Kapitel 46
Anna zuckte nicht einmal.
Die Klingen waren stumpf, wahrscheinlich waren sie irgendwann vor hundert Jahren einmal scharf gewesen. Wenigstens musste ich mir keine Gedanken um Infektionen machen – dieses Ding war älter als das Wissen um Bakterien und die Erfindung des Dampfsterilisators –, da Anna sich auf diese Weise gar nicht verletzen konnte. Ich drückte fester und kurbelte mit mehr Wucht. Dabei kam ich mir vor wie das Äffchen eines perversen Leierkastenmannes, der eine Münze dafür bekommt, dass er anderen das Blut abzapft.
Dann quollen die ersten Tropfen hervor. Erst liefen sie in dünnen Bahnen über Annas Unterarm, dann vereinigten sie sich an ihrem Handgelenk zu einem Strom und sammelten sich schließlich in ihrer Handfläche.
Annas Blut war so warm, wie das Blut der toten Vampire niemals sein würde, und fiel in heißen Tropfen in die goldene Urne. Ich hörte sie aufschlagen wie Regen an einem zu dünnen Fenster, dann war genug Blut in dem Gefäß, dass es wie ein dünner Wasserstrahl klang.
Ich konnte die Vampire in der Menge nicht sehen, aber ich spürte ihre gespannte Erwartung. Wie viel Blut befand sich in einem Körper von Annas Größe und Gewicht? Eigentlich kannte ich die Antwort. Doch ich versuchte angestrengt, nicht darüber nachzudenken.
Die Helfer traten vor, drehten an dem Hahn der Urne und füllten Annas Blut in kleine Trinkgefäße, die sie auf Tabletts verteilten. Entsetzt erkannte ich, dass es Abendmahlskelche waren. Manche Diener waren sehr geschickt und fingen jeden Tropfen auf. Andere waren verschwenderisch, machten die Kelche zu voll und ließen sie überlaufen. Anna beachtete sie gar nicht, und als ich etwas sagen wollte, legte sie mir die freie Hand auf die Schulter. »Ich heile schnell, selbst jetzt noch«, sagte sie. »Mach weiter.«
Ich hatte nicht daran gedacht, die Versammelten zu zählen. Jetzt wünschte ich, ich hätte es getan. Immer mehr Kelche wurden gefüllt, verteilt und wieder gefüllt. Annas Hand lag ruhig auf meiner Schulter, weder krallte sie sich an mich noch drohte sie vor Schwäche abzurutschen. Ich war mir nicht sicher, ob ich die Zeremonie abbrechen könnte, falls Anna eine Ohnmacht drohte.
Als endlich das letzte Tablett gefüllt war und niemand mehr in der Schlange stand, kam es mir vor, als wären Stunden vergangen. Anna stand gelassen da, immer noch in makellosem Weiß, zumindest solange man das Blutbad an ihrem rechten Arm ignorierte. Da ich spürte, dass die Sache gelaufen war, hob ich den Schröpfschnepper an und sah nun zum ersten Mal, wie er sich durch die Haut und in die Muskeln von Annas Unterarm gebohrt hatte, bemerkte die zerfetzten weißen Sehnen und den hellen Schimmer des Knochens. Doch schon begann die Wunde sich zu schließen, die Sehnen fügten sich wieder zusammen, die Muskelstränge wuchsen nach.
Ich hatte diesen Prozess noch nie aus der Nähe beobachtet und keuchte überrascht. Es war ein echtes Wunder. Und als ich mich umsah, wurde mir klar, warum gerade ich für diese Aufgabe ausgewählt worden war: Die Menge war starr vor Gier. Es herrschte spannungsgeladene Stille.
»Wie ihr seht, habe ich die letzte Prüfung bestanden«, wandte sich Anna an die Zuschauer und rollte ihren Ärmel herunter. »Jenen, die sich für meine Prüfungen geopfert haben, spreche ich meinen Dank aus. Nun trinkt und seid mir zugetan.«
Einige Vampire versenkten ihre langen Zungen in den kleinen Kelchen, andere legten den Kopf in den Nacken, um jeden Tropfen aufzufangen, wieder andere rührten elegant mit ihren langen Fingern in ihrem Gefäß und leckten anschließend die Blutstropfen wie Kuchenteig davon ab. In ihren Augen war es sicher grausam, dass sie nur ein Schlückchen von Annas Blut bekamen, obwohl sie es sich doch einfach nehmen konnten. Das heißt, wenn einer von ihnen an meiner Stelle gestanden hätte und wenn sich Anna dessen Loyalität nicht so absolut sicher hätte sein können wie meiner …
Am hinteren Ende der Menge entstand Unruhe. Einige Vampire schoben sich gewaltsam nach vorne und rempelten sich dabei gegenseitig an – nicht einmal beim Zeremonienmeister, der sich inzwischen hingesetzt hatte, machten sie eine Ausnahme. Diese Neuankömmlinge waren auf die gleiche Art gekleidet wie die Sprecherin von Bathory, die sich vorhin zu Wort gemeldet hatte. Doch irgendwie wirkten sie in ihrer Aufmachung kostümiert und erweckten damit den Eindruck einer Schaustellertruppe vom Mittelaltermarkt, die gerade Freigang hatte.
»Kabinett Bathory stimmt dagegen!«
»Eure Chance ist vertan«, erklärte der Zeremonienmeister.
»Es ist unser Recht!«, beschwerte sich einer der Nachzügler. »Ich bin der Führer dieses Kabinetts, ich muss zur Abstimmung zugelassen werden.«
»Die Stimmen sind bereits ausgezählt.« Der Zeremonienmeister schien plötzlich zu wachsen und die Schatten an sich zu ziehen, bis er den freien Raum ausfüllte.
»Was wäre eurer Meinung nach akzeptabel?«, fragte Anna und schob sich vor mich. Als sie die Stimme erhob, schrumpfte der Zeremonienmeister wieder und zog sich zurück. Die Kämpfe der heutigen Nacht hatte sie auszutragen.
Der Mann, dessen Kostüm und Bauchumfang an Heinrich den Achten erinnerten, trat vor. »Genug Blut, um darin zu baden, wäre uns natürlich am liebsten.« Außer seinen Gefolgsleuten lachte niemand über diesen Witz. »Doch wir würden uns auch mit einem kleinen Opfer zufriedengeben. Vielleicht ein Angehöriger deines Hofstaats? Oder mehr Blut aus deinen göttlichen Venen.«
Mir war klar, dass Anna das Abschlachten ihres Hofstaats nicht zulassen würde. Andererseits konnte die Ablehnung durch das Kabinett Bathory ihre Position schwächen, und wenn sie nicht mehr genug Blut für weitere dreißig Herausforderer hatte, durfte sie als echter Vampir nicht zögern, ein Bauernopfer zu erbringen.
»Ich nehme eure Herausforderung an.« Anna trat noch einen Schritt vor. »Doch ich fürchte, ich kann meine Gesandte nicht noch einmal einer solchen Belastung aussetzen.« Sie warf mir einen übertrieben mitleidigen Blick zu und wandte sich dann wieder an die Menge: »Deshalb sehe ich mich gezwungen, euch alle direkt von der Quelle trinken zu lassen.«
Sie ging zu ihnen hinunter und reckte dem Mann, der ihr entgegenkam, das Handgelenk entgegen. Der witterte eine Falle. Schließlich war es ein Naturgesetz, dass jedes Beutetier selten schutzloser ist als in dem Augenblick der Nahrungsaufnahme.
»Trink«, forderte Anna. Die letzten Spuren der Schröpfwunden waren verschwunden. Der Herausforderer packte ihren Unterarm, umklammerte ihn und biss zu.
Vampire fraßen wie Haie, die schwarzen Augen weit aufgerissen und so weit verdreht, dass sie im Schädel verschwanden. Seine Fangzähne gruben sich tief in ihr Handgelenk und mit solcher Gewalt, dass ich es hören konnte. Hinter ihm sammelten sich die geifernden Angehörigen von Kabinett Bathory. Er konnte nicht einmal alles aufnehmen, was aus Annas Vene schoss, zwischen seinen zurückgezogenen Lippen quoll das Blut hervor und tropfte auf den Boden.
Andere, neidische Vampire wurden langsam unruhig, und nicht alle von ihnen gehörten zu den Bathorys. Falls das hier zu einem Blutbad ausartete, hatte ich keine Chance.
Annas Herausforderer schloss genüsslich die Augen. Und in dem Moment schlug sie ihm den Kopf ab. Ohne ihre Position zu verändern oder sich sonst irgendwie zu verraten, rammte sie ihre Hand durch seinen Hals. Vielleicht war er zu trunken von ihrem Blut oder benommen durch die Macht, die von ihm ausging, … im einen Moment stand er noch über Anna gebeugt da und trank, im nächsten hing sein Kopf noch an ihrem Arm, während der Rest seines Körpers auf dem Boden aufschlug.
Doch er zerfiel nicht zu Staub – aus dem offenen Halsstumpf lief immer noch Blut. Kabinett Bathory drängte sich zusammen, fassungslos und bestürzt. Anna versetzte dem leblosen Körper einen Tritt, sodass er auf sie zurollte.
»Trinkt von ihm, so trinkt ihr durch ihn von mir. Versiegt mein Blut in ihm, so werdet ihr nur noch Staub bekommen, und wer von euch nicht zu mir gehört, wird sterben.«
Sie fielen wie die Wölfe über ihn her. Reißender Stoff wurde abgelöst durch das Geräusch von schmatzendem Fleisch, dann knackten Knochen. Anna löste den Kopf von ihrem Handgelenk und ließ ihn los. Noch bevor er den Boden erreichte, zerfiel er zu Staub und beschmutzte ihr Kleid. Dann passierte dasselbe mit dem Rest des Körpers und die Bathorys, die noch nicht getrunken hatten, heulten auf.
Anna wandte sich an den Zeremonienmeister: »Bin ich nun ein Mitglied des Sanguiniums oder nicht?«
Seine Lippen verzogen sich zu einem grausamen Lächeln. Er drehte sich zu jenen Vampiren um, die ich bisher für Dienstboten gehalten hatte, da sie die Tabletts trugen, und einer nach dem anderen nickte. Die restlichen Mitglieder des Sanguiniums waren also die ganze Zeit unter uns gewesen. Die Vampire hatten das natürlich gewusst, doch mir wurde es erst jetzt klar. Als er sprach, entblößte er schwarze Zähne: »Falls du noch keines warst, als du hierherkamst, bist du nun zu einem geworden.« Er musterte die Bathory-Vampire, die inzwischen die letzten Blutstropfen vom Boden aufleckten und dabei jede Menge Staubflocken fraßen. »Wir werden uns jetzt um die Herde kümmern.«
Schnell schloss ich die Augen. Ich wollte absolut nicht sehen, was nun kam.