine Woche in den vergangenen zehn Jahren erinnern, in der er
nicht mindestens einen Tag mit Tom verbracht hatte, und dann mit
Tom und Brynn – Brynn, die, um es mal so zu sagen, Tom war, wenn
Tom als schöne Frau zur Welt gekommen wäre. Das jedenfalls war der
Kern des Trinkspruchs gewesen, den er in seiner Eigenschaft als
Trauzeuge ausgebracht hatte.
In der alten Zeit,
gab Danny Tom zu bedenken, bestand die Aufgabe des Taufpaten in der
religiösen Unterweisung.
Gut, ja, das auch.
Tom stach in ein Steak. Aber wenn die Eltern des Kindes
dahingemetzelt wurden, sagen wir, von den Langobarden, dann war
eben doch wieder der Pate dran. Was du dem Jungen über Gott
erzählst, ist mir offengesagt relativ schnurz -
Das ist vielleicht
ein Fehler.
Also komm, Danny. Du
musst hier nicht gleich Panik schieben.
Ich weiß, sagte
Danny. Ich fühle mich geehrt, zufrieden?
Du bist ein echter
Freund, sagte Tom. Er sah hinüber zu Brynn in ihrem Stuhl und
reckte den Daumen in die Höhe. Brynn schwenkte eine Hand über dem
Kopf wie ein Cheerleader die Pompons, dann deutete sie auf das
Telefon und schnitt ein Gesicht.
Gott, sagte Danny.
Ich brauch noch ein Bier.
Warte, bis du selber
ein Kind hast. Dann wirst du dich auch absichern
wollen.
Ich schwör dir bei
meiner Ehre, sagte Danny, wenn ihr nicht durch irgendeinen völlig
verrückten Zufall beide ums Leben kommt, werde ich nie Kinder
haben. Hörst du?
Tom öffnete die
Kühltasche und holte zwei Bier heraus. Bei welcher
Ehre?
Wirklich. Ich
schwör’s. Das einzige Kind, das ich je haben könnte, ist
eures.
Tja, sagte Tom, wir
wollen eben nur das Beste für dich.
Monate später, kurz
vor Colins erstem Geburtstag, führten Tom und Brynn Danny in Toms
Arbeitszimmer. Brynn trug Colin auf der Hüfte; er griente Danny an,
die Faust um ein paar von Dannys Schlüsseln geballt, an denen er
herumsabberte.
Wir haben den
Papierkram jetzt fertig, sagte Tom.
Welchen
Papierkram?
Du weißt schon. Im
Falle unseres vorzeitigen Hinscheidens et cetera. Es ist alles hier
drin.
Tom zog eine
Schublade an seinem antiken Rollpult auf und holte eine
Eisenschatulle von den Maßen eines Blatts Schreibmaschinenpapier
heraus, sieben oder acht Zentimeter hoch. Er sagte: Alle Unterlagen
für den Notfall sind hier drin. Der Schlüssel klebt unten an der
Schublade, okay? Nur für den Fall eines Falles.
Mein Gott, sagte
Danny. Ihr habt echt Nerven.
Brynn sagte: An
Colins achtzehntem Geburtstag feiern wir dann alle zusammen die
große Danny-ist-vom-Haken-Party, versprochen.
Colin zappelte, also
setzte sie ihn auf den Boden. Er krabbelte schnurstracks auf den
Gang hinaus, Tom jagte hinter ihm her.
Brynn legte Danny den
Arm um die Taille. Danke, dass du mitmachst, sagte
sie.
Danny schrak
zusammen. Brynn umarmte alle und jeden, aber das hieß noch lang
nicht, dass es – dass sie! – ihn nicht erschrecken durfte, selbst
nach drei Jahren noch.
Ach was, sagte er.
Nicht der Rede wert.
Und ob es das ist.
Sie küsste ihn auf die Wange und wischte dann den Lippenstift von
der Stelle, wo sie ihn hingeküsst hatte. Mach dir keine Sorgen
deswegen, ja? Wir haben nicht vor, den Löffel
abzugeben.
Danny spürte, wie
seine Wange heiß wurde. Sag mal, ist das – ist dir das überhaupt
recht? Dass ich das mache?
Sie lachte. Warum
sollte es mir nicht recht sein?
Weiß nicht. Weil ich
ein Chaot bin, zum Beispiel. Weil ich nicht mal mein Bankkonto im
Griff habe.
Brynn warf ihm einen
Blick zu, dann tätschelte sie seine Schulter. Wir wissen schon, was
wir tun. Du bist ein guter Mensch.
Danny stöhnte auf und
sah in den Flur hinaus, wo Tom auf dem Rücken lag und Colin über
seinem Brustkasten in die Höhe stemmte und wieder herunterließ wie
ein Gewichtheber seine Hanteln.
Brynn sagte: Du bist
wie ein Bruder für Tom. Das zählt für mich sehr viel. Und du kannst
schöne Musik spielen. Du behandelst Frauen gut. Du machst dir
Gedanken. Schlechte Menschen machen sich keine
Gedanken.
Hitler hat sich jede
Menge Gedanken gemacht.
Jetzt mal im Ernst.
Ich hab das bei dir einfach im Gefühl. Und Tom genauso. Du wärst
schon richtig, im Falle, dass.
Danny sehnte sich
nach einem Drink. Na ja, sagte er, aber sorgt bitte dafür, dass
wir’s nie rausfinden müssen, ja? Ohne euch bekäme ich das nicht
hin.
Was? Colin? Sie
runzelte die Stirn, warf ihm dann erneut diesen Blick
zu.
Mein Gott, sagte
Danny. Alles.
Als keine Tränen mehr
kamen, saß Danny an die Küchenwand gelehnt und versuchte, sich das
erschöpfte Ruhegefühl zu bewahren, das sich mit Nachlassen der
Schluchzer auf ihn herabgesenkt hatte. Nicht darüber nachzudenken,
dass aus der Viertelstunde, die Kim hierher hätte brauchen sollen,
jetzt schon eine halbe Stunde geworden war.
Eine Ablenkung also:
die Eisenschatulle im Arbeitszimmer. Der Schlüssel an der
Unterseite der Schublade.
Er rappelte sich
hoch, grimassierte. Der Gedanke an die Schatulle rief ihm die
zwanzig, dreißig Probleme in Erinnerung, die ihm die ganze Nacht,
seit dem Anruf der Polizei, immer wieder durch den Kopf geisterten.
So viele Dinge, mit denen er sich früher oder später würde befassen
müssen: eine ganze verfluchte Lawine von Problemen.
Er goss sich noch
einen Schuss ein.
Zum Beispiel. Bei der
Band standen dieses Wochenende Gigs an, die jetzt flachfielen. Er
würde sich fürs Erste ausklinken müssen – anders ging es nicht. Ein
paar Gitarristen hier in der Stadt konnten vielleicht für ihn
einspringen; die anderen Jungs konnten das Herumtelefonieren
übernehmen, aber sie mussten sofort damit anfangen. Schon wenn er
an morgen dachte: donnerstags spielten sie immer im Coffeeshop
-
Der Coffeeshop! True
Brew – Brynns Firma, Dannys Job. Öffnungszeit war um sechs; die
Frühbelegschaft kam um fünf, in gerade mal – Danny sah auf die Uhr,
während er ins Wohnzimmer hinüberging – dreieinhalb
Stunden.
Brynn hatte den Laden
letztes Jahr eröffnet, in einem leerstehenden Ladenlokal ein paar
Straßen von ihrem Haus entfernt. Es hätte ein bloßer Zeitvertreib
sein können. Tom verdiente auch allein genug, um die Familie zu
ernähren, aber Brynn hatte einen Abschluss in Betriebswirtschaft
und war auch sonst nicht die Art Frau, die halbe Sachen machte. Und
so war der Laden fast von der ersten Stunde an ein Bombenerfolg
gewesen, mit Brynn als Eigentümerin und Geschäftsführerin, die
Zwölf-Stunden-Tage hinlegte, in Schichten, so dass sie sich um
Colin kümmern konnte, wenn er nicht in der Krippe oder bei Tom war.
Ihr einzig fragwürdiger Schachzug bei der Geschichte war es
gewesen, Danny als zweiten Geschäftsführer
einzustellen.
Nein. Das war
armselig von ihm. Der Deal hatte sich für sie beide ausgezahlt.
Danny hatte ihren Vorschlag erst für einen Witz gehalten; seine
einzige Qualifikation außer den gemeingefährlichen Mengen Kaffee,
die er in sich hineinschüttete (er spielte Bluegrass, da tat eine
gewisse Hippeligkeit gar nicht schlecht), waren seine Zeiten als
Kassierer in Videoläden, Plattenläden, Buchläden. Sein Abschluss
war in Musik, verdammt noch mal; er
hatte nichts gelernt.
Aber als sie ihm die
Einzelheiten auseinandersetzte, sah er, wie stolz sie auf ihren
Plan war: Danny würde einen Job bekommen, der ihm lag, mit freien
Abenden für seine Gigs, und Brynn die Entlastung, die sie so
dringend brauchte. Sogar die Band wollte sie für die
Donnerstagabende anheuern.
(Wow, hatte er gesagt, überwältigt. Gern, Brynnie.
Worauf sie lächelte
und ins Arbeitszimmer hinüberrief: Hey, Tom –
Danny hat mir gerade erlaubt, ihn
herumzukommandieren.
Und Tom hatte sich
ins Wohnzimmer gelehnt und gesagt: Dann habt
ihr ja beide genau das, was ihr wolltet.)
Brynn hatte immer die
Frühschicht übernommen; Tom brachte Colin auf dem Weg zur Arbeit in
die Krippe. Danny schloss dann abends zu. Wenn Kim auftauchte –
falls sie sich noch irgendwann zum Auftauchen bequemte -, musste er
sie mit einem Schild zu True Brew rüberschicken. Der Laden musste
erst mal geschlossen bleiben – wie lang? Eine Woche? Er und Brynn
waren die alleinigen Geschäftsführer. Danny würde eins von den
Mädels befördern müssen. Aber wer übernahm den Laden auf lange
Sicht? Vielleicht jemand aus Brynns Familie -
Brynns Familie.
Toms Familie. Was für ein Vollidiot er
war!
Die Polizei hatte
Dannys Nummer in Toms Brieftasche gefunden und ihn ins
Leichenschauhaus bestellt, nachdem er ihnen gesagt hatte, dass die
Angehörigen alle auswärts lebten. In gewissem
Sinne bin ich wohl ein
Angehöriger, hatte er gesagt. Jetzt musste er die echten
Angehörigen verständigen: Brynns Mutter, die in Colorado Springs
Brynns Vater pflegte – er hatte vor zwei Jahren einen schweren
Schlaganfall erlitten. Und Toms Eltern, beide Missionare in Sierra
Leone. Er wusste nicht einmal, wie er sie kontaktieren sollte.
Selbst Tom sprach nur ein paarmal im Jahr mit ihnen. Und dann gab
es Brynns Schwester in Pittsburgh und Toms Bruder Walt in Denver
…
Dannys Herz schlug zu
schnell. Er trank einen Schluck Whiskey. Er würde die Anrufe am
Morgen machen. Vorher konnte ohnehin niemand etwas tun. Und er war
nicht in der Verfassung zu telefonieren, noch eine ganze Weile
nicht.
Sie würden alle nach
Columbus zur Beerdigung kommen – Gott, die Beerdigung! Wenigstens
darum würde sich jemand anderes kümmern. Er versuchte diese ganzen
Leute vor sich zu sehen, alle weinend. Sich selbst, wie er ihnen
eröffnete, dass er jetzt Colins Vormund war. Sich selbst, wie er
ihnen die wundertätigen Papiere zeigte, die in Toms Arbeitszimmer
warteten. Und dann hundert verschiedene Gesichter, eins besorgter
als das andere.
Vielleicht konnte er
einfach mit dem Kleinen daheimbleiben. Einen Dreijährigen nahm man
ja wohl nicht zur Beerdigung seiner Eltern mit, oder?
Seine eigenen Eltern
sollte er auch anrufen. Seine Mutter würde herkommen und so lange
bleiben, wie er es wollte, sie würde ihm Ratschläge geben. Und Walt
genauso. Er hatte eine kleine Tochter, ein bisschen älter als
Colin. Vielleicht konnte er sie mitbringen, dann hätte Colin für
eine Weile jemanden zum Spielen. Walt war ein anständiger Kerl. Er
würde tun, was er konnte.
Alle würden sie ihm
helfen. Ein kleines Kind – niemand würde Colin den Rücken
kehren.
Auch Kim nicht.
Oder?
In Wahrheit hatte
Danny keine Ahnung, was Kim zu alledem sagen würde. Es war nicht
ihre Art, die Dinge rational anzugehen, und Krisen schon gar nicht.
Sie war erst vierundzwanzig, Himmelherrgott; sie hatte mindestens
so viele Jobs hingeschmissen wie er, nur in zehn Jahren weniger.
Vor einem Monat erst hatte er ihr tausend Dollar geliehen, damit
sie ihre Kreditkartenschulden abbezahlen konnte. Er versuchte sie
sich vorzustellen, wie sie Colin auf ihrer Hüfte hüpfen ließ, so
wie Brynn. Selbst in seiner Phantasie sah sie entsetzt
aus.
Er sah wieder auf die
Uhr. Schon eine Dreiviertelstunde, seit sie aufgelegt hatten. Sein
Hirn wollte nicht aufhören zu rasen – Kim, wie sie einen Liebhaber
anrief. Kim, wie sie in Richtung Alaska düste, so schnell ihr
kleiner Mazda es zuließ. Kim, wie sie auf dem Mittelstreifen der
I-270 verblutete.
Er musste an etwas
anderes denken. Schluss jetzt mit dem Rumgeschlunze, Zeit für die
Schatulle.
Das Arbeitszimmer
ging vom selben Flur ab wie Colins Zimmer. Danny blieb an der Tür
stehen und lauschte; Colins kleine, pfeifende Atemzüge waren durch
den Spalt gerade eben hörbar. Danny hatte noch seine Schuhe an;
jetzt zog er sie aus und ging die Schritte bis zum Arbeitszimmer
vorsichtig auf seinen feuchten Socken.
Das Arbeitszimmer war
Toms Allerheiligstes gewesen. Er hatte eine Schwäche für Interieurs
im Corleone-Stil, Mahagonimöbel, Lampen mit grünem Schirm,
Füllfederhalter. Hier drin fühle ich mich am
meisten als Anwalt, hatte er immer gesagt. Danny kam das
Zimmer jetzt eher wie ein Bestattungsinstitut vor: zu still, zu
dunkel.
Er knipste die
Schreibtischlampe an und ging zu dem Rollpult in der Ecke. Er fand
darin die Eisenschatulle und den an der Unterseite der obersten
Schublade festgeklebten Schlüssel, genau wie Tom es ihm gezeigt
hatte.
In der Schatulle war
ein Stapel versiegelter brauner Umschläge, alle mit Toms
ordentlicher Handschrift beschriftet. Fahrzeugpapiere. True Brew. Hypothek.
Geb.-Urkunden. Und dann, ganz unten: Im
Falle des Todes von Tom Schultz und Brynn
Matthews.
Danny schlitzte den
Umschlag mit Toms großem goldenem Brieföffner auf. Ein Bündel
Papiere und Kuverts, gewichtig und amtlich, rutschte ihm auf den
Schoß. Obenauf war ein kleinerer Umschlag, ebenfalls zugeklebt. FÜR
DANIEL O’DAY. PERSÖNLICH stand mit Filzstift darauf.
Danny starrte an die
Zimmerdecke, bis das Stechen in seiner Nase nachließ.
Er drehte den
Umschlag zweimal in den Händen und wünschte sich sehnlich, ihn
nicht öffnen zu müssen. Verdammt, er dachte gar nicht daran, ihn zu
öffnen! Er würde den ganzen Krempel in den Kamin werfen und
verbrennen. Sollte doch alles so laufen
wie anderswo auch. Sollte sich doch jemand aus Toms oder Brynns
Familie – Walt! – um Colin kümmern, um all die Kuverts, um diese
ganze Scheißbescherung.
Nein. Tom hatte
sicher irgendwo Kopien. Er war der Typ dafür.
Danny wischte sich
über den Mund. Was war er nur für ein Arschloch. Er konnte die
Papiere nicht vernichten, weil es auffliegen würde? Nicht etwa, weil er bei seinen
besten Freunden im Wort war? Weil ihm
etwas an ihrem Kind lag?
Siehst du?, fragte er Tom im Geiste. Siehst du, was für eine Schnapsidee das
war?
Mit einem Seufzer
griff er nach dem Brieföffner.
Aus dem Umschlag kam
ein Briefbogen zum Vorschein, dessen Hintergrund blass bedruckt
war: eine dieser vergilbten alten Weltkarten, auf denen schuppige
Meeresungeheuer die Köpfe aus Ozeanen recken. Das Blatt war eng mit
Toms Handschrift beschrieben.
Danny,tja, es ist vier Uhr früh, und ich bin in einer merkwürdigen Stimmung. (Wer hätte das gedacht?) Ich hoffe, in zwanzig Jahren zeige ich dir diesen Brief und wir lachen darüber. Wenn du ihn vorher liest … ja, dann sind Brynn und ich tot, und du weißt besser als ich, was passiert ist. (Oder du hast geschnüffelt, in welchem Fall ich dir wünsche, dass es dich mindestens genauso gruselt wie mich jetzt. Und du bist verpflichtet, es mir zu beichten, du Schafskopf.)Gut, aber wenn wir tot sind und Colin noch lebt, dann findest du in diesem Umschlag alles, was du für die nächsten Schritte brauchst. Unsere Testamente sind notariell beglaubigt – du musst sie nur unserem Anwalt geben, und er wird alles in die Wege leiten. Er ist ein Freund von uns; du kannst ihm vertrauen. Den größten Teil unseres Vermögens sollst du verwalten, bis Colin selbst alt genug dafür ist. Brynn und ich haben außerdem jeder eine Lebensversicherung – die von Brynn ist zu Colins Gunsten abgeschlossen, meine zu deinen. Das Geld sollte reichen, um die Hypothek abzubezahlen, falls du von hier weg willst – denk um Gottes willen nicht, du müsstest hierbleiben! Wenn das Schlimmste eingetreten ist, sollst du dich auf gar keinen Fall angebunden fühlen.Wir haben so ziemlich Colins gesamte Säuglingszeit auf Video. Ich habe vorhin versucht, einen Brief an ihn zu schreiben, aber es hat mich zu fertig gemacht. Wahrscheinlich ist es das Beste, du lässt ihn die Videos einfach anschauen, wenn er so weit ist. Sie sind in einer feuerfesten Truhe im Keller.Nun zum unguten Teil. Was meine Eltern von mir halten, weißt du. Und solltest du es noch nicht geahnt haben: Dich mögen sie auch nicht besonders. Der gottlose, ungewaschene etc. Ich bin ziemlich sicher, dass sie deine Vormundschaft anfechten werden. Und wenn sie es richtig anstellen, macht Walt möglicherweise auch mit. Ich weiß, dass das hart für dich werden wird; ich weiß, dass du an den Punkt gelangen wirst, wo es dir einfacher erscheint nachzugeben, aber bitte, tu’s nicht. Wenn ich schon nicht Colins Vater sein kann, dann möchte ich wenigstens, dass du es bist. Du hast eine zu geringe Meinung von dir. Ich habe das nicht, Brynn hat es nicht, und Colin auch nicht.Also dann, pack’s an, spring rein ins kalte Wasser. Um uns trauern sollst du natürlich auch, aber dazu ist jetzt erstmal keine Zeit.Sag Colin, dass wir ihn lieb hatten, und sag es ihm jeden Tag.Tom
Zwanzig Minuten
später, als Kims leises Klopfen ihn aufschreckte, saß Danny auf der
Couch, die Flasche zwischen die Schenkel geklemmt, Toms Brief
umgedreht neben sich auf dem Kissen. Er stand so hastig auf, dass
er fast den Whiskey verschüttet hätte, und das Zimmer schwankte
ganz leicht. Gut, dachte er. Umso besser. Er öffnete die
Tür.
Hi, Baby, sagte
er.
Hey, sagte Kim und
kam ohne Umstände herein, wenn auch nicht sehr weit. Ich musste
erst Amanda anrufen, dass sie mich fährt, sagte sie. Ich bin immer
noch ziemlich neben der Spur. Sie kreuzte die Arme über der Brust
und spähte an Danny vorbei ins Wohnzimmer.
So heilfroh Danny
war, sie zu sehen: Sie sah wüst aus. Ihr rundes Gesicht war bleich
und gedunsen, die Augen rotgerändert hinter der Brille, das kurze
braune Haar verstrubbelt und schlaff. Sonst kannte er sie fast nur
sexy und kess und mit Kussmund – er mochte das Energische an ihr,
ihren Anblick in schwarzer Lederjacke und engem Rock, der ihre
vollen Hüften umspannte. Aber jetzt, in Sweatshirt und Jeans,
ausgelaugt und ernst, ähnelte sie eher der Mutter der Babysitterin
als der Kim, die er kannte.
Trotzdem, dass sie so
gar keine Anstalten machte, ihn zu umarmen, ließ ihm die Kehle eng
werden.
Bist du allein?,
fragte sie.
Ja. Ich dachte, das
hätte ich dir schon ge-
Ich – ich hab
gedacht, es wären vielleicht … die Bullen da oder so was. Oder von
der Familie jemand.
Er zählte ihr auf, wo
die Angehörigen wohnten. Kim drehte sich langsam in der Mitte des
Wohnzimmers und starrte auf alles außer auf ihn.
Sie hatte sich nie
wohlgefühlt hier bei Tom und Brynn – sie hatte ihnen sogar bittere
Superhelden-Namen verpasst: Super-Mom und Lawyer-Boy. Ihr Haus hieß
bei ihr nur das Einrichtungshaus. Das ist nicht fair, hatte er ihr
immer gesagt. Dabei hatte er sich in dem Haus selber nie so ganz
wohl gefühlt. Mit Colin, das musste man sagen, war es besser
geworden – turbulenter, weniger museumsartig. Aber Brynn spannte
selbst Colin schon ein, brachte ihm bei, wie lustig es war, Ordnung
zu halten, alles da hinzutun, wo es
hingehört. Neuerdings versuchte Colin, Schubladen oder
Schränke schon wieder zuzumachen, bevor Danny sie ganz geöffnet
hatte, sein rundes Gesicht tadelnd und beleidigt. Nein, Onkel Danny, das gehört nicht so. Brynn hätte
sich totlachen wollen darüber. Onkel Danny ist
ein alter Schlamper, stimmt’s?, sagte sie, und Colin zeigte
auf ihn und trompetete: Alter
Schlamper!
Nur wir beide, sagte
Danny zu Kim, für ein Weilchen noch.
Mann, sagte sie. Es
müsste, was weiß ich, eine Agentur für so was geben. Jemand … Sie
strich sich durchs Haar und ließ den Gedanken
unvollendet.
Hey, sagte er und
hielt das Glas hoch. Magst du?
Du
trinkst?
Ja. Du – also komm,
jetzt schau mich nicht so an.
Es ist nur, ich
meine, da schläft ein Kind nebenan. Vielleicht solltest du da
besser nicht betrunken sein?
Danny sah auf die
Flasche und stellte sie dann auf einem Beistelltischchen ab. Weißt
du, sagte er, vielleicht brauche ich gerade ein bisschen Trost. Von
dir.
Kim starrte ihn an,
als hätte er eben in dieser Sekunde aus dem Nichts heraus Gestalt
angenommen. Dann blinzelte sie und nickte.
Entschuldige, Baby,
sagte sie und schlang die Arme um ihn.
Er küsste sie auf den
Scheitel. Sie roch nach verrauchten Bars, nach fernen Bieren. Er
mochte den Geruch – er erinnerte ihn an Gigs, an lachende Menschen,
an dieses Gefühl, das er jedesmal bekam, wenn die Band loslegte und
die Menge zu johlen anfing. Oder wenn er mit wundgespielten Fingern
eine kalte Flasche aufhob, hinterher, in den lärmenden, frohen
Frühmorgenstunden. Oder wenn er mit Kim ins Bett stolperte. Er
fragte sich, wann – ob! – er dieses Gefühl je wieder haben
würde.
