Kapitel 15
An Weihnachten bekamen immer unglaublich viele Leute die Grippe. Andere beliebte Tage für Massenerkrankungen waren Thanksgiving, Silvester und der Unabhängigkeitstag. Falls man es nicht schaffte, sich selbst etwas einzufangen, gab es bestimmt irgendein pflegebedürftiges Familienmitglied, oder aber man musste sich ganz dringend um eine inkontinente Katze kümmern. Allerdings durfte die Pflegeverwaltung aufgrund gewisser Gewerkschaftsvorschriften bei uns nicht nachfragen, warum man sich krankmeldete. Das war gut zu wissen, falls ich mal einen freien Tag brauchte, um nicht durchzudrehen.
In meinem Fall hätte ich heute akute Blindheit angeben können: Als ich aufstand, war ich genauso müde, wie ich befürchtet hatte, und machte mich deshalb mit halb geschlossenen Augen auf den Weg. Auf dem Besucherparkplatz war sogar ganz nah am Eingang noch etwas frei – kein Wunder, für den Rest der Welt war immer noch Weihnachten. Für mich hingegen war der Feiertag bereits gestern gewesen, und mein heute war für alle anderen morgen. Wenn man nicht aktiv dagegen ankämpfte, brachten Nachtschichten das Zeitgefühl völlig aus dem Gleichgewicht, ganz besonders im Winter, wenn alles grau und dunkel war. Dieser Tag bildete da keine Ausnahme. Die Sonne war kaum zu sehen, sie versteckte sich hinter dicken Wolken und versorgte uns mit einem trüben Licht, das an das Anfangsstadium einer Migräneattacke erinnerte.
Ich stieg aus dem Wagen, drückte den Knopf runter, schlug die Tür zu und ging Richtung Eingangshalle. Auf dem kleinen Rasenflecken davor stand jemand und kotzte in einen Mülleimer. Wann kann man sich besser eine kleine Alkoholvergiftung gönnen als zu den Feiertagen? Ich beschleunigte meine Schritte, damit der Typ mich nicht auch noch nach dem Weg fragen konnte.
Direkt hinter den Eingangstüren stand ein Mann – durch die helle Beleuchtung in der Halle warf seine Gestalt einen langen Schatten. Er trug einen Trenchcoat mit aufgestelltem Kragen und einen breiten Hut mit tief herabgezogener Krempe. Als ich mich ihm näherte, hob er den Kopf, sodass ich sein Gesicht erkennen konnte.
Scheiße. Dren.
»Hallo, Schwester.«
Mich packte ein überwältigendes Gefühl der Ungerechtigkeit, und zwar von der tief gehenden Sorte, die man eigentlich nur als Kind verspürt. Das Krankenhaus war mein Heim – manchmal sogar mehr als meine Wohnung. Wie konnte er es wagen, jetzt hier aufzukreuzen und mich zu bedrohen? Ich biss die Zähne zusammen.
»Ich habe herausgefunden, dass dein Bruder jede Nacht im Depot schläft«, klärte mich Dren auf. »Das ist wahrscheinlich besser als der kalte Boden draußen im Freien, aber mal ehrlich, Schwester – liebst du ihn denn gar nicht? Oder ist er der Grund, warum du hier bist?« Er warf einen vielsagenden Blick auf die Eingangshalle hinter sich.
