22. Kapitel

Das Klingeln des Telefons weckte Annalise aus dem Tiefschlaf. Im ersten Moment machte sie keine Anstalten, sich zu melden. Sie und Tyler waren übereingekommen, dass sie den Anrufbeantworter drangehen lassen sollte, wenn er nicht zu Hause war. Als es erneut klingelte, begriff sie, dass das Geräusch nicht von dem Telefon, sondern von ihrem Handy stammte. In der Dunkelheit des Schlafzimmers tastete sie nach dem Schalter der Nachttischlampe. Endlich fand sie ihn, griff nach ihrem Handy und warf gleichzeitig einen Blick auf den Wecker.

Dreiundzwanzig Uhr. Sie hatte erst eine halbe Stunde geschlafen, allerdings sehr fest. Auf dem Display erkannte sie die Telefonnummer ihres Vaters.

»Charlie, so spät solltest du nicht mehr anrufen«, sagte sie statt einer Begrüßung, in der Annahme, mit ihrem Bruder zu sprechen.

»Du sprichst nicht mit Charlie.«

»Dad! Was ist passiert? Warum rufst du mich um diese Zeit an?« Sie richtete sich auf und schüttelte den Kopf, um die Schlaftrunkenheit zu verscheuchen.

»Wahrscheinlich ist gar nichts passiert, und ich belästige dich auch nur ungern, nach allem, was du durchmachst.«

»Was ist los, Dad?« Sie hörte Besorgnis in der Stimme ihres Vaters und presste das Handy dichter ans Ohr.

»Charlie ist verschwunden. Anscheinend ist er weggelaufen. Heute Abend ist er zu spät von einem Freund zurückgekommen, und wir hatten eine Auseinandersetzung. Ich habe ihn für die nächsten drei Tage zu Hausarrest verdonnert, und daraufhin hat er sich in sein Zimmer verzogen. Vor ein paar Minuten wollte Sherri nach ihm sehen, aber er ist mitsamt seinem Rucksack verschwunden. Der kleine Dummkopf ist aus dem Fenster geklettert. Ich dachte, er könnte vielleicht bei dir sein.«

»Dad, ich bin zurzeit nicht in meiner Wohnung.« Sie schwang die Beine über die Bettkante und stand auf.

»Oh, entschuldige. Das wusste ich nicht. Dann ist er wahrscheinlich bei einem Freund. Ich werde seine Freunde jetzt reihum anrufen. Irgendwo erwische ich ihn schon.«

»Dad, Moment noch. Ich habe Charlie meinen Wohnungsschlüssel gegeben.« Ihre Gedanken überschlugen sich, und die Schläfrigkeit fiel von ihr ab. »Kann sein, dass er sich in meiner Wohnung aufhält, obwohl ich nicht zu Hause bin. Hör zu, ich fahre jetzt ins Loft und schaue nach.«

»Gut, wir treffen uns dann dort.«

»Nein, du und Sherri, ihr bleibt zu Hause, für den Fall, dass er zurückkommt. Wenn es so ist, könnt ihr mich auf meinem Handy anrufen und Bescheid geben.«

»Und es macht dir wirklich nichts aus?«

»Kein Problem«, antwortete sie und nahm ihre Kleider von dem Stuhl, auf dem sie sie vor dem Schlafengehen deponiert hatte.

»Der Junge bekommt Hausarrest bis zu seinem einundzwanzigsten Lebensjahr, das schwöre ich dir«, schimpfte Frank.

Annalise lachte. »Sei nicht zu hart zu ihm. Er ist noch ein Kind. Ich rufe dich an, wenn ich in meiner Wohnung bin.«

Sie zog sich an, holte ihre Handtasche und die Autoschlüssel und rief Tyler auf seinem Handy an. Der Anruf wurde direkt auf die Mailbox umgeleitet. »Tyler, ich bin’s. Charlie ist verschwunden, und ich fahre zu meiner Wohnung und sehe nach, ob er dort ist. Es ist jetzt Viertel nach elf. Bis du heimkommst, liege ich vermutlich längst wieder im Bett und schlafe.«

Minuten später saß sie im Wagen und fuhr in Richtung Blakely Dollhouse. In den letzten Tagen war es mehrere Male vorgekommen, dass sie Tyler angerufen und nur die Mailbox erreicht hatte. Gewöhnlich hieß das, dass er in einer Konferenz saß oder aber, dass etwas Schlimmes passiert war.

