VII.
Die dritte Nacht will
nicht enden.
Brad zündet eine der
Kerzen an, die er zwischen den Stäben des Grillrosts festgeklemmt
hat. Er und Mel ziehen die Steppdecke vom Tisch und breiten sie
sich über die Köpfe, die Flamme zwischen ihnen. Brad reibt und
reibt Mels Füße, aber sie sagt, sie spürt sie nicht
mehr.
Das ist alles, was
sie zu ihm sagt, alles, wonach er sie noch fragen mag.
Er lässt die Kerze
brennen, bis sich die Luft zwischen ihnen erwärmt hat. Dann drückt
er sie aus und rückt dicht an Mel heran und rubbelt alles, was er
von ihr zu fassen bekommt, bis die Kälte unerträglich wird und er
die Kerze wieder anzündet. Sie brennt langsam, aber sie wird
trotzdem sichtbar kürzer.
Sie können nur noch
eines versuchen, das weiß er. Er hat sich das Hirn zermartert, wie
er es Mel sagen soll, wie er es ihr beibringen soll, ohne dass sie
in Panik gerät, aber vergebens. Ihm bleibt keine Wahl.
Mel.
Ihr Ja? ist das erste
Wort seit Stunden, das über ihre Lippen kommt.
Hör zu, sagt er. Wenn
es hell wird, gehe ich Hilfe holen.
Er kann hören, wie
ihr Atem stockt. Ihre Füße zucken kaum merklich in seinen
Händen.
Nein, sagt
sie.
Wir haben keine
andere Wahl.
Du darfst nicht gehen.
Ich muss gehen. Ich
hätte schon gestern gehen sollen. Noch einen Tag stehen wir nicht
durch.
Ich komme mit, sagt
sie.
Ihm ist zum Weinen.
Mel, sagt er, das schaffst du doch nicht.
Sie schauen beide auf
Mels Füße in seinem Schoß.
Du könntest mich
tragen, sagt sie. Huckepack.
Er hat es erwogen. Er
sagt: Ich würd’s ja machen. Aber es ist zu weit. So stark bin ich
nicht. Und hier hast du’s wärmer, mit den Kerzen.
Brad, flüstert sie.
Bitte. Lass mich nicht allein.
Es ist doch nur für
ein paar Stunden. Allerhöchstens ein Tag.
Das ist zu
lang. Sie drängt sich an ihn.
Bitte. Ich möchte lieber sterben, wenn
du bei mir bist.
Er kann ihr nicht
eingestehen, dass er genau das fürchtet.
Überleg doch, sagt
sie. Ihre kalten Hände schlingen sich angstvoll um seinen
Brustkasten, seinen Hals. Angenommen, du kommst durch. Wir werden
verhaftet. Du musst zurück ins
Gefängnis.
Natürlich, sie hat
daran gedacht.
Wie er ja auch. Aber
gleichzeitig hat er, immer wieder in der letzten Stunde, an die
Wohnung in Chicago gedacht – Mels und seine Wohnung, in der sie
eines Tages leben werden. An die warmen Sommernachmittage. Und er
hat gedacht, wenn Mel da ist – wenn Mel auf ihn wartet, in solch
einer Wohnung -, dann steht er die Zeit durch.
Er stellt sich seinen
ersten Tag in Freiheit vor: wie sie Essen beim Chinesen holen,
schön scharfes, und sich dann lieben, wie sie sich noch nie geliebt
haben.
Ja, sagt er. Ich
weiß. Aber das steh ich durch.
Sie fängt zu wimmern
an, das Gesicht an seine Brust gepresst.
Mel, sagt er und
streichelt ihr Haar. Ich hab uns da reingeritten. Das hier war
meine Idee. Wenn ich nicht versuche, es wieder hinzubiegen
-
- dann werde ich meines Lebens nicht mehr froh, will
er eigentlich sagen. Aber er verbeißt es sich.
Sie antwortet
nicht.
Du weißt, dass es
keine Alternative gibt, sagt er. Gleich morgen früh geh
ich.
Später holt Brad
einen der Stühle unter die Decke und stellt die brennende Kerze
darunter. Er hat zu lange ohne Schlaf auskommen müssen; die
Kerzenflamme verschwimmt zu waagrechtem gelbem Gestrichel. Er nickt
ein, während Mel noch um seinen Hals hängt.
Irgendwann merkt er,
dass sie wieder weint. Draußen heult unverändert der Wind. Mels
kalte Hände liegen um sein Kinn. Seine Füße sind jetzt auch
taub.
Brad, flüstert Mel.
Wir schaffen das nie bis zum Morgen.
Klar schaffen wir’s,
sagt er.
Sie legt den Mund an
sein Ohr. Du musst mir etwas versprechen, sagt sie.