»Lass meine Familie da raus, Dren.«
»Warum sollte ich?« Seine Augen funkelten belustigt, als er mein Unbehagen spürte. »Du schuldest mir was.«
»Wie du von mir erwarten kannst, dass ich Wiedergutmachung leisten soll, wenn ich nichts habe, womit ich das tun könnte.«
»Das ist so nicht ganz richtig. Und du wirst den Preis bezahlen, den ich verlange«, erwiderte Dren. Er grinste verschlagen und entblößte seine Fangzähne, die deutlich länger waren als die übrigen. »Wie man hört, gönnt sich König Winter höchstpersönlich auf deiner Station ein wenig Ruhe. Besorg mir das Blut des Werwolfkönigs, oder ich sauge deinen Bruder bis auf den letzten Tropfen aus.«
Ich schluckte schwer und wich einen Schritt zurück. »Aber … du kannst doch nicht … das darfst du nicht.«
»Es mag ja verboten sein, aber das heißt nicht, dass rechtzeitig jemand zur Stelle sein wird, um mich aufzuhalten. Glaub mir, ich kann verdammt schnell sein.« Er zog seine Sichel aus dem Holster und ließ sie in seiner gesunden Hand herumwirbeln, sodass die Klinge im Licht golden funkelte. »Ich frage mich, ob königliches Blut tatsächlich blau ist.« Er zog das königlich spöttisch in die Länge. »Bisher habe ich mich noch nie so weit oben in der Nahrungskette bedient.«
»Aber … warum?«
Die Sense erstarrte, und er musterte mich mit schräg gelegtem Kopf, fast wie ein Insekt. Seine Miene hatte nichts Menschliches mehr an sich. »Tu es, oder dein Bruder stirbt. Deine Neugier spielt keine Rolle.«
Falls Jake durch eigenes Verschulden wieder abstürzte, konnte ich damit vielleicht noch fertigwerden. Ich war jetzt so lange die Rettungsinsel gewesen, die ihn über Wasser hielt, dass mir niemand einen Vorwurf machen konnte, wenn ich langsam müde wurde. Aber eine Mitschuld an seinem Tod zu tragen, obwohl ich ihn hätte verhindern können? Das würde ich mir niemals verzeihen. Ich war stolz auf meine Arbeit, auf das Berufsethos … aber hier ging es um meine Familie. »Wie viel?«, hörte ich mich fragen, noch bevor ich die Sache ganz zu Ende gedacht hatte.
»Braves Mädchen. Sagen wir, einen fetten Tropfen.«
»Frisch oder getrocknet?«
Dren lachte boshaft. »Überrasch mich.«
Ich hatte keinen blassen Schimmer, wie ich Blut aus einem Krankenzimmer schmuggeln sollte, das nicht mir unterstellt war und vor dem – falls Gina recht behielt – inzwischen wahrscheinlich Wachen postiert waren. »Wenn ich das mache, sind wir aber abschließend quitt, ja?«
»O nein. Deine Schuld bleibt bestehen – aber um deren Begleichung können wir uns später noch kümmern.« Er steckte seine Waffe weg.
Ich holte tief Luft. »Dren … nenn mir den Grund.«
»Wenn ich es dir sagen würde, müsste ich dich anschließend töten, Mädchen!« Einen Moment lang musterte er mich betont nachdenklich, dann zupfte er seinen Kragen zurecht, um sich vor den letzten Sonnenstrahlen zu schützen. »Und wenn ich sagen würde, dass mir das leidtue, wäre das eine Lüge.«
Damit zog er sich den Hut ins Gesicht und trat in die Abenddämmerung hinaus.
Scheiße, scheiße, scheiße. Im Fahrstuhl dachte ich über alles nach. Da ich mitten in der Nachmittagsschicht kam, war der Umkleideraum zum Glück leer. Vorsichtshalber überprüfte ich auch den Waschraum, bevor ich heimlich einen Anruf machte.
»Zentrale für Tageslichtagenten, wir kümmern uns um Ihre ruchlosen Bedürfnisse«, meldete sich eine melodische Frauenstimme.
»Sike? Ist Anna da?«
»Sie ist in Klausur«, erklärte Sike. Im Hintergrund klang es so, als würde jemand packen: Schubladen wurden geöffnet, und Stoff raschelte.
»Ich bin Dren begegnet, Sike.«
»Wirklich?« Sie gab ein nachdenkliches Schnurren von sich. »Den habe ich schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Wie geht es ihm denn? Wirkte er einsam?«
»Er will, dass ich ihm Werwolfblut aus dem Krankenhaus besorge.«
»Hm. Über Geschmack lässt sich eben streiten.« Die Packgeräusche gingen weiter.
»Er sagt, wenn ich es nicht mache, wird er meinen Bruder aussaugen.« Was genau zurzeit auf Y4 los war, durfte ich ihr nicht verraten, aber ich war sicher, sie wusste bereits Bescheid. Und nur weil ich mich für Annas Zukunft interessierte, hieß das schließlich noch lange nicht, dass ich von allen anderen Vampiren herumgeschubst werden wollte.
»Klingt so, als würdest du in einem moralischen Dilemma stecken.« Im Hintergrund schloss sie offenbar eine Schranktür.
»Keineswegs.« Stirnrunzelnd starrte ich auf den Boden. Aber sollte ich das nicht? Eigentlich schon, und trotzdem … »Werdet ihr mich vor ihm schützen können, wenn Annas Zeremonie vorbei ist, Sike?«
Sie unterbrach noch einmal, was auch immer sie am anderen Ende der Leitung gerade tat. »Ich weiß es nicht. Das werden wir mit Anna besprechen müssen. Aber …«
»… die befindet sich in Klausur. Na großartig.«
»Du bekommst deine Antwort in einer knappen Woche. Und unter Freunden: Was ist da schon ein bisschen Blut?« Damit legte Sike auf. Bei unseren bisherigen Begegnungen waren sie und ich nicht besonders gut miteinander ausgekommen. Mir war schleierhaft, warum ich gedacht hatte, das würde bei diesem Gespräch anders sein.
Der Bildschirmschoner auf meinem Handy präsentierte mir die Uhrzeit. Verdammt, ich war spät dran.
Ich zog mich um, verstaute mein Restepaket im Kühlschrank im Pausenraum und rannte dann hoch auf die Unfallintensiv, wobei ich mein persönliches Mantra vor mich hin betete: nur vier Stunden, Feiertagszuschlag, nur vier Stunden, Feiertagszuschlag.
Es ist immer komisch, als Springer auf einer fremden Station zu arbeiten. Ich hatte schon so oft ausgeholfen, dass ich inzwischen überall in der Klinik im Umkreis von fünf Metern die Kochsalzlösung finden konnte, aber auf jeder Station gab es gewisse Gewohnheiten und gewisse Leute, mit denen man sich besser nicht anlegte.
Aus Erfahrung wusste ich, dass die Stationsschwester auf der Unfallintensiv zu dieser Kategorie gehörte. Ich betrat die Station und ging zu ihrem Tisch.
»Edie Spence, ich bin heute hier Springer«, meldete ich mich an.
Die Stationsschwester beachtete mich nicht weiter. »Sie kommen zu spät.«
»Tut mir leid, viel Verkehr.« Wir wussten beide, dass heute Weihnachten war und das deswegen nicht stimmen konnte. Ohne aufzusehen, zeigte sie hinter sich.
»Ihre Patienten finden Sie auf dem Brett, Pause machen Sie um neun. Wenn Sie zu spät kommen, wird sie gestrichen.«
»Alles klar, danke.«
Ich schrieb mir die Zimmernummer meines Patienten auf und trottete den Flur hinunter.
Auf der Unfallstation war es immer laut – sogar noch lauter als auf Y4, und der Trubel herrschte rund um die Uhr. Jedes Mal, wenn ich dort war, wurde gerade jemand eingeliefert und gleichzeitig jemand entlassen, um Platz zu schaffen. Zum einen waren da die normalen Krankenhausgeräusche: Maschinen, Pumpen, Beatmungsgeräte – aber sie wurden überlagert von Stimmen, die plauderten, weinten oder weinend plauderten. Besucher. Sie waren das unangenehmste, wenn ich tagsüber reinkam. Besucher waren nie gut. Selbst die glücklichsten unter ihnen hatten immer irgendwelche Probleme. Es ist eine Sache, ob man sich selbst als hoch qualifizierte Kellnerin mit Zugang zu Betäubungsmitteln sieht – und eine ganz andere, wenn man von Fremden als solche behandelt wird. Immer und immer wieder.
Aber es war nun einmal Weihnachten. Und hier passierten tragische Dinge, einfach weil es eben die Unfallstation war. Man konnte die Besucher zwar bitten, sich zurückzuhalten, aber man konnte sie nicht alle rauswerfen.
Ich machte mich auf die Suche nach meinem Patienten und war nicht überrascht, als mein Besucherradar mir verriet, dass die lautesten unter ihnen in meinem Krankenzimmer hockten. Na klar – immer auf den Springer.
Als Springer bekam man entweder die einfachsten Fälle, weil sie einem nichts zutrauten, die schwierigsten, weil es ihnen egal war, wenn man unterging, oder die mit der schlimmsten Familie, weil alle anderen es satthatten, sich mit denen auseinanderzusetzen. Ich blieb in der Tür stehen und sah hinein.
An jedem einzelnen Infusionsständer hing ein Rosenkranz. Vor mir hockte eine ganze Latinofamilie, aber den Hauptlärm veranstaltete eine weinende alte Frau, die ihre Version des Klassikers »Why God, Why?« vorjammerte. Im Krankenhaus wollte jeder Antworten von Gott, aber er war nie da, um sie ihnen zu geben. Bei meinem Erscheinen schaute die Frau auf, und ich konnte sehen, dass die Tränen und der eifrige Taschentuchgebrauch eine ihrer aufgemalten Augenbrauen vernichtet hatten. Neben ihr tigerte ein alter Mann auf und ab, und neben dem Kopf des Bettes stand eine jüngere Frau und strich dem Patienten über die Wange. Ihr gegenüber stand die Schwester, die ich ablösen sollte. Sie war gerade dabei, eine Infusionspumpe neu einzustellen.
»Hallo?« Ich klopfte gegen den Türrahmen, woraufhin die Schwester zu mir rauskam.
Ihr Bericht war barsch und ohne jede Emotion. Die Schwestern auf der Unfallintensiv lebten nach dem Motto: Alles schon mal da gewesen. Zeuge einer Schießerei zwischen Gangmitgliedern. Schussverletzung an der Wirbelsäule. Lähmungserscheinungen, die sich ausbreiten werden, wenn die Schwellung nicht nachlässt. Zufuhr von Vasopressoren, um den Blutdruck hochzuhalten.
Der Einschlag des Schusses, der Druck der Kugel oder die folgende Schwellung hatten der Wirbelsäule des Patienten einiges zugemutet. Dadurch war er jetzt schon bewegungsunfähig, und wenn sich die Schädigung ausbreitete, würde sie ihm Zentimeter für Zentimeter jede Empfindung rauben. Meine Vorgängerin und ich überprüften gemeinsam die Infusionen und machten Drucktests an der Körperseite des Patienten. Nachdem wir die Stelle ermittelt hatten, an der die Taubheit begann, markierten wir sie mit einem violetten Filzstift. Das erinnerte mich an die Rätselbilder, bei denen man die Punkte miteinander verbinden musste, immer einen nach dem anderen. Die Wehklage auf Spanisch ging ununterbrochen weiter.
Als die alte Krankenschwester ging, nutzte ich die Gelegenheit und zog mich ebenfalls zurück, um das Krankenblatt gegenzuzeichnen und Einlieferungsbericht und Verlaufsnotizen zu überfliegen.
In Wahrheit aber versteckte ich mich.
Auf der Schwesternschule hatten wir ein paar Kurse über Sozialverhalten belegen müssen, aber darin lernte man kaum etwas Wissenswertes über fremde Kulturen, sondern nur, dass man zu fremden Kulturen besonders nett sein sollte. Dieser Teil war bei mir so gut hängen geblieben, dass ich inzwischen selbst zu Vampiren besonders nett sein konnte.
Also las ich ein wenig in der Krankenakte und versuchte, dabei möglichst kompetent zu wirken. Dabei fand ich heraus, was ich bereits wusste: In diesem Zimmer lag Javier Rodriguez, männlich, achtzehn Jahre alt. Und er würde noch im Laufe dieser Nacht jedes Gefühl unterhalb der Halswirbelsäule verlieren.
Ich klappte die Krankenakte zu, sandte ein stummes Gebet aus, dass die Ärzte alle kniffligen Fragen bereits in fließendem Spanisch beantwortet haben mochten, und ging hinein.