Kim löste sich von
ihm, viel eher, als ihm lieb war. Wo ist Colin?, fragte
sie.
Schläft.
Ist er kein einziges
Mal aufgewacht?
Nein. Sie sagen, er
schläft zurzeit immer durch, und … ach, Scheiße, ich weiß doch eh
nicht, was ich ihm sagen soll. Er wird nach seiner Mutter
fragen.
Er wollte sie
dringend wieder berühren, aber Kim hatte die Arme
verschränkt.
Kann ich ihn
sehen?
Danny führte sie den
Flur entlang, der vom Wohnzimmer abging; ihre Stiefel klackten auf
den Dielen, und ohne dass Danny sie darum bitten musste, stützte
sie sich rasch an der Wand ab und zog sie aus. Er stieß Dannys Tür
auf, blieb aber auf der Schwelle stehen, so dass Kim nur
hineinschauen konnte, wenn sie sich ganz dicht neben ihn stellte.
Das tat sie. Ihre Hüfte rieb an seiner.
Colin schlief, auf
dem Bauch. Er war groß für sein Alter, und so im Dunkeln
ausgestreckt schien er noch einmal größer. Wenn man die Augen ein
bisschen zusammenkniff, wirkte er auf dem Kinderbett fast so lang
wie ein Teenager.
Ehe Danny sie hindern
konnte, schlüpfte Kim an ihm vorbei und trat ins Zimmer, wenige
Millimeter vor der Hand, die er ihr gerade auf den Rücken legen
wollte. Die Dielen knarzten, und er flüsterte Hey und folgte
ihr.
Sie drehte sich um
und legte den Finger an die Lippen. Dann kniete sie sich auf den
geflochtenen Vorleger vor Colins Bett. Ihre Knie kamen nacheinander
auf, so laut wie zwei Knallbonbons. Colins Hand zuckte auf der
Matratze. Ein paar lange Sekunden blieb Kim völlig reglos, das
Gesicht von Danny abgewandt, ehe sie die Hand hob und die Decke
sachte über Colins Hinterteil zog. Er zappelte kurz, seine Beine
ruderten, dann lag er wieder still. Kim stand auf.
Im Wohnzimmer
flüsterte Danny: Was hast du gemacht?
Sie setzte sich auf
die Couch. Gebetet. Es klang fragend.
Kim war religiös
erzogen, das wusste er, aber auf dem College war sie dann davon
abgekommen. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass sie noch
betete.
Sie sah seinen
Gesichtsausdruck und verzog den Mund. Besonderer Anlass, sagte sie.
Okay. Jetzt könnte ich einen Drink vertragen.
Er holte noch ein
Whiskeyglas aus der Küche und schenkte ihr ein. Sie trank rasch,
saß dann da, die Augen geschlossen.
Kann ich mich zu dir
setzen?, fragte er.
Sie nickte und
rutschte ein Stück, aber Danny setzte sich so nah neben sie, dass
seine Hüfte, als die Polster einsanken, an ihre stieß. Er legte ihr
die Hand aufs Knie, und sie schob ihre darüber.
Was ist mit den
anderen Freunden?, fragte sie.
Wie?
Andere Freunde von
ihnen. Sie kennen doch sicher Leute mit Kindern.
Danny nickte,
beschämt, dass er nicht von allein darauf gekommen war. Doch, sagte
er. Brynn trifft sich mit ein paar Frauen aus der Nachbarschaft.
Sie haben so eine … eine Spielgruppe, wo jede mal dran ist mit
Einladen -
Wir bräuchten hier
wen, der sich mit Kindern auskennt. Mist. Ich hab keine Ahnung. Ich
meine, verhungern würde er uns ja wohl nicht, aber …
Maggie, sagte Danny.
Eine von den Frauen heißt Maggie. Ich glaube, sie wohnt sogar hier
in der Straße. Die ist oft hier.
Maggie hatte eine
Tochter – irgendsoein grausiger, pappsü ßer Name, Kaylee? -, die
nur ein klein wenig jünger als Colin war. Colin hatte ein Auge auf
Kaylee geworfen. Danny war bei einem der Spielnachmittage dabei
gewesen – Brynn hatte ihn beschwatzt, seine Gitarre mitzubringen
und den Kindern Folksongs vorzunäseln, »This Land is Your Land«,
diesen ganzen Müll. Aber die Kinder hatten es herrlich gefunden,
und nach »Puff the Magic Dragon« hatten sie dagesessen und zu ihm
aufgeschaut, als wäre Danny soeben höchstselbst auf Puffs Rücken
vom Himmel herabgeschwebt. Nach der Vorstellung blieb Danny im
Wohnzimmer und beaufsichtigte die Kinder, während Brynnie und die
Mütter Brynns Kräutergarten hinterm Haus bewunderten. Colin sah
fern, an Dannys Knie gelehnt. Dann fing ein älterer Junge,
vielleicht vier, damit an, Kaylee zu zwicken, die losweinte. Danny
drehte sich um, sagte Hey! Aber ehe er
noch aufstehen konnte, hatte Colin sich schon vom Fernseher
abgewandt und baute sich zwischen Kaylee und dem Rowdy auf.
Lass das, befahl Colin dem Jungen mit
einem Gesicht, das ganz verzerrt war vor Wut. Lass das bloß bleiben! Der Rowdy bekam große Augen
und begann zu wimmern. Alle Kinder im Raum verstummten und starrten
auf Colin, der Kaylee bei der Hand nahm und sie zur Couch
hinüberführte. Sie setzte sich an Dannys Füße und hob ein Spielzeug
auf. Colin lehnte sich wieder gegen Dannys Knie. Als wäre nichts
gewesen.
Er war tapfer, er war
so ein tapferer kleiner Kerl. Aber nicht tapfer genug,
Himmelherrgott.
Kim sagte: Wir
sollten Maggie herholen. Sie weiß sicher eine Menge über Colin. Was
er gern mag. Kim stand auf. Weißt du, wo sie wohnt?
Es ist zu früh, sie
ist noch nicht wach.
Wütender Blick von
Kim. Colin ist ein Waisenkind! Hier ist jemand gestorben, verdammt.
Von mir aus können sie beim Weihnachtsessen sitzen, das ist mir
scheißegal!
Hey. Hey! Nicht so
laut. Okay?
Herrje, irgendwas
müssen wir doch machen!
Du tust, als ob wir
völlig aufgeschmissen wären. Ich hab zigmal auf ihn aufgepasst.
Okay? Er mag Joghurt und Grahamcracker und Bananen. Er darf nichts
trinken, was Farbstoffe oder Koffein enthält. Er ist sauber. Okay?
Dafür müssen wir diese armen Leute nicht aus dem Bett
werfen.
Er sah, wie Kim
leicht den Kopf einzog. Seine Wut erschreckte ihn; noch vor zehn
Minuten wäre er, wenn er selber die Idee gehabt hätte, schluchzend
zu Maggie gerannt. Aber Kim redete so, als hätte er von nichts eine
Ahnung.
Kim flüsterte: Ich
wollte bloß – ich weiß nicht, was ich tun soll.
Komm. Setz dich erst
mal her. Lass Colin meine Sorge sein, wenn du ein Problem damit
hast, okay? Jetzt im Augenblick brauch ich dich.
Sie hatte zu
schluchzen angefangen. Ich hab kein Problem damit, ich hab nur
-
Sie kam zu ihm und
setzte sich hin, und er verstand kein Wort von ihrem Gestammel. Er
legte den Arm um sie.
Komm, wir legen uns
hin. Schscht. Leg dich hin. Wir haben noch ein bisschen Zeit. In
Ordnung?
Sie schniefte in
seine Schulter, krallte sich mit beiden Händen in sein T-Shirt,
nickte. Er ließ die Schwerkraft das ihre tun.
