Kapitel 36
»Minnie?«
Wieder ein trauriges Maunzen, diesmal hinter der Kommode. Ich hockte mich davor auf den Boden. Jemand hatte sie von der Wand geschoben, um dahinterzuschauen, als er das Zimmer durchwühlt hatte. Minnie hatte sich in den Spalt gezwängt und hockte nun unglücklich in ihrem Versteck.
»Oh, Minnie …« Wenn ihr irgendetwas passiert war, dann war’s das. Dann war ich mit all dem fertig.
Lucas war mir gefolgt, stand nun in der Zimmertür und stieß einen Pfiff aus, als er das Chaos sah. Sämtliche Schubladen waren aus der Kommode gerissen worden, meine Unterwäsche war überall verstreut. Ich ging davon aus, dass ich das dem Werwolf zu verdanken hatte, während Veronica wohl nur die Tür vom Kleiderschrank abgerissen hatte, als sie aufgewacht war. Ich packte Minnie am Nackenfell, zog sie aus dem Versteck und nahm sie auf den Arm.
Lucas holte sein Handy aus der Tasche. »Sie sollten ein paar Sachen packen. Ich rufe jetzt eine Putzkolonne.«
»Eine Putzkolonne wird da wohl nicht viel bringen.« Ich drückte Minnie fest an mich.
»Ich meine die Putzkolonne meines Rudels, die verstehen ihr Handwerk. Ich gehe schon mal ins Wohnzimmer und messe den Teppich aus.«
Eigentlich hätte ich ihn mit Fragen löchern müssen wie »Wo gehen wir hin?« oder »Wie lange wird es dauern?«. Doch stattdessen tappte ich völlig geschockt durch mein Schlafzimmer. Meine Matratze war zur Seite geschoben und aufgeschlitzt worden, sodass die Füllung hervorquoll wie das Unterhautfett aus einer Wunde.
Das Holzkästchen, in dem Annas Dolch gelegen hatte, lag zerschmettert auf dem Boden. Die Waffe befand sich aber zum Glück immer noch im Krankenhaus. Der Werwolf konnte eigentlich nur danach gesucht haben – schließlich war es Vampireigentum. So viel zu Lucas’ Versicherungen, Werwölfe und Vampire hätten nichts miteinander zu tun.
Fast wäre ich über Ashers Silberarmreif gestolpert. Ich hob ihn auf, legte ihn an und wandte mich dem Kleiderschrank zu. Irgendwo da drin musste mein Koffer sein.
Minnies Tragebox stand oben auf dem Schrank. Ich schob sie hinein, stopfte ein paar Klamotten in den Übernachtungskoffer und ging dann ins Wohnzimmer. Lucas wanderte mit festen Schritten durch den Raum und verschickte mehrere SMS. Ich blieb im Flur stehen und sah ihm dabei zu.
»Minnie kann doch mitkommen, oder?«
»Ich bin nicht sicher, ob Marguerite das so toll finden wird.«
Jetzt erfuhr ich dann wohl von der eifersüchtigen Werwolffreundin. »Wer ist das?«
»Meine Katze.« Er bemerkte meine ungläubige Miene. »Was denn, warum sollten Werwölfe keine Haustiere haben? Viele Leute haben Hunde und Katzen, die friedlich zusammenleben.« Sein Telefon piepte, er las die Nachricht und nickte mir dann zu. »Die Putzkolonne wird bald hier sein. Lassen Sie die Tür offen, damit sie reinkommen. Und natürlich können Sie Ihre Katze mitnehmen. Gehen wir.«
Die Schlösser an der Tür waren aufgebrochen worden, mir blieb also gar nichts anderes übrig, als sie offen zu lassen. Minnie und ich folgten Lucas nach draußen und stiegen in seinen Wagen.
»Was machen wir jetzt?«, fragte ich, sobald ich Minnies Box auf meinem Schoß abgestellt hatte.
»Erstmal fahren wir zu mir. Es wird nicht lange dauern, bis Sie zurück können – die Putzkolonne ist schnell.« Das musste ich erst mal verdauen, und vielleicht deutete er mein Schweigen als Zeichen von Angst, denn er fuhr fort: »Hier konnten Sie doch nicht bleiben, nicht bei all dem Blut.«
»Ja, meine Kaution wäre dann wohl futsch.«
Er lachte. Wir fuhren um eine Kurve und Minnie fauchte.
