Kapitel 51
Nach mehreren Ja-Nein-Fragen hatte Brandon uns überzeugt, dass wir höchstwahrscheinlich überleben würden, wenn wir mit ihm an die Oberfläche gingen. Doch erst als wir ihm aus der Schneewehe gefolgt waren, wurde mir klar, warum er sich dessen so sicher war: Er hatte ein paar Freunde mitgebracht – zwanzig ausgewachsene Bären in verschiedenen Größen und Farben, aber alle von kolossalem Ausmaß und extrem zottelig. Sie bildeten einen rautenförmigen Schutzwall um uns und führten uns von den Laderampen zur Vorderseite des Krankenhauses.
Ich hatte keine Ahnung, wo wir hingehen oder wie wir diese Sache bereinigen sollten. In der Klinik hinter uns heulte immer noch der Werwolftrupp. Kurz fragte ich mich, ob Jake wohl einer von ihnen war – und ob die Schatten in dem Moment, als sie die Stadt verlassen hatten, aufgehört hatten, ihn vor seiner eigenen Dummheit zu schützen. Wir steuerten erst mal den Besucherparkplatz an, der von einer Baumreihe eingerahmt war. Kaum waren wir dort angekommen, löste sich eine Gestalt aus ihrem Schatten.
»Ich hatte mich schon ernsthaft gefragt, ob du dieses Chaos überleben würdest, Edith«, stellte der Vampir mit Sichel und Trenchcoat fest, der einen riesigen Sack hinter sich herzog – Dren. Welch ein Anblick für meine müden Augen. Er rief mir wieder ins Bewusstsein, dass wir Sike verloren hatten, und plötzlich fiel es mir schwer, Luft zu holen. Dren kam auf uns zu und schleifte seine Beute hinter sich her. »Wie ich hörte, ist für unser liebes Kind alles gut verlaufen. Ich glaube, ich habe hier etwas, das sie interessieren dürfte.«
Brandon erhob sich auf die Hinterbeine und brummte drohend.
»Still, Vieh. Mit dir kämpfe ich nicