Kapitel 40

 

Ich holte meine Schlüssel raus, doch die Wohnungstür war immer noch offen. Was auch sonst? Zögernd spähte ich hinein.

Der Geruch von neuem Teppichboden hing in der Luft. Den hatte ich das letzte Mal gerochen, als ich während meiner Ausbildung einen Ferienjob als Aushilfe in einem Bürokomplex gehabt hatte. Der neue Boden war makellos, wenn auch nicht exakt im gleichen Farbton wie vorher. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass mein Vermieter sich beklagen würde. Ich trat über die Schwelle, machte die Tür hinter mir zu und stellte die Katzenbox ab.

Der Teppich war sogar von unten gepolstert und nicht von Hunderten Mietern platt getreten worden. Ich schlurfte im Flur herum und genoss eine Weile dieses schöne Gefühl, bevor ich das Licht anmachte und mich umsah.

Ein brandneues Sofa. Nicht das versiffte alte mit den Blutflecken und dem Überzug, der die Schäbigkeit verdecken sollte, sondern eines frisch aus dem Laden. Ich wollte gar nicht daran denken, wo Lucas’ dubiose Putzkolonne so spät noch ein geöffnetes Möbelhaus aufgetan hatte. Aber selbst wenn es vom Laster gefallen war, kümmerte mich das auch nicht. Es nahm fast die gesamte Wand ein und hatte einen Braunton, der zum Teppich passte ohne dabei scheußlich zu wirken. Einfach fantastisch. Und es gehörte mir!

Minnie maunzte fordernd, woraufhin ich die Katzenbox aufmachte und ihr die Freiheit schenkte. Sie sprang heraus und verschwand mit hoch erhobenem Schwanz im Schlafzimmer, während ich meine kleine Tour fortführte.

Die Küche war unverändert, aber sauberer – sogar das gesamte Geschirr war abgespült. Ich ging durch den Flur, nur um festzustellen, dass das Bad unverändert und genauso schäbig wie früher war. Dann widmete ich mich dem Schlafzimmer, und voilà – auch hier herrschte Chaos. Mir kam der Verdacht, dass die Putzkolonne wohl genug damit zu tun gehabt hatte, alle möglichen Spuren im Wohnzimmer zu verwischen. Die DNS war verschwunden, aber den verwüsteten Kleiderschrank hatten sie mir überlassen.

Es würde den gesamten Tag dauern, hier aufzuräumen; wobei ich mich fragte, wie spät es eigentlich war. Ich kramte mein Handy aus der Handtasche und schrieb an Sike: »Bin wieder zu Hause. Ist es sicher hier?« Vielleicht zeigte sie sich ja ausnahmsweise mal hilfsbereit. Und obwohl ich wusste, dass es wahrscheinlich keine gute Idee war, tippte ich eine SMS an Lucas: »Wirklich hübsch, danke.« Dann fing ich an, die verstreuten Sachen aufzusammeln.

Ich beschloss, alles zu waschen, was der Eindringling und Veronica berührt haben könnten. Also ging ich durch die Wohnung, stopfte alle Klamotten, die er aus dem Schrank gerissen hatte, in einen riesigen Wäschesack und schleppte den in die Waschküche. Als ich viele, viele Münzen später zurückkam, wartete Jake vor meiner Tür.

Mir rutschte das Herz in die Hose. »Jake? Geht es dir gut?«

»Ich wollte nur mal kurz Hallo sagen.« Er hatte seinen neuen Rucksack und eine große Reisetasche dabei. »Wie läuft’s denn so?«

»Viel zu tun.« Wir konnten nicht ewig hier draußen stehen bleiben – dafür war ich nicht warm genug angezogen.

»Kann ich mit reinkommen?«, fragte er.

Das passte mir so gar nicht in den Kram, doch ich sagte: »Klar«, und ließ ihn widerwillig in die Wohnung.

Jake stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Was ist denn hier passiert?«

»Mein Vermieter hat renoviert.« Weil gestern noch eine Leiche in der Küche gelegen hat. Aber keine Sorge, der Vampir und der Tageslichtagent sind weg, es ist also alles in Ordnung.