»Ich fühle mich furchtbar, weil ich ihr das antue.« Gott allein wusste, wie lange sie schon hinter der Kommode gehockt hatte.
»Warum sind Sie eigentlich nicht wütend? Ihre Vampirfreundin hat Ihnen da ganz schön was eingebrockt.«
»Ja, aber irgendwie waren bisher alle, die es wirklich auf mich abgesehen hatten, Werwölfe.«
»Auch wieder wahr.« Er packte das Lenkrad fester. Plötzlich wurde mir klar, dass ein Vampir zwar nicht ohne meine Erlaubnis in meine Wohnung eindringen konnte, ein Werwolf allerdings schon. Lucas fuhr fort: »Er hat nicht nach Viktor gerochen. Damit wäre Viktor aus dem Schneider.«
»Nein, damit wissen wir nur, dass ich immer noch keine Ahnung habe, wer hinter mir her ist«, widersprach ich. Darauf fiel ihm nichts mehr ein.
Draußen zogen die Häuser wie Pfosten in der Dunkelheit vorbei. Schließlich brach ich das unangenehme Schweigen: »Werden Ihnen die Kämpfe nicht fehlen, wenn Sie heute nicht hingehen?«
»Ich war während der letzten zwei Wochen jede Nacht dort. Da kann ich bestimmt mal einen auslassen.«
Als wir bei Lucas ankamen, äußerte sich Minnies Angst nur noch in einem leisen Grummeln. Wir hielten vor einem weitläufigen zweistöckigen Haus. Die Art von Heim, bei der man automatisch einen Pool im Garten erwartet – den es auch gab, wie ich sehen konnte, als wir durch eine Einfahrt und um das Haus herumfuhren. Hinten im Garten stand noch ein zweites, kleineres Haus, und als wir ausstiegen, wurde mir klar, dass Lucas uns dorthin führte. Ich nahm meinen Koffer und die Katzenbox und folgte ihm hinein.
»Mein Onkel ist – war – Bauunternehmer. Das Haupthaus gehört ihm, dort leben jetzt Helen und Fenris Junior. Das hier ist meins.« Er warf den Schlüssel auf einen Tresen und griff zum Handy. »Ich muss noch ein paar Anrufe machen. Das erste Zimmer da vorne im Flur können Sie haben. Direkt daneben ist auch ein Bad mit Dusche.«
Ich brachte zunächst meine Sachen in das Gästezimmer, ging dann in das Bad und wog die Risiken ab: duschen in einem fremden Haus, in dem sich ein fremder Mann befand – oder den Rest der Nacht mit fremdem Blut verschmiert bleiben? Ekel siegte über Vernunft, und ich zog mich bis auf den Silberarmreif aus und ging unter die Dusche.
Unter dem heißen Strahl konnte ich zwar besser denken, aber er löste keines meiner Probleme. Alles, was ich besaß, war entweder zerfetzt, zerbrochen, blutverschmiert oder von einem gruseligen Cyborg absorbiert worden. Ich schuldete einem Vampir eine neue Hand. Ständig wurde ich von Werwölfen angegriffen und würde außerdem die Silvesternacht mit einem Vampir verbringen. Meine Gedanken drehten sich ziellos im Kreis wie das Wasser im Abfluss. Ich verlor jedes Zeitgefühl.
Plötzlich klopfte es an der Badezimmertür. »Sind Sie schon ertrunken?«
»Nein.«
Als die Tür sich öffnete, versuchte ich, nicht gleich in Panik auszubrechen. Doch Lucas legte nur ein paar frische Handtücher auf den Waschtisch und schloss die Tür hinter sich. Ich drehte den Hahn zu und trocknete mich ab – wobei mir wieder einfiel, wie Gideon in meinem Bademantel aus der Tür gerannt war, ein Anblick, den ich mir gerne erspart hätte. Anschließend sammelte ich vorsichtig meine blutverschmierten Klamotten ein und ging zurück in das Zimmer, wo ich Minnie abgestellt hatte. Das Türchen der Tragebox war offen, doch sie hockte immer noch drin, als wäre sie nicht von Teppich, sondern von heißer Lava umgeben.
»Ich verstehe dich ja. Mannomann, und wie!« Ich trocknete mir so gut es ging die Haare ab und checkte dann die sauberen Sachen, die ich mitgebracht hatte – Trainingshose und Schlabberoberteil. Ashers Armreif passte allerdings nicht dazu, und ich wollte ja auch nicht undankbar sein. Falls Lucas mich wirklich umbringen wollte, hätte er das bestimmt in der Dusche getan, damit der Teppich sauber blieb. Dieser morbide Gedanke ließ mich kurz auflachen, und ich legte den Armreif zu Minnie in die Box. Dann schlang ich mir wieder den Gürtel mit der Silberschnalle um die Hüfte und ließ das Oberteil darüberfallen, damit ich wenigstens ein bisschen Schutz hatte, ohne direkt unhöflich zu sein. Derart gerüstet machte ich mich auf den Weg.
»Hey.«
»Hi.« Lucas stand in der Küche, die nicht wesentlich größer war als meine. »Ich habe Kaffee gemacht, ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte.«
»Danke.« Ich nahm einen Becher von ihm entgegen. Jetzt konnte ich auch genauso gut Kaffee trinken und wach bleiben. Zumindest darin war ich gut.
»Wie geht es Minnie?«
»Sie ist unglücklich.«
»Das ist wohl das Motto des Abends. Milch? Zucker?«
»Beides.« Er reichte mir eins nach dem anderen. Sobald ich meinen Kaffee so weit ergänzt hatte, dass kaum noch etwas von seinem ursprünglichen Geschmack übrig war, ging ich ins Wohnzimmer hinüber und setzte mich in einen Sessel, der voller Katzenhaare war. Wie sollte es auch anders sein?
»Wie fühlen Sie sich?«, fragte Lucas und setzte sich mit seinem Kaffeebecher in der Hand mir gegenüber auf ein Sofa. Er trug jetzt ein weißes Tanktop, wodurch seine Tätowierungen besser zur Geltung kamen. Am einen Arm waren die Konturen unscharf, doch am anderen Arm noch frisch und fein gezeichnet – einfach großartig. »Stehen Sie unter Schock?«
»Ich habe schon öfter erlebt, wie jemand gestorben ist … allerdings nicht in meinem Wohnzimmer.« Ich zuckte mit den Schultern und versuchte, möglichst gelassen zu wirken.
»Und Sie wollen mir wirklich nicht sagen, wonach er gesucht hat?« Lucas neigte fragend den Kopf. Er klang dabei völlig entspannt, richtig nett.
»Viel interessanter finde ich die Frage, was für ein Werwolf das war«, antwortete ich. Lukas zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Gutes Argument.«
»Wie kann es überhaupt Werwölfe geben, von denen Sie nichts wissen? Meine Vampirfreundin kann nicht einfach neue Vampire erschaffen, nicht ohne das Einverständnis ihrer Leute.« Wobei ich ihm verschwieg, dass Veronica sozusagen eine Illegale war. »Wie funktioniert das bei Werwölfen?«
»Viktors Familie hat immer noch gewisse Verbindungen. Er hätte fremde Werwölfe einschleusen können – dabei hat Helen mich von Anfang an gewarnt, dass er zum Problem werden könnte.« Er starrte mit einem bitteren Lächeln in seinen Becher. »Ich wünschte, ich hätte auf sie gehört.«
»Und was hätten Sie dann getan? Ihn umgebracht?«
»Eventuell. Wenn das alles dadurch verhindert worden wäre. Winter hätte es getan. Winter hätte ihn sofort am ersten Tag getötet. Er hielt nicht viel von Herausforderern.« Lucas lehnte sich zurück. »Deshalb zerbreche ich mir ja den Kopf darüber, ob ich der Sache überhaupt gewachsen bin.«
»Viktor hat mich gestern angerufen. Er meinte, Sie alle würden ihm nur die Schuld in die Schuhe schieben.« Ich beobachtete wachsam, wie er auf diese Nachricht reagierte, aber Lucas schien nur überrascht zu sein.
»Er hat Sie angerufen?«
»Haben Sie schon einmal etwas vom Kabinett Grey gehört?« Wenn ich schon einen kleinen Vorteil hatte, musste ich ihn auch ausspielen.