Er streichelte ihre
rechte Hand, und da spürte er ihn plötzlich: den Ring, den er ihr
geschenkt hatte, vor drei Monaten. Heute Nacht trug sie ihn – bei
mehr als einer Gelegenheit im letzten Monat hatte sie ihn nicht
angehabt, und Danny hatte sich verrückt gemacht mit seinem Gegrübel
darüber, was das hieß. Darüber, ob Kim ihm Botschaften sandte,
Signale. Er zog ihre Hand zu seinem Mund hoch, um ihn sehen zu
können. Vorhin, als sie hereingekommen war, hatte er gar nicht
daran gedacht, nach dem Ring zu schauen. Aber hier war er. Sie
hatte ihn angesteckt, für ihn. Kim erwiderte seinen Blick, sah
flüchtig auf seinen Daumen, der über den Ring rieb. Ihre Mundwinkel
zuckten auf eine Weise, die er nicht deuten konnte, und dann
vergrub sie das Gesicht an seiner Schulter und schluchzte
los.
Nein, alles in
Ordnung, schluchzte sie immer wieder. Alles in
Ordnung.
Das hatte sie Monate
zuvor auch gesagt. Als er ihr den Ring gegeben hatte. Das Ganze war
eine viel größere Sache gewesen, als Danny sich vorgestellt hatte.
Nicht weil der Ring teuer gewesen wäre – es war nur ein keltisches
Herz aus Silber, alt und angelaufen auf eine Art, die es noch ein
bisschen schöner aussehen ließ. Er hatte ihn in einem
Antiquitätenladen entdeckt, in dem er und Kim manchmal
herumstöberten, und er war so beglückt gewesen über seinen Fund –
darüber, ihr zuvorgekommen zu sein -, dass er ihn gekauft hatte,
ohne sich zu überlegen, was er denn sagen wollte, wenn er ihn ihr
gab. Was der Ring bedeutete. Aber man konnte einer Frau nicht
einfach so einen Ring schenken. Ein Ring bedeutete immer
etwas.
Also hatte er Brynn
nach ihrer Meinung gefragt, eines Nachmittags, als sie im
Hinterzimmer des Coffeeshops den Wochenplan
durchgingen.
Brynn drehte den Ring
zwischen den Fingern. Er sah schäbig aus, wie sie ihn so hielt, und
Danny wünschte schon, er hätte lieber Tom gefragt. Aber dann
lächelte Brynn, und er fühlte sich ein bisschen besser, und sie gab
ihm den Ring so behutsam zurück, dass es ihm gleich erheblich
besser ging.
Ich will nicht, dass
sie denkt, es ist diese Art Ring,
erklärte Danny ihr. Aber ich will auch nicht so tun, als würde er
gar nichts bedeuten.
Habt ihr denn schon
mal übers Heiraten gesprochen?, fragte Brynn.
Nein.
Es ist jetzt fast ein
Jahr, sagte Brynn, ihre Stimme vorsichtig, anspielungsreich. Dabei
wusste er, dass sie nicht übermäßig viel von Kim hielt. Kim und
Brynn waren beide viel zu liebenswürdig zueinander; Danny meinte
die Frauen gut genug zu kennen, um zu wissen, was das hieß. Und
Brynn hatte so eine Art, Fragen zu stellen – Was genau macht Kim denn? Was für Zukunftspläne hat sie? -,
die es auf bescheuerte Antworten geradezu anzulegen
schien.
Und außerdem, sagte
er ihr, will ich gar nicht heiraten. Und Kim, soviel ich weiß, auch
nicht.
Ach, Danny, sagte
Brynn. Und darin war sie anders als Tom: Immer wieder schaffte sie
es zwischendurch, dass er ein schlechtes Gewissen hatte, weil er
nicht so war wie sie.
Er fuhr die Stacheln
aus. Und deshalb stimmt mit mir was nicht, oder wie?
Nein, natürlich
nicht, sagte Brynn, aber in ihrem Blick lag trotzdem etwas
Bekümmertes. Danny – du weißt, wie sehr Tom und ich dich mögen. Ich
wünsche mir doch nur, dass jemand dich so liebt, wie er und ich uns
lieben.
Und das geht nur,
wenn ich verheiratet bin?
Brynn ruderte noch
ein Stück zurück, sah weg von ihm, hinunter auf ihren Wochenplan.
Nein, sagte sie. Du hast ja Recht.
Komm schon, sagte er.
Sag’s.
Na ja, sagte sie, ich
denke eben, dass es etwas bedeutet – etwas Wichtiges -, wenn man
sich auf diese Weise zu einem Menschen bekennt. Sie sah ihn an. Ich
wollte eigentlich auch nie heiraten, wusstest du das?
Mhm.
Doch, wirklich, sagte
sie. Ich war viel zu sehr auf meine Unabhängigkeit bedacht. Aber
allein sein wollte ich auch nicht – irgendjemand sollte schon da
sein. Und dann habe ich Tom kennengelernt und mich in ihn verliebt,
und plötzlich war alles anders. Ich konnte ihm gar nicht genug
Versprechungen machen. Sie lächelte. Und ein Kind wollte ich
plötzlich auch. Zusammen mit Tom.
Ich kann nicht umhin
zu bemerken, sagte Danny, dass wir über Kinder reden. Wieder
mal.
Ich glaube, es hängt
alles zusammen, sagte Brynn. Ich wollte ein Kind wegen Tom. Ich
glaube, Colin zu bekommen war eine Art, ihm zu sagen: Dieser Teil
von mir wird immer da sein. Verstehst du? Das ist die Zukunft, und
sie zählt. Sie warf Danny einen raschen Blick zu. Ergibt das einen
Sinn?
Ja.
Brynn sah auf den
Ring in seiner Hand. Empfindest du bei Kim etwas
Ähnliches?
Danny wusste nicht
recht, ob das jetzt wieder eine von Brynns
Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst-Fragen war. Aber es kam ihm nicht
so vor. Danny steckte den Ring in seine Tasche. Ich liebe sie,
sagte er.
Brynn lächelte. Als
hätten Danny und sie Streit gehabt, und sie hätte
gewonnen.
Sie sagte: Dann gib
ihr doch einfach den Ring und schau, wie sie ihn gern sehen möchte.
Das klang schlauer
als alles, was Danny sich so zurechtgelegt hatte, ganz egal, was
Brynn zusätzlich noch hineingeheimniste. Also ging er gleich am
selben Abend, als er im Laden fertig war, zu Kim. Kim war stinkig
an diesem Abend – zu der Zeit arbeitete sie als Rezeptionistin in
einer Wirtschaftsprüfungsfirma und hatte gerade einen neuen Chef
bekommen, und der Kerl war ein Arschloch. Danny kochte ihr
Spaghetti, und sie lehnte hinter ihm am Kühlschrank, rauchend und
schimpfend.
Kims schlechte Laune
störte ihn kein bisschen; er summte vor sich hin, während er
Tomaten und Paprika für die Soße schnippelte. Und wie er so mit ihr
stand und ihren immer halbherzigeren Klagen lauschte, dachte er
plötzlich, dass das hier – diese ganze Szene: das Kochen, das
unernste Gemaule, der Essensgeruch, die Aussicht darauf, später in
den wilden Kissenhaufen auf Kims Wohnzimmerboden nackt mit ihr zu
kuscheln und Platten zu hören – dass alles das sich … ausbaufähig
anfühlte. Nicht nach Brynns Vorstellungen – nicht mit Heiraten und
Kinderkriegen, überhaupt nicht. Aber er wollte nicht, dass es
aufhörte. Und als er sich, rein probehalber, vorstellte, dass er
Kim verlieren könnte, dass sie in dieser Küche saß und diese selben
Dinge alleine tat oder mit irgendeinem anderen Mann, hätte er vor
lauter Jammer am liebsten den Kochlöffel hingeworfen und sie
umarmt.
Nach dem Essen, als
sie auf dem Sofa Wein tranken, sagte er: Ich hab dir einen Ring
gekauft. Er spürte, wie er rot wurde. Nicht so einen … aber ich hab dir einen
gekauft.
Sie setzte sich auf,
während er in seiner Jeanstasche wühlte. Einen Ring?
Er hielt ihn ihr
hin.
O mein Gott, sagte
sie. Danny! Ist der aus dem Attic?
Ja, ich hab ihn
gestern gefunden.
Mein Gott, genau so
einen wollte ich immer! Wie hast du das geahnt?
Weiß nicht. Ich
dachte einfach, der könnte dir gefallen.
Sie sah ihn an. Ihre
Augen waren sehr groß. Also was für ein Ring ist es?
Er grinste. Weiß auch
nicht. Vielleicht ein Wie-wär’s-wenn
wir-zusammenbleiben-Ring?
Sie lachte, auf die
Art, wie sie immer lachte, wenn sie nervös war. Soll ich ihn an
einem Bindfaden um den Hals tragen?
Wenn du magst.
Kimmy?
Ja?
Ist alles in
Ordnung?
Natürlich. Doch. Sie
küsste ihn. Alles in Ordnung.
Und dann liebten sie
sich, und Danny zog Kim alles aus bis auf den Ring. Und als sie
hinterher miteinander im Bett lagen, redeten sie lange davon, dass
sie zusammenziehen würden, wenn im August Kims Mietvertrag
auslief.
Aber seitdem traten
sie auf der Stelle. Der August rückte immer näher. Und Kim erschien
Danny zunehmend unruhig und ausweichend – ging, so fand er, öfter
mit ihrer Collegefreundin Amanda aus als mit zu seinen Auftritten,
schlief öfter neben ihm vor dem Fernseher ein als nackt mit ihm im
Bett.
Tom versicherte
Danny, das sei normal. Ich kann schon froh sein, wenn ich zweimal
im Monat zum Schuss komme, sagte er. Sagt sie dir, dass sie dich
liebt?
Schon, sagte Danny.
Aber nicht mehr so oft.
Ich würde es
ansprechen. Es einfach mal beiläufig erwähnen. Spiel es nicht
unnötig hoch.
Sprichst du Brynn
darauf an?
Klar, ich beschwer
mich andauernd. Aber, Mann – wir haben ein Kind. Wir haben eine
Ausrede. Tom sah ihn an und grinste. Singles haben’s nun mal
schwerer. Immer schon.
Aber Danny hatte Kim
nicht darauf angesprochen. Er traute sich einfach nicht.
Stattdessen hatte er sich – er wusste es selber – zum Idioten
gemacht: ihr Geschenke und Blumen gebracht, wenn er sich ausrechnen
konnte, dass sie nicht in der Stimmung dafür war, sie ins Bett zu
kriegen versucht, wenn er genau wusste, dass er sich eine Abfuhr
holen würde. Er brachte immer mehr Zeit mit Trinken zu, damit,
darüber nachzubrüten, wie blitzschnell es bei ihnen beiden gegangen
war – wie Kim nach einem Gig einfach zu ihm gekommen war,
euphorisch; wie sie die erste Woche vollauf damit beschäftigt
gewesen waren, sich einander zu öffnen, die meiste Zeit in Kims
Bett. Der Blick, mit dem sie ihn angeschaut hatte, als wäre sie hin
und weg von ihm – als wäre er nicht zehn Jahre älter und dicker und
einsamer.
Jetzt schämte er sich
fast, daran zu denken, wie dankbar er gewesen war, als Kim ihm
gesagt hatte, dass sie ihn liebte. Daran, wie er vor lauter Glück
nicht hatte schlafen können, wie er mit offenen Augen dagelegen und
in die Dunkelheit gestarrt und geglaubt hatte, alle seine Sorgen
wären vorbei.
Und in der ganzen
Zeit tauchte der Ring an Kims Finger auf und verschwand wieder, wie
irgendein beliebiges Teil, das sie je nach Laune mal trug und mal
nicht.
Fast eine Stunde
lagen sie zusammen auf der Couch, Kims Rücken an Dannys Bauch
geschmiegt. Er rieb in kleinen Bögen über die Naht ihrer Jeans, ein
paar Zentimeter auf jeder Seite. Er wusste, dass sie nicht schlief
– er konnte ihren Atem spüren, ihr gelegentliches Schniefen. Aber
sie sprachen nicht.
Schließlich nahm Kim
seine Hand und hielt sie gegen ihre Brüste, mit so festem Griff,
dass klar war, dass sie nicht gestreichelt werden wollte. Aber auch
nicht unfreundlich.
Danny?, sagte sie –
ihre Stimme nach der langen Stille schreckte ihn auf. Was wird
jetzt mit uns?
Er schloss die Augen
– jetzt kam es. Ich weiß es nicht, sagte er.
Ich will keine
Kinder.
Ich auch nicht. Aber
ich hab’s versprochen.
Sie schwieg eine
Weile, und er konnte nicht an sich halten.
Ich will dich nicht
verlieren, Kimmy.
Nach einer langen
Pause sagte sie: Ich dich auch nicht.
Danny wurde fast
schwindlig vor Erleichterung.
Aber das hilft
nichts, fügte sie hinzu und drehte sich ein bisschen. Es wird nie
wieder so sein wie vorher. Ich liebe dich, aber doch, weil es eben
so war, wie es …
Ich weiß. Aber dafür
kann ich nichts.
Kim fragte: Willst du
mich als seine – seine Mutter? Ich meine -
Ich weiß es nicht,
sagte Danny. Wenn du mich gestern gefragt hättest, dann hätte ich
gesagt, dass es zwischen uns – dass ich mir ein bisschen Sorgen
mache -
Ja, sagte sie
rasch.
- aber dass ich es
eigentlich gern hinbekommen möchte. Und wenn es hinhaut, dann
-
Dann würde es früher
oder später eh auf das hier hinauslaufen, meinst du? Auf ein
Kind?
Vielleicht. Ich weiß
es nicht. Aber gestern hätte ich es als eine Möglichkeit
gesehen.
Sie drehte ihm das
Gesicht zu. Ihre Wangen waren nass. Ist es in Ordnung, wenn ich es
noch nicht weiß?
Natürlich, sagte er.
Ich liebe dich. Weißt du das? Ich liebe dich wirklich.
Was hätte er sonst
sagen sollen?
Sie drehte sich ganz
zu ihm um und küsste ihn. Oft ließ sie sein »Ich liebe dich«
unerwidert – aber wenn sie ihn dann so küsste wie jetzt, dann
wusste er, sie sagte es ihm auf ihre Art doch. Er küsste sie
zurück, drängte sich fester an ihren breiten, weichen
Körper.
Sein Mund öffnete
sich weiter, ihrer auch. Ein paar Minuten lang pressten sie sich
eng aneinander, tief in die Sofakissen gewühlt. Kims Küsse waren
immer so, gierig und nass; sie machten ihn verrückt. Sogar jetzt.
Danny spürte ein Kribbeln. Seine Hüften schoben sich leicht vor und
zurück, seine Hände wollten mehr von ihr, wollten hinuntergleiten
zu ihrem Gesäß. Wieder dieses kleine Züngeln des Chaos: Warum
nicht, warum denn verdammt noch mal nicht? Wen hier kümmerte es
noch?
Kim zog an seiner
Hand. Danny, sagte sie und setzte sich auf.
Er ächzte. Er kam
sich vor wie ein Sechzehnjähriger: beschwipst von zwei Bieren, nach
dem Schulball im Dunkeln beim Fummeln erwischt.
Kannst du mich nicht
einfach in den Arm nehmen?, fragte sie. Eine kleine Weile
nur?
Klar, sagte er. Kim
lag still neben ihm, und er starrte zur Decke hoch, während sein
Blut allmählich wieder dahin zurückfloss, wo es
hingehörte.
Nach einigen Minuten
hob und senkte sich ihre Schulter immer langsamer; die Atemzüge,
die ihm über die Wange strichen, wurden länger. Himmelherrgott.
Eingeschlafen. War das so viel besser,
als sich zu lieben? Sie drückte sich genauso wie er, und wenn sie
noch so tugendhaft tat.
Viel brauchte sie von
ihm ja nicht. Schon gar nicht den jetzigen
Schlamassel.
Er rückte etwas,
setzte sich auf, schob dann Kims Beine von seinen Oberschenkeln.
Sie murmelte. Ich muss aufs Klo, sagte er.
Beim Aufstehen
bemerkte er Toms zwischen die Polster gekrumpelten Brief. Er zog
ihn heraus und strich ihn über der Armlehne glatt. Hey, Tom, du
bist tot, und ich hab versucht, Kim in deinem Haus zu
bumsen.
Du bist ein echter Freund.
Dannys Haus jetzt.
Seine Couch. Sein Minivan in der Einfahrt.
Sein
Sohn.
Und wenn er doch
desertierte? Wenn er mit Walt zu dem Anwalt ging und ihm mitteilte,
dass er mit der Sache nichts zu tun haben wollte? Wenn er jetzt
gleich zu Kim ging und es ihr sagte?
Danny ging durch die
Küche ins hintere Bad. Er pinkelte und wusch sich die Hände. Sein
Gesicht im Spiegel war gedunsen, seine Augen blutunterlaufen, die
Nase rot und wund.
Auf dem Rückweg
machte er vor Colins Tür Halt. Er horchte nach dem Atem des Jungen.
Wie hatten Tom und Brynn dem armen kleinen Kerl das antun können?
Hier stand Danny und sann auf Mittel und Wege, sich aus dieser
Falle herauszulavieren, dachte an Papiere und Anwälte und ans
Bumsen, und all das, während Colin schlief und nicht ahnte, dass
seine ganze Welt in Trümmern lag.
Er drückte die Tür
auf.
Die Sterne an Colins
Decke schimmerten ihr fahles, phosphoreszierendes Grün. Danny
machte ein paar Schritte ins Zimmer. Er konnte sich nicht dazu
bringen, gleich zu Colin hinzugehen, also besah er sich stattdessen
die Regale, die an den Wänden aufgereihten Plastikkisten – alles
ordentlich aufgeräumt. Es war ein gutes Zimmer, ein guter Ort für
ein Kind: fröhlich, voller Spielzeug. Genau wie Dannys Kinderzimmer
früher. Er und Tom hatten als Jungen ganze Tage in seinem Zimmer
verbracht, mit diesen Tonnen von Star-Wars-Krempel, den sie beide zusammen hatten.
War er je glücklicher gewesen als in diesen Zeiten – wenn seine
Eltern irgendwo im Hintergrund verschwanden und es nur ihn und Tom
gab und den Unfug, den sie sich ausdachten?
Danny beugte sich
über Colin, der auf dem Rücken schlief, mit offenstehendem
Mund.
Der Junge sah seinem
Vater nicht sehr ähnlich. Er war schmaler im Gesicht, die Nase
länger – er würde immer mehr nach Brynn kommen, je älter er wurde.
Die Größe hatten sie beide ihm vererbt; er würde über einsachtzig
werden, meinte der Kinderarzt. Danny versuchte ihn sich groß
vorzustellen: mager, mit dichten kastanienbraunen Haaren wie Brynn,
nur kurzgeschnitten, an der Seite gescheitelt. Welche Augenfarbe
hatte er? Danny konnte sich nicht erinnern. Nicht braun, nicht wie
Brynn, nicht -
Nicht schwarz, voller
Blutergüsse.
Sie hatten Danny
Polaroidfotos zum Anschauen gegeben. Auf dem Weg ins
Leichenschauhaus hatte er sich darauf einzustellen versucht, die
Leichname selbst ansehen zu müssen, aber die Beamtin erklärte ihm,
dass man es heutzutage mit Fotos machte. Er wartete lange Zeit in
einem fensterlosen Kabuff. Der Polizist, der Danny benachrichtigt
hatte, fragte ihn, ob er einen Kaffee wolle, und als der Kaffee
dann kam, war er sogar ziemlich gut. Eine Sozialarbeiterin saß eine
Zeitlang bei ihm und nannte ihm Stellen, an die er sich wenden
konnte, gab ihm Broschüren und ihre Visitenkarte. Für den Fall,
dass er sich morgen danach fühlte, oder wann immer. Es ist jetzt ganz wichtig, dass Sie Leute um sich sammeln,
die Ihnen helfen. Gehen Sie die Sache im Team an. Die
Beamtin – sie schien kaum dem Teenageralter entwachsen, vom munter
wippenden Pferdeschwanz bis hin zu den verstreuten Pickeln auf
ihren Wangen – riet ihm, sich Zeit zu lassen. Im Gesicht seien Tom
und Brynn nicht schlimm verletzt, sagte sie, aber der Tod, gerade
durch Autounfälle, verändere das Aussehen. Im Fall seiner Freunde
habe der Aufprall Blutungen im Augenbereich verursacht. Die Augen
würden dunkler sein, als er sie in Erinnerung hatte. Darauf müsse
er gefasst sein.
Es stimmte. Die Leute
auf den Fotos sahen nicht aus wie Tom und Brynn. Doch. Doch, sie
sahen aus wie sie. Ihre Gesichter sahen aus wie graue Latex-Masken
von Tom und Brynn, die schlaff und hohl dalagen, ohne einen Kopf
dahinter, der ihnen Form gab. Die rechte hatte Toms Haare und Bart.
Die andere sah aus wie Brynn, nur dass ihre Züge schiefgezogen
waren, mit Schlagseite nach rechts. Er konnte ihre bloßen
Schlüsselbeine sehen und sagte sich, dass sie außerhalb der Fotos
nackt sein mussten, und das erschien ihm verkehrt, furchtbar
verkehrt.
Die Gesichter hatten
einen unterschiedlichen Ausdruck. Tom sah aus, als würde er einen
Witz erzählen. Sein Mund stand offen, und seine Lippe kräuselte
sich ein wenig und gab die Zähne frei. Seine schwarzen Augen waren
Schlitze, der Kopf lag eine Spur im Nacken. Brynn sah trauriger
aus. Toter, ihre Haut bläulicher. Blutsprenkel an Schulter und
Kinnlade deuteten auf etwas Entsetzliches weiter unten hin. Ihre
Haare standen wirr vom Kopf weg; sie hatte sie hochgesteckt gehabt,
als sie um fünf aus der Arbeit weggegangen war. Ihre Augen waren
nach oben gerollt, weiß an den unteren Rändern, schwarz an den
oberen, und ihr Mund stand noch etwas weiter offen. Als wäre sie
diejenige der beiden gewesen, die nach vorne geschaut und gesehen
hatte, was auf sie zukam. Als hätte sie es Tom sagen wollen, ihn
warnen, aber Tom hätte nicht zugehört.
Er sagte zu der
Beamtin: Ich habe genug gesehen.
Sie waren irgendwo
zum Essen gewesen. Wahrscheinlich ein bisschen spät dran. Sie
schienen immerfort heimzueilen, um da stehen zu können, wo Danny
jetzt stand: am Bett ihres schlafenden Kindes. Um mühelos das tun
zu können, wozu Danny nicht den Mut fand: sich hinabbeugen und
Colin auf die Stirn küssen, ihn zudecken, riskieren, dass er
aufwachte. Ihn lieben.
Liebte er
Colin?
Er liebte Tom. Brynn
hatte er liebgewonnen. Aber ihren Sohn? Sollte er nicht mehr
empfinden, als er empfand? Wenn er auch nur im Ansatz ein guter
Mensch war, müsste dann sein Herz nicht diesem armen Kind
zufliegen? Gestern noch hätte er gesagt, klar liebe ich Colin.
Natürlich. Er ist mein Patenkind.
Aber
heute?
Was, wenn vor ihm
plötzlich der Teufel stünde und einen Pakt vorschlug? Du kannst Tom
und Brynn zurückhaben. Nichts leichter als das. Gib mir einfach den
Jungen, und ich bringe sie zurück. Würde er einwilligen? Was war
Colin denn überhaupt? Er war drei, völlig ungeformt noch. Alle
liebten Kinder so über die Maßen – aber was war mit ihren Eltern?
Wo blieben die? Nur weil sie ein Kind hatten, galt ihr Leben
plötzlich weniger? All ihre Arbeit, all ihre Liebe und Mühe waren
dahin, und zurück blieb nichts als ein Kind, das den Verlust nicht
im Entferntesten ermessen konnte – war das ein gerechter
Tausch?
Er stellte sich Toms
Eltern vor, oder auch Walt, die Colin für sich fordern könnten.
Wenn sie jetzt hier wären, wenn sie anbieten würden, ihm die Last
abzunehmen, würde Danny kämpfen? Wäre er in der Lage dazu? Sein
erster Impuls würde sein, zu zerfließen vor Erleichterung. Kim bei
der Hand zu nehmen und das Weite zu suchen.
Er dachte an Colins
Art, sich an seine Hand zu hängen – manchmal, um ihn irgendwo
hinzuzerren, ihm Spielsachen zu zeigen. Aber manchmal griff er auch
einfach nur nach Dannys Hand und hielt sie, als wäre es das
Natürlichste von der Welt.
Wer hatte sich in
letzter Zeit mehr darüber gefreut, ihn zu sehen? Colin oder
Kim?
Danny ließ sich
schwerfällig auf dem Boden neben Colins Bett nieder. Er war der
schlechteste Mensch, der herumlief. Er liebte den Jungen doch.
Wirklich. Vielleicht nicht so, wie seine Eltern ihn liebten – aber
das war nicht Colins Schuld. Nichts von alledem war Colins Schuld.
Danny wünschte, er könnte sich bei jemandem entschuldigen, der ihn
verstand.
Er versuchte es sich
auszumalen. Seine Stimme zu hören, die sagte: Ich hab dich lieb, Colin.
Neuerdings hatte er
angefangen, Colin auf seiner Gitarre herumspielen zu lassen. Seine
Finger waren zu klein, um viel auszurichten, aber Danny brachte
seine Martin mit und zeigte Colin, wie er sie halten musste, zeigte
ihm, dass verschiedene Saiten verschiedene Töne machten. Danny
drückte die Saiten herunter, und Colin zupfte aufs Geratewohl mit
dem Plektrum daran herum und guckte nach jedem geglückten Ton
hingerissen zu Danny hoch. Er wurde jetzt schon immer ganz
aufgeregt, wenn er nur den Gitarrenkasten sah. Manchmal zupfte
Danny die Saiten, und Colin krähte dazu das ABC-Lied – das bei ihm,
so klein wie er war, zu einem ziemlichen Kuddelmuddel geriet, aber
immerhin.
Manchmal setzte Danny
Colin auf seine Schultern und schnaufte, mit den Armen pumpend, im
Garten herum wie eine Lok, und wenn die Lok pfeifen sollte, zog
Colin an Dannys Pferdeschwanz, unter spitzen Begeisterungsschreien,
ganz selig in seiner Höhe.
Aber das waren nur
die guten Zeiten, an die Danny dachte. Die Spiele.
Es kam immer noch
vor, dass Colin auf den Boden pinkelte. Er musste gebadet werden.
Und auch das Spielen – das nahm Stunden und nochmals Stunden in
Anspruch; man konnte den armen Kerl schließlich nicht vor dem
Fernseher parken und sein Gehirn vergammeln lassen. Ganz zu
schweigen von dem unbedeutenden Faktor Persönlichkeit und
Erziehung, all den positiven Gefühlen und Gedanken, dem Karma, das
Tom und Brynn durch ihre bloße Anwesenheit auf ihn übertragen
hatten. Dem Selbstvertrauen.
Jetzt würde es jeden
Augenblick so weit sein, dass Colin aufwachte und fragte, wo seine
Mutter war. Und nach einer langen, verplemperten Nacht wusste Danny
darauf nach wie vor keine Antwort, oder?
Gut, so schwierig war
die Frage auch wieder nicht. Es gab nur eine Antwort. Danny würde
sagen: Deine Mama und dein Papa schlafen, aber
sie wachen nicht wieder auf. Andere würden ihm sagen:
Deine Mama und dein Papa sind im
Himmel, und er würde Colin erklären, dass das letztlich
alles das Gleiche bedeutete. Deine Mama und
dein Papa sind nicht mehr da. Es würde grauenhaft sein.
Colin würde weinen; sie würden alle weinen. Kein Weg führte daran
vorbei.
Nein, die Fragen,
über die er in Wirklichkeit nachdenken musste, waren die Fragen,
die später auf ihn zukämen, wenn Colin älter war, wenn es viel mehr
ins Gewicht fiel, ob Danny log oder die Wahrheit
sagte.
Danny sah sich an
einem Tisch in einer kleinen dunklen Küche sitzen, irgendwann in
der Zukunft. Colin saß ihm gegenüber – ein Teenager vielleicht,
oder sogar schon ein junger Mann. Colin war groß, gutaussehend –
mit strubbeligem rotem Haar, Brynns schmalem Gesicht. Toms Brille,
möglicherweise. Einem schwarzen T-Shirt.
Danny hätte nicht
sagen können, wo sie waren – nicht in diesem Haus jedenfalls. Eher
in einer Wohnung. Ärmlicher irgendwie, schäbiger. Einer Wohnung wie
die von Kim, nur dass Kim nirgends zu sehen war. Und warum sollte
sie? So viel konnte man nicht erhoffen, so viel konnte man nicht
verlangen, weder von ihr noch von sonst einem
Menschen.
Es schien genau die
Sorte Wohnung, in der Leute wohnten, die sich stritten. Wie denn
auch nicht – er und Colin hatten beide zu viel verloren, um immerzu
glücklich und zufrieden zu sein.
Aber sie stritten
nicht, jetzt nicht. Sie hatten jeder eine Bierdose in der Hand, und
Colin rauchte -’tschuldige, Brynnie, weiß auch nicht, wo er das
herhat. Aber solange es weiter nichts ist …
Wie waren sie?, fragte Colin ihn. Er hatte Toms
Stimme: volltönend, vertrauenerweckend.
Danny hörte sich
antworten: Sie haben sich geliebt. Sie haben
dich geliebt. Sogar mich haben sie geliebt.
Dann waren sie gute Menschen?
Er sah sich über den
Tisch langen und seine Hand auf Colins Hand legen. In das Gesicht
des Jungen kam ein abwehrender Ausdruck. Bekümmert.
Ängstlich.
Sie waren die besten Menschen, die ich jemals gekannt
habe, sagte Danny. Und du trägst von
beiden eine Hälfte in dir.
Er musste eingenickt
sein. Kims Hand auf seiner Schulter ließ ihn hochschrecken. Er sah
zum Bett hin, wo Colin lag, immer noch schlafend. Kim kauerte sich
neben ihn auf den Bettvorleger.
Was machst du?,
flüsterte sie.
Ich wollte nicht,
dass er alleine aufwacht. Im Moment, in dem er es sagte, wurde ihm
klar, dass es die Wahrheit war.
Sie schmiegte sich
enger an ihn.
Ich bin alleine
aufgewacht, sagte sie.
Es musste ihr bewusst
sein, wie das klang.
Kim -
Nein, schon gut. Sie
flüsterte es dicht an seinem Ohr. Das war … ein Witz. Tut mir leid.
Ich weiß nicht, was ich tun soll.
Ich auch nicht, sagte
er. Mir kann’s fürs Erste wahrscheinlich niemand so leicht recht
machen.
Er konnte ihre Augen
kaum sehen in dem Halbdunkel, aber er wusste, dass sie ihn ansah.
Sie wisperte: Darf ich hier mit dir sitzen?
Danny knetete ihre
Schulter.
Ja, sagte er.
Klar.
Sie rutschte noch ein
Stück näher. Wieder dachte er voller Panik an all die Dinge, die
erledigt sein wollten. Einer von ihnen musste eigentlich sofort zum
Coffeeshop rüberlaufen und ein Schild an die Tür hängen. Die
Frühschicht konnte jeden Augenblick anrücken.
Aber Kim legte sich
hin und bettete ihre Wange auf Dannys Bein und zog seinen Unterarm
über ihre Brust. Sie küsste seine Hand und nestelte seine
zusammengebogenen Finger unter ihrem Kinn zurecht. Er rieb über
ihre Finger. Er berührte ihren Ring.
Er behielt Colin im
Blick, der still dalag, ruhig – nicht ahnend, dass im Moment, wo er
die Augen aufschlug, die Welt untergehen würde. Danny langte
hinüber, legte die freie Hand auf Colins Kopfkissen, nah an sein
Haar, und lauschte auf ihre Atemzüge in der Stille des
Zimmers.
Der Laden konnte
warten. Alles konnte warten, diese paar Minuten noch. Wenn das alle
Zeit war, die ihnen blieb, ihnen dreien, dann wollte Danny sie um
keinen Preis anders verbringen.