Kapitel 53

 

Anna verschwand mit ihren Artgenossen und ließ meine Kollegen, Jake und mich im ersten Grau des Morgens zurück.

Die Auseinandersetzung mit Jake würde ich mir bis zum Schluss aufheben. Er war so ruhig. Vielleicht war er ja irgendwie betäubt worden.

Rachel zog mich an sich und klopfte mir derb auf die Schulter. »Du hast es geschafft.«

Gina weinte so herzzerreißend, dass sie nicht sprechen konnte. Ihre Umarmung sagte alles.

Blieb noch Meaty. Die Stationsschwester drückte mich ganz fest, packte mich dann an den Schultern und sah mich durchdringend an. »Schau nicht zurück, Edie. Geh einfach.«

Als das alles erledigt war, stand Jake endlich auf. »Fährst du mich nach Hause, Sissy?«

»Klar doch.« Ich streckte meine Hand aus, und er ergriff sie.

Zum Glück konnte ich mich auf dem Weg zu Drens Wagen noch zusammenreißen, sonst wäre ich wahrscheinlich durchgedreht. Als wir an einer Laterne vorbeikamen, meldeten sich die Schatten aus einem dunklen Fleck am Boden, der aussah wie eine schwarze Narbe.

»Sollen wir ihn für dich reparieren?«

Ich warf Jake einen schnellen Blick zu. Er wirkte völlig verwirrt. Dann schüttelte ich den Kopf. »Nein, wir müssen uns noch unterhalten.«

»Wie du willst. Es wird ihm sowieso niemand glauben.«

Die Schatten wurden wieder zu einem stinknormalen Schatten, während ich das Auto aufschloss.

Drens Wagen war schicker als meiner. Frustriert überlegte ich, ob ich ihn wohl behalten durfte. Eine Zeit lang fuhren Jake und ich schweigend dahin. Fast hoffte ich, dass er zuerst etwas sagen würde, denn ich hatte verdammt noch mal keine Ahnung, wie man so ein Gespräch anfing.

»Jake …«

»Hier abbiegen.« Er zeigte auf die Ausfahrt vor uns.

»Aber das ist nicht …«

Dann sah ich seine Hand. Es war nicht mehr Jakes. Keuchend schaute ich ihn an und begriff, dass er sich gerade vor meinen Augen in Asher verwandelte.

»Das ist der Weg zu meinem Haus. Ich habe kein Geld für ein Taxi dabei, außerdem bezweifle ich stark, dass wir in dieser Gegend ein Taxi finden würden«, erklärte Asher mit seinem britischen Akzent.

Ruckartig lenkte ich den Wagen in die Ausfahrt. Auf der Gegenfahrbahn schossen mehrere Krankenwagen an uns vorbei. Die Schatten hatten noch einiges zu richten, bevor die Sonne aufging. »Du … du … du hast ihn also doch angefasst!«

Asher zuckte mit den Schultern, als wäre diese Feststellung überflüssig. »Das war das geringste Problem. Ihn davon zu überzeugen, dass du ohne ihn besser dran bist, war schwieriger. Aber tief in seinem Innersten liebt dich dein Bruder so sehr, dass er aus der Stadt verschwunden ist. Okay, die vierhundert Dollar haben wahrscheinlich auch nicht geschadet.«

Wütend schlug ich auf das Lenkrad.

»Was denn?«, rief Asher. »Er ist in Sicherheit!«

»Das ist es nicht, verdammt …« Ich sank in mich zusammen. Trotz der vier Fläschchen Pfotenwasser am Tag war ich froh, dass die Schatten bis jetzt dafür gesorgt hatten, dass er clean blieb. Aber woher sollte ich wissen, ob sie das auch weiterhin tun würden, jetzt, wo ich eine Geächtete war? Und ich zweifelte nicht daran, dass er irgendwelche härteren Sachen auftun und verkaufen würde, nachdem seine Luna-Lobos-Quelle versiegt war. Er würde schließlich niemals erfahren, dass die angebliche Heilwirkung ein reiner Placeboeffekt gewesen war, der nur in seinem Kopf existiert hatte.

Ich folgte Ashers Anweisungen und fuhr ihn schweigend zu seinem Haus. Dort bog ich immer noch wortlos in die Auffahrt ein.

Asher drehte sich zu mir um. »Egal, was mit deinem Bruder geschieht – sie hat recht. So ist es sicherer.«

»Natürlich.« Ich starrte mit leerem Blick auf das Lenkrad. Nach dieser Nacht ließ sich das nicht leugnen. Seit meiner schweren Verletzung hatte ich ständig kämpfen müssen, um irgendwie durchzukommen. Der reinste Wahnsinn.

»Edie … diese Ächtung … das betrifft nicht nur Vampire, sondern auch Gestaltwandler.«

Irgendwie hatte ich mir das schon gedacht, wollte es mir aber nicht eingestehen. Jetzt nickte ich, ohne ihn anzusehen.

»Edie …«

Ohne ihn anzusehen streckte ich Asher zum Abschied die Hand aus. Ausdruckslos musterte er sie. »Ist das dein Ernst? Nur ein Händedruck?«

Im Halbdunkel drehte ich mich endlich zu ihm um. »Nein.«

Dann breitete er die Arme aus, und ich ließ mich hineinsinken. Mein Kuss war hart und fordernd, und er reagierte entsprechend. Alles, was ich verbockt hatte, schob ich in diesem Moment weit von mir weg, ich konzentrierte mich ganz auf das Hier und Jetzt, denn falls ich an irgendetwas anderes dachte, würde ich nur anfangen zu heulen.

Dann lösten sich seine Lippen von meinen. Er lehnte sich zurück und studierte mein Gesicht, als hätte er Angst es zu vergessen – was bei ihm völlig unmöglich war, wie ich ja wusste. Er sagte nichts mehr, wandte sich einfach ab, öffnete die Tür und ging davon. Er schaute nicht zurück. Das wurde mir schmerzlich bewusst, da ich ihn nicht aus den Augen ließ und hoffte, er würde es tun.

Schließlich ließ ich den Motor an und fuhr rückwärts aus der Auffahrt.

Als ich zu Hause ankam, war es schon fast hell. Ich stellte den Wagen in die erste freie Lücke, die ich finden konnte, und ging zur Tür. Lautlos löste sich eine Gestalt aus den Schatten und schloss zu mir auf.

»Ich will meine Schlüssel«, befahl Dren.

»Solltest du mich jetzt nicht eigentlich ächten?« Meine Schritte knirschten im Schnee.

»Ächtungen treten üblicherweise erst beim nächsten Sonnenaufgang in Kraft. Damit die betroffenen Parteien eine letzte Chance haben, offene Rechnungen zu begleichen.«

»Tja, mit Details dieser Art ist ein Schäler wahrscheinlich bestens vertraut.«

Er streckte mir seinen verkürzten Arm entgegen. »Du schuldest mir immer noch etwas für meine Hand.«

»Bin ich durch die Ächtung etwa nicht meiner Schulden enthoben?«

»Nein. Im Moment bin ich nur nicht in der Lage, dich deswegen zu belästigen.«

Ich blieb abrupt stehen, Dren ebenfalls. »Was meinst du damit?«

Er grinste und seine grasgrünen Augen funkelten boshaft. »Sagen wir mal, ich habe da so ein Gefühl, dass wir dich schon bald wiedersehen werden.«

Ich machte den Mund auf und wollte sagen: »Hoffentlich nicht.« Und eigentlich war ich mir sicher, dass ich aufrichtig so empfand. Aber in Wahrheit wusste ich es einfach nicht. Was ich in dieser Nacht gesehen und erlebt hatte, war mir zutiefst zuwider, aber gleichzeitig fürchtete ich mich auch vor dem normalen Leben, das nun vor mir lag. Ich warf ihm seine Schlüssel zu.

»Und vergiss nicht, Edith: Du bist der Typ Mensch, der so lange in Schwierigkeiten gerät, bis er tot ist.«

Ich klappte den Mund wieder zu und sagte gar nichts mehr. Dren vollführte eine affige Verbeugung und stapfte durch den Schnee davon.

Ich schloss meine Wohnungstür auf und ging hinein. Drinnen entdeckte ich den brandneuen Teppich, und als ich meine Füße auf den weichen Flor setzte, kam es mir vor, als hätte ich eine neue Welt betreten.

Als Erstes ging ich unter die Dusche. Und sobald die Sonne aufgegangen war, schlief ich endlich ein.