Jetzt wirkte Lucas richtig verblüfft. »Nein. Das ist doch eine vampirische Titulierung, oder nicht? Ich werde mal rumfragen.« Sein Handy piepte, und er schaute nach. »Hab ich’s mir doch gedacht. Jorgen ist sauer.«
»Kann er Sie bei den Kämpfen etwa nicht vertreten?«
»Wohl kaum, er ist nur ein Gebissener.«
Wie der tote Kerl in meiner Küche. »Können Gebissene andere beißen und sie so verwandeln?«
»Nein, so funktioniert das nicht. Nur führende Werwölfe können andere Werwölfe erschaffen. Da gibt es keine Schlupflöcher. Es sei denn, Sie würden mich häuten und meinen Pelz tragen.« Lucas musterte mich durchdringend. »Was auch immer die in Ihrer Wohnung gesucht haben – haben sie es gefunden?«
»Tut mir leid, Lucas.« Mehr als ein Achselzucken bekam er nicht als Antwort. Anna vertraute ich, auch wenn sie momentan wahrscheinlich in Blut badete.
»Was kann ich tun, um Ihr Vertrauen zu gewinnen?«, drängte er.
Plötzlich kam mir dieses kleine Wohnzimmer vor wie eine Falle, in der ich keinen Schutz hatte außer meiner Gürtelschnalle. Und ich trank etwas, das er zubereitet hatte – vielleicht hatte er irgendwelche Drogen reingetan oder Gift oder …
»Ganz ruhig.« Er streckte abwehrend die Hand aus. »Ich wollte Sie nicht erschrecken. Sie sind hier sicher, das schwöre ich.«
Misstrauisch schaute ich ihn an. »Sind die Versprechen von Werwölfen wie die von Vampiren?«
Er grinste verschmitzt. »Kommt auf den Werwolf an.« Diesmal klingelte sein Handy. Er überprüfte die Nummer und drückte den Anruf weg. »Tut mir leid, schon wieder Jorgen. Ich muss es anlassen wegen der Putzkolonne, aber ich habe jetzt keine Lust auf Jorgens Predigten.«
Ich konnte mir gut vorstellen, wie Jorgen in der Gestaltwandlerbar stand, entdeckte, dass Lucas nicht da war, und vor Wut schäumte. »Ich verstehe einfach nicht, warum Sie ständig kämpfen müssen.«
»Um zu beweisen, dass ich zum Anführer tauge. Wenn sie mich in der einen Nacht nicht besiegen konnten, erwischen sie mich vielleicht in der nächsten. Eigentlich ist es kein Kampf, sondern eine Show. Als Mensch bin der Magier und als Wolf das Kaninchen. Wie oft werde ich es noch schaffen, es aus dem Hut zu zaubern?« Lucas legte das Handy weg. »Es ist schon ein Wunder, dass Winter so enorm alt geworden ist.«
Fasziniert beugte ich mich vor. »Kostet es Überwindung, sich zu verwandeln?«
»Sie meinen, ob ich meinen Stolz überwinden muss? Nein. Einer der Tiermediziner, mit denen Sie zusammenarbeiten, hat Ihnen das doch sicher erklärt.« Er sah mich fragend an, doch ich wartete nur schweigend auf eine Antwort. »Jede Verwandlung kostet uns Lebenszeit. So als würde man in das große Stundenglas greifen, das Gott einem gegeben hat, und einzelne Sandkörner herausrieseln lassen.«
So hatte ich mir das nicht vorgestellt, als Gina es mir erklärt hatte. Irgendwie wirkte es so viel schrecklicher. »Ist es das wert?«
»In den Nächten, in denen es nicht nur Show ist, und man sich da draußen befindet, wie es einem bestimmt ist, schon. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie Furcht einflößend es für den kleinen Fenris im Krankenhaus gewesen sein muss, ohne Rudel, an diesem fremdartigen Ort. Aber draußen in der Natur, im eigenen Revier, ist es herrlich. Dann spürt man, dass es uns eigentlich bestimmt ist, diese andere Form zu haben. Auf vier Pfoten.« Er deutete mit dem Kinn auf mich. »Was hat es Sie gekostet, Krankenschwester zu sein?«
»Meinen Verstand, drei Jahre Ausbildung und jede Menge Studiendarlehen.«
»Nicht im wörtlichen Sinne. Ich meine, zahlt es sich aus?«
»Ha.« Jetzt starrte ich in meinen fast leeren Becher. »Meistens zieht man sich den Zorn der Leute zu. Sie haben etwas erfahren, das sie nicht wissen wollten, und man kann nichts daran ändern. In vielen Nächten sterben sie einem unter den Händen weg, und man kommt sich vor, als würde man Felsbrocken einen steilen Hügel hinaufrollen.«
»Und wenn alles gut geht?«
Darüber musste ich erst nachdenken. »Das passiert nicht so oft wie ich es gern hätte.« Das letzte Mal bei seinem Onkel, als er auf der Straße lag und wir ihn retten konnten, aber das konnte ich Lucas nicht sagen. Denn manchmal machte man alles richtig, und es ging trotzdem nicht gut aus. »Wenn man weiß, dass man etwas schaffen kann, auch wenn man Angst davor hat – das ist gut. Aber in den Zeiten dazwischen gibt es jede Menge Papierkram. Und den ein oder anderen Besoffenen, der einen anbrüllt.«
Lucas schnaubte abfällig. »Mein Vater war ein Trinker.«
»Wirklich?«
»Ja. Ich habe nie herausgefunden, was zuerst da war: der Alkohol oder das Arschloch. Die hier hat er mir verpasst.« Er strich mit dem Finger über seine gebrochene Nase. »Er meinte, wenn ich mich in einen Wolf verwandeln würde, um sie zu heilen, würde er mir den Arm ausreißen und mich damit verdreschen. Und ich habe ihm geglaubt.«
»Wie alt waren Sie da?«
»Fünfzehn. Ihm war es immer lieber, in Menschengestalt gegen mich zu kämpfen. Er sagte, der Wolf würde schon wissen was er zu tun hätte, wenn die Zeit käme – aber die menschliche Hälfte bräuchte Übung«, erklärte er mit verstellter Stimme, die wohl der seines Vaters ähneln sollte. »Erst Jahre später habe ich begriffen, dass er das nur getan hat, weil er es liebte, mich zu demütigen.«
»Wie schrecklich.«
»Ja, das war es. Später bin ich einige Male im Jugendknast gelandet. Er hat mich immer erst bei Vollmond rausgeholt. Dachte, er könnte mich so bestrafen. Dabei hatte er keine Ahnung, dass ich lieber dringeblieben wäre.«
»Lucas …« Ich stellte meinen Becher bestimmt auf den Boden und tat so, als würde ich mit dem Finger eine Gleichung in die Luft malen. »Sie hatten ein hartes Leben, plus Sie wurden auf diese Aufgabe nicht vorbereitet, plus Sie sind nicht von hier. Warum genau sollen Sie gleich noch mal Harscher Schnee anführen?«
»Weil ich volljährig und der nächste männliche Verwandte bin. So funktioniert unser System.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich bin ja nur der Platzhalter, bis Fenris Junior volljährig wird. Glauben Sie mir: Ich will den Job nicht.«
»Warum kann nicht Jorgen das übernehmen?«
»Er ist ein Gebissener. Er weiß nicht, was es heißt, ein Wolf zu sein. Das, was ihn zum Menschen machte, engt ihn immer noch ein.«
»Und warum verpassen Sie ihm und den anderen dann nicht die entsprechende Spritze und heilen sie? Oder sind sie dem Klub wirklich alle freiwillig beigetreten?«
Lucas starrte mich fassungslos an, dann lachte er. »Ich habe mir nur gerade vorgestellt, wie Sie meinem Onkel diese Frage stellen. Jorgen würde sagen, dass sein Dienst an meiner Familie eine Ehre für ihn ist – er wurde vom Alten höchstpersönlich gebissen. Und was die Sache mit dem Beitreten angeht – die Welt ist voller geheimnisvoller Pfade, die man einschlagen kann, Edie.« Er beugte sich vor, sodass wir auf Augenhöhe waren, und sagte mit rauer Stimme, in der der Wolf mitschwang: »Manchmal nimmt man einen davon und verläuft sich im tiefen, dunklen Wald.«
Ich rührte mich nicht und kam mir einen Moment lang vor wie ein Kaninchen, über dem der Falke kreist. Dann lachte Lucas und schüttelte den Kopf. »War natürlich nur Spaß.«
»Natürlich«, bekräftigte ich schnell. Hastig streckte ich ihm meinen Becher entgegen. »Gibt’s noch Kaffee?«