Was?
Wenn ich es nicht
schaffe, und du schon – dann geh einfach. Lass mich
hier.
Mel -
Das ist mein Ernst,
sagt sie. Ich will nicht, dass du ins Gefängnis musst. Nicht wegen
dieser Geschichte. Und ich will nicht, dass du dir Vorwürfe machst.
Du kannst nichts dafür. Ja?
Ihre Augen sind zwei
schwarze Löcher direkt vor seinem Gesicht.
Versprich’s mir, sagt
sie. Wenn du mir helfen willst, versprich es.
Ich verspreche es,
sagt er.
Sie küsst ihn. Sie
zittert am ganzen Körper und ist kalt, überall kalt.
Ich liebe dich, sagt
sie. Mach, dass mir warm wird.
Es ist schwierig,
aber sie kriegen es hin. Die Decke um ihre Leiber füllt sich mit
Hitze auf. Brads Lippen sind trocken und rissig, aber zwischen
ihnen beiden meint er – es ist so plastisch, dass er es beinahe
sehen kann – ein Glühen zu spüren wie von der warmen roten Spirale
einer Heizsonne.
Mel sagt: Sag mir,
dass du mich liebst.
Und er sagt es ihr,
wieder und wieder.
Am Schluss will er
sich aus ihr herausziehen, aber sie sagt: Nein, nicht. Er spürt
Panik und Freude zugleich, und ein Flattern im Magen – nicht nur,
als er kommt, sondern noch darüber hinaus – ein Gefühl, wie er es
vom Schwimmen her kennt, vom ersten Schritt ins Tiefe: die Angst
unterzugehen, und als Nächstes der Friede, wenn er losgelassen hat
und das Wasser ihn trägt.
Mel fährt ihm mit den
Händen den Rücken hinab und seufzt. Du bist so warm.
Hinterher nimmt sie
die Kerze und stattet dem Eimer einen Besuch ab. Er kann die Augen
nicht offenhalten. Sie bleibt eine Ewigkeit weg, und er will schon
fast nach ihr rufen, als sie hastig zurückgetrappelt kommt. Sie
schlottert und bebt, und als sie unter die Steppdecke kriecht,
reibt er ihren Körper und fühlt sich selbst kalt und schwer
dabei.
Halt mich ganz fest,
sagt sie.
Später denkt er, sie
muss einen Traum haben. Ihre Hände rudern über der Decke durch die
Luft, und sie keucht.
Pscht, sagt er und
fängt ihre Hand ein.
Sie murmelt etwas,
das wie sein Name klingt, und schaudert und drängt sich an
ihn.
Pscht, sagt er. Ist
ja gut.
Als er das nächste
Mal aufwacht, ist es still in der Hütte. Der Wind faucht, aber
nicht so heftig wie zuvor. Brad starrt lange Zeit auf die
Steppdecke nur ein paar Zentimeter vor seinem Gesicht, auf das
Huschen des Kerzenscheins auf dem Stoff, und versucht zu begreifen,
wo er ist. Er hebt die Steppdecke an – in der Hütte ist es dunkel;
es ist immer noch dieselbe Nacht. Aber es hängt ein furchtbarer
Gestank in der Luft, zusätzlich zu dem beißenden Schimmelgeruch der
Decke.
Er fragt sich, wann
Mel endlich vom Klo zurückkommt, weil er so friert, und dann
versteht er, dass sie gar nicht weg war, dass sie in seinen Armen
liegt, kalt wie nie.
Seine Hand bekommt
die Kerze zu fassen und hält sie in Mels Nähe. Mel liegt von ihm
weggewendet. Er sagt ihren Namen, packt sie an der Schulter,
schüttelt sie. Er dreht ihren Kopf zu sich her. Ihr Gesicht ist
grau, die Augen nur mehr weiße Schlitze. Galle rinnt ihr aus dem
Mund.
Die Zeit kommt ihm
für eine Weile abhanden
Erst redet er noch
mit ihr, so als könnte es sein, dass sie doch noch da ist, irgendwo
dort drin.
Er sagt ihr, dass er
sie liebt. Er sagt ihr, dass er tot sein möchte.
Er fragt: Was
soll dieser Scheiß?
Das fragt er, als er
versucht, ihr das Gesicht sauberzuwischen, als er sie auf seinen
Schoß zieht und das leere Tablettenfläschchen unter ihr
hervorrollt. Als er begreift, dass es nicht nur die Kälte
war.
Er sagt ihr, dass sie
verrückt ist, dass er sie hasst. Dass er sich fragt, wie er sich je
in so eine übergeschnappte, egoistische Schlampe wie sie verlieben
konnte.