»Vier Tage nach Weihnachten? Zwei Tage vor Silvester? Mitten im Winter?« Er begutachtete das neue Sofa. »Und er hat dir eine neue Couch spendiert?«

»Stell keine Fragen, Jake.«

»Warum denn nicht? Sonst gibst du immer die moralisch Überlegene, jetzt bin ich mal dran.« Er setzte sich und klopfte neben sich auf das Polster. »Wie konntest du dir das leisten?«

»Jetzt nicht, Jake.«

»Irgendwie passt der Zeitpunkt bei dir nie, kann das sein? Aber mich ausquetschen geht immer.« Triumphierend lehnte er sich zurück.

»Also, ich bin hier ja wohl nicht diejenige, die den anderen beklaut hat. Dadurch habe ich immer das letzte Wort.« Er wollte etwas erwidern, aber ich ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Was willst du hier, Jake?«

»Eigentlich wollte ich dir nur das Geld für die Telefonrechnung geben, wie ich es versprochen hatte. Das Geschäft läuft gut.« Seine Miene wurde etwas weicher. »Außerdem habe ich mir Sorgen gemacht. Du warst in letzter Zeit so komisch.«

»Sorgen? Um mich? Wow.« Ich war sprachlos. Keine Droge der Welt konnte Jake derart mitfühlend machen. »Ich habe mir auch Sorgen um mich gemacht, aber jetzt wird langsam alles besser«, log ich.

Er schaute sich in meinem Wohnzimmer um und schüttelte den Kopf. »Wenn du in Schwierigkeiten steckst, kannst du mir das ruhig sagen. Immerhin hat kaum jemand so oft in der Scheiße gesessen wie ich.«

»Das stimmt. Ich muss aber heute noch jede Menge Wäsche machen …«

»Dann schätze ich nicht, dass …«, begann er und sah demonstrativ seine Tasche an. Immerhin hatte ich ja jetzt ein tolles neues Sofa, auf dem er schlafen könnte.

»Noch nicht, Jake, okay? Vielleicht nach den Feiertagen.«

»Okay.«

»Kommst du alleine nach Hause?«

»Klar. Wir sehen uns, Sissy.«

Erst als er weg war, fiel mir auf, dass er vergessen hatte, mir das Geld für seinen Teil der Telefonrechnung dazulassen.

Den restlichen Tag verbrachte ich damit, mein Schlafzimmer aufzuräumen, dann schaffte ich die nächste Ladung in die Waschküche.

Völlig planlos warf ich die Sachen in die Maschine – ich besaß kein einziges Teil, das nicht bei hohen Temperaturen gewaschen werden durfte –, als plötzlich etwas in der Trommel klapperte. Ich wühlte in der Maschine herum.

Das Fläschchen mit Luna Lobos, das Jake mir gegeben hatte. Verdammt. Ich musste ihn unbedingt dazu bringen, dass er die Finger von diesem Zeug ließ. Er würde sich bestimmt auf Dauer kein normales Leben aufbauen können, indem er irgendwelche Nahrungsergänzungsmittel verkaufte. Zurück in der Wohnung steckte ich das Fläschchen in meine Handtasche, damit ich es im Krankenhaus entsorgen konnte.

Lucas hatte recht, meine Wohnung war momentan wohl nicht gerade der sicherste Schlafplatz, aber immerhin funktionierte das Türschloss wieder. Zusätzlich legte ich die Kette und den Sicherheitsriegel vor. Zum Schluss klemmte ich noch meine Trittleiter unter die Klinke, damit auch ja niemand hereinkam, und schlief mit dem Telefon neben dem Bett ein.

An diesem Abend wachte ich erst um acht auf. Unter meinem linken Knie spürte ich einen Knubbel in der Matratze; an dieser Stelle hatte der Werwolf sie aufgeschlitzt. Minnie lag an meiner Seite, offenbar hatte sie mir die Verfehlungen der letzten Nacht verziehen.

Ich stand auf, duschte und machte mich fertig. Jetzt musste ich noch etwas essen und Vorräte für die Arbeit besorgen. Auf dem Parkplatz suchte ich zwar nicht gezielt nach meinem Bewacher, aber auf dem Weg zum Supermarkt und zurück folgte mir ein schwarzer Wagen, der erst verschwand, als ich das Klinikgelände erreicht hatte.

Ich stand noch im Umkleideraum, als Gina hereinschneite und fröhlich vor sich hin summte. Dem musste ich auf den Grund gehen. »Du bist heute aber fröhlich.«

»Und du nicht, fast so als hätten wir die Plätze getauscht.«

»Meine freie Nacht war ziemlich lang.«

»Meine auch, aber im positiven Sinn. Ich habe mich mit Brandon ausgesprochen. Er findet es nicht schlimm, wenn ich die Verwandlung nicht will.«

»Und für wie lange?«

»Für immer, sagt er.«

»So richtig für immer?«

»Zumindest lange genug.« Sie strahlte mich an. »Ich wusste, dass es kein Fehler war, mich in ihn zu verlieben, Edie. Ich wusste es einfach.«

Von irgendwo tief in mir kramte ich noch ein Lächeln für sie hervor, auch wenn es fast schon aus einer anderen Dimension stammte. »Ich freue mich für dich, Gina, ehrlich.«

Sie umarmte mich kurz. »Dann komm. Das wird eine grandiose Nacht.«

Wir gingen zusammen auf die Station und schauten nach, wen wir heute am Hals haben würden.

»Kannst du uns nicht mal woanders hinschicken, Meaty?« Gina und ich waren Winter zugeteilt worden. Schon wieder.

Unsere Stationsschwester drehte sich von ihrem Schreibtisch weg und bedachte mich mit einem durchdringenden Blick. »Charles kriegt die Tageslichtagenten, und ihr beide die Formwandler. Es ist ja nur noch für zwei Nächte, Spence. Damit wirst du schon fertig.«

»Na schön«, murmelte ich.

Bevor ich zu den Gehegen ging, stellte ich mich innerlich darauf ein, gleich Lucas gegenüberzustehen. Aber nein, sicher würde er heute wieder kämpfen müssen. Als ich dann vorsichtig um die Ecke lugte, konnte ich ausnahmsweise gar keine Besucher entdecken. Nicht einen Einzigen. Etwas ruhiger wartete ich auf Gina, und wir besorgten uns den Übergabebericht.

Alles, was wir jetzt noch für Winter taten, war reine Show. Entweder würde der Vollmond ihn heilen – anscheinend bis hin zu den Löchern in seinen Zähnen – oder nicht. Ich überprüfte zusammen mit Gina die Anweisungen und zeichnete alle Veränderungen gegen, die sie vornahm. Wir machten uns nicht mehr die Mühe, das Gewehr zu benutzen, nicht einmal, wenn sie direkt neben dem Bett stand. Das Domitor war zwar abgesetzt worden, denn falls der Mond seine Arbeit tat, wollten wir die Verwandlung nicht verhindern, aber Winter hatte inzwischen nichts Furcht einflößendes mehr an sich. Dafür hatte die Blutung in seinem Gehirn gesorgt.

Um drei Uhr morgens hatte sich Gina in das freie Gehege nebenan zurückgezogen, um Pause zu machen, während ich vor Winters Zimmer saß und ein Buch las. Alles war friedlich. Mir hätte klar sein müssen, dass es nicht so bleiben würde.

»Besucher, Edie!«, rief Meaty um die Ecke. Ich legte das Buch weg und versuchte, möglichst streng auszusehen.

Lucas bog um die Ecke, wieder in seinem Kapuzenpulli. Er sah leicht lädiert aus und roch nach Schweiß. Irgendwie schien er größer zu sein als letzte Nacht, außerdem atmete er schwer. Als er mich entdeckte, blieb er mit unergründlicher Miene stehen. »Ich will nur kurz mit ihm reden.«

»Okay.« Ich ließ ihn passieren. Streng genommen hätte er in Winters Zimmer Schutzkleidung anziehen müssen, und ebenso streng genommen hätte ich ihn nicht alleine reingehen lassen dürfen. Stattdessen blieb ich in der Tür stehen, wo ich beide im Blick hatte.

Lucas trat an Winters Bett heran und starrte auf den reglosen König hinab. »Kein Wunder, dass mein Vater dich gehasst hat, Onkel. Er wusste, dass er sich niemals so fühlen würde.« Er schlug sich gegen die Brust. »Ich kann ihre Herzen spüren, sie schlagen hier drin. So fühlt es sich also an, wenn man ein Rudel anführt.« Nun legte er die Hand auf Winters Brust, woraufhin ich einen Schritt vortrat. »Ich spüre es … der Mond hat mich erwählt.«

»Lucas …«

In dem halbdunklen Raum glühten seine Augen wie Kupfer; wie die eines Tieres in der Nacht. »Keine Sorge. Ich werde ihm nichts tun. Er ist sowieso schon so gut wie tot.«

Er tätschelte noch einmal Winters Brust, bevor er zurück an die Tür kam. Doch statt an mir vorbeizugehen, packte er mich an den Schultern, wirbelte mich herum und drückte mich gegen die Wand. Nach Hilfe zu rufen hätte im besten Fall eine Riesenblamage zur Folge gehabt, im schlimmsten ernsthafte Verletzungen. Ich musste daran denken, wie Charles erzählt hatte, Werwölfe würden hinterher immer sagen, sie könnten ihre Stärke nicht einschätzen, und plötzlich glaubte ich ihm.

Quietschend presste ich hervor: »Wie waren die Kämpfe?« Als könnte man sich jetzt noch normal mit ihm unterhalten.

Sein Gesicht war nur noch wenige Zentimeter von meinem entfernt. »Lachhaft.«

Er küsste mich, als wäre ich sein Eigentum. Mein Kopf war gegen die Wand hinter mir gepresst, während er seine Zunge tief in meinen Mund gleiten ließ. Dann zog er sich ein wenig zurück, neckte mich, ließ seinen heißen Atem über meine Lippen streifen, und küsste mich wieder.

Die eine Hälfte von mir wollte wegrennen oder wenigstens schreien. Die andere wollte alles von ihm: hier und jetzt, jenseits von Anstand und Moral und ohne Rücksicht auf den widerwärtigen Krankenhausboden.

Er drückte mir eine Hand auf den Mund, damit ich nicht schreien konnte, und leckte über meine Wange. Die andere Hand wanderte über meinen Körper, strich über den dünnen Baumwollstoff, streichelte meine Brüste und glitt zwischen meine Beine.

»Du willst mich immer noch«, stellte er fest, als er mich schließlich losließ.

Ich wischte mir seinen Speichel von der Wange. »Die Leute wollen oft das, was sie nicht haben können.«

»Manchmal wollen sie es deshalb nur umso mehr.« Er trat einen Schritt zurück und atmete tief durch, stieß die Luft angestrengt aus den Lungen. Plötzlich war er weniger Monster und wieder mehr der Lucas, den ich kannte. »Wir haben fünf von Viktors Männern aufgespürt. Den Rest von ihnen jagen wir noch.«

»Das ist doch gut … schätze ich.« Mein Atem ging schnell, aus Angst, aus Erregung, und vor Wut auf meinen Körper, weil er mich so verriet.

»Bis zum Vollmond werde ich mich voll auf die Angelegenheiten des Rudels konzentrieren müssen. Aber danach, Edie …«

»Danach wirst du ein Rudelführer sein.« Und ich würde mich bestimmt nicht schon wieder in einen Typen verlieben, der mich dann verlassen musste. Entschlossen schob ich ihn weg, woraufhin er brav einen Schritt zurückwich.

»Glaub bloß nicht, das mit uns sei schon zu Ende, Edie.« Er schaute an mir vorbei zu Winter. »Und was dich angeht, alter Mann: Dein Rudel gehört mir.«