Himmel, sie konnte nur hoffen, dass es kein weiteres Opfer gegeben hatte. Alle schienen mit angehaltenem Atem auf den Fund einer weiteren »Puppe« zu warten und verzweifelt zu hoffen, dass es nicht dazu kam. Sie wusste, dass dies einer der wenigen Umstände wäre, die Tyler zwangen, sein Handy auf die Mailbox zu schalten.

Sie kurbelte das Seitenfenster herab und ließ die kühle Nachtluft ins Wageninnere. Die Nacht war wunderschön. Der Himmel war klar, die Sterne standen so tief, dass sie glaubte, nur die Hand ausstrecken zu müssen, um einen von ihnen greifen zu können.

Es tut mir leid, dass du niemanden hattest, der dich in deinen Träumen bestätigt und gefördert hat. Sie dachte an Tylers Worte und umfasste das Lenkrad ein wenig fester.

Nein, sie hatte niemanden gehabt, der sie in ihren Träumen bestätigte, der sie ermutigte, ihren eigenen Weg zu gehen. Sie hatte zugelassen, dass Lillian jeden Aspekt ihres Lebens kontrollierte, jeden Weg plante, den sie einschlagen wollte. Selbst über den Tod hinaus hatte Lillian sie fest im Griff.

Als Lillian starb, hätte Annalise das Unternehmen verkaufen und auf die Weiterführung des Geschäfts verzichten können. Doch das war ihr nie in den Sinn gekommen, weil sie wusste, dass ihre Mutter ihr ein solches Vorgehen nie verziehen hätte.

Jetzt überlegte sie, wie ihr Leben ohne das Puppengeschäft aussehen würde, und zu ihrer Überraschung hatte die Vorstellung nichts Beängstigendes. Vielmehr erfüllte sie sie mit einer Begeisterung, wie sie sie für das Geschäft selbst nie aufgebracht hatte.

Vielleicht verhalf Tylers Unterstützung ihr zu der Erkenntnis, dass es Zeit war, loszulassen. Das Geschäft, das ihre Mutter mehr als alles andere auf der Welt geliebt hatte, war für Annalise nichts weiter als eine Schlinge um den Hals, die sich langsam zuzog und sie erstickte.

Sie würde diese letzte Puppe noch fertigstellen und ihrer Belegschaft viel Zeit einräumen, neue Stellen zu finden. Sie würde ihnen allen eine attraktive Abfindung bieten, und dann würde sie das Geschäft verkaufen, das Geld nehmen und frei sein.

Sie würde Kurse in Modedesign belegen, sich auf ihre Zeichenmappe konzentrieren und die Mode entwerfen, von der sie immer geträumt hatte. Es war Zeit, ihren eigenen Traum in Angriff zu nehmen. »Ich hole mir mein Leben zurück, Mutter«, sagte sie laut.


»Ich habe dir doch gesagt, dass sie mir gehören wird, Mutter«, hauchte er im Flüsterton, als er zusah, wie der Junge die Ladentür aufschloss und im Hausinneren verschwand.

Seine Stirn legte sich in Falten, als er seitlich von dem Gebäude einen Schatten bemerkte. Max. Der obdachlose alte Idiot störte ihn nicht. Nicht mehr lange, dann würde er wieder unter seinem Baum liegen, sturzbetrunken und jenseits von Gut und Böse. Und falls er mit jemandem sprach, würde ihm ohnehin kein Mensch glauben. Kein Mensch würde sich auch nur eine Sekunde lang das Geschwafel eines wahrnehmungsgestörten Trinkers anhören.

Ein Schauder der Erregung lief über seinen Rücken. Seit drei Tagen wartete er nun schon auf sie. Die Reporter und Nachrichtenleute waren am zweiten Tag abgezogen, und seitdem hatte niemand mehr das Haus betreten oder verlassen.

Er hatte das Fenster oberhalb der Feuerleiter eingeschlagen und entriegelt und sich so für jede Zeit einen Weg ins Haus sichern können.

Jetzt war der Junge hier, und er würde Annalise zurückholen. Und wenn sie kam, würde er sie bereits erwarten. In dieser Nacht noch sollte sie ihm gehören.

Angst sei dein Begleiter: Thriller
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