Er sagt ihr, er weiß
schon, was sie jetzt von ihm will, aber er denkt gar nicht daran,
es zu tun. Er sagt ihr, dass er verdammt nochmal trotzdem sterben
wird.
Nicht lange danach
brennt die Kerze zu einem winzigen Fünkchen herab und verglimmt
dann zu nichts.
Die andere zünd ich
nicht mehr an, sagt er ihr. Aber nach einer Weile wird die
Dunkelheit zu viel für ihn, die Kälte wird zu viel für ihn, und er
tut es doch.
Er kriecht fast
hinein in die kleine Flamme, hält die Hände darüber, bis sie sich
mit Schmerz füllen.
Einmal könnte er
schwören, dass Mel sich enger an ihn schmiegt und dass ihre Haut
warm ist. Er reibt ihr die Füße und küsst sie und sagt ihr, dass es
ihm leid tut, dass er sie heiraten will und mit ihr in einem Haus
auf Stelzen wohnen, direkt am Meer.
Dann wird er mit
einem Ruck wach. Die Kerze ist zu einem Drittel heruntergebrannt.
Er kann Mels Scheitel ausmachen, die weiße Rundung ihrer Stirn. Er
berührt ihr Haar, zieht die Hand zurück.
Er kann sie
sehen. Diese Helle, das ist mehr als
nur Kerzenschein.
Langsam, steif rafft
er die Zudecke um die Schultern und schlägt die Steppdecke zurück.
Das Zimmer ist so hell, dass es ihm in den Augen weh tut – durch
die Fenster sieht er, blinzelnd, blauen Himmel. Und die Luft fühlt
sich anders an – wärmer, ganz bestimmt. Seine Füße machen nicht
recht mit, aber er schleppt sich hinüber, öffnet die Tür, um nach
der Temperatur zu schauen, und richtig: es sind nur noch minus vier
Grad. Die Sonne glitzert auf dem flachen Schneefeld, das einmal der
See war.
Ein Sonnenstreifen
wandert langsam über die Dielenbretter. Er zerrt die Matratze bis
zu ihm hin, hockt in der Wärme neben Mel. Als er die Strahlen auf
seinem Nacken spürt, jammert er laut.
Ich hab’s dir doch
gesagt, jammert er. Du hast gekniffen, verdammt!
Er sollte sich auf
den Weg machen, er weiß es. Aber die Sonne scheint so warm, dass er
nicht denken kann, dass er kaum fähig ist, sich zu
rühren.
Später – nur ein paar
Stunden, scheint ihm, aber sicher ist er sich nicht – hört Brad ein
Geräusch: einen Motor, kaum zu glauben, einen starken Motor. Er
geht hinüber zur Rückwand der Hütte und späht hinaus.
Draußen auf der
Straße rumpelt ein roter Pick-up mit Schneeräumer vorbei und
schleudert eine weiße Fontäne in die Luft. Oder ist das eine
Halluzination?
Siehst du?, sagt er
zu Mel. Siehst du das?
Du verdammter
Feigling, sagt er. Zu wem, weiß er nicht.
Brad zieht so viele
Kleidungsstücke übereinander an, wie er nur kann. Er durchsucht
Mels Handtasche und nimmt ihr Bargeld an sich: siebenundachtzig
Dollar sind es mit seinem zusammen. Er steckt ihre Zigaretten
ein.
Er öffnet die letzte
Dose Thunfisch mit seinem Taschenmesser und isst ihn mit den
Fingern, auch wenn die Brocken aneinander festgefroren sind und
sich ihm in der Kehle querstellen.
Als er schon an der
Tür steht, dreht er sich noch einmal um und schaut zurück zu Mel.
Und der Anblick ihres blassen Gesichts ist mehr, als er ertragen
kann – es ist, als wäre sie wach, als würde er jemanden im Stich
lassen, der noch lebt.
Also wickelt er sie
in die Steppdecke ein. Es ist mühsamer, als er sich vorgestellt
hat. Sie ist steif geworden, und sie ist schwer – mit einem
beschämenden Aufwallen der Erleichterung sagt er sich, dass er sie
nie und nimmer hätte tragen können. Als er fertig ist, lässt er sie
so sanft wie nur möglich auf die Matratze zurückgleiten, und dann
sitzt er da, die Hand auf sie gelegt, bis es sich anfühlt, als ob
die Kälte ihres Körpers in Wellen durch das kratzige Nylon
emporsteigt. Als ob Mel ihn wegstoßen will.
Er überlegt, ihren
Personalausweis dazulassen, neben ihr auf der Matratze – aber das
bringt er nicht über sich.
Scheiß auf sie,
Scheiß auf ihre ganzen Schwachsinnsideen. Er besorgt jetzt Benzin,
und dann kommt er zurück und holt sie.
Er drückt sein Kinn
in den Pullover und geht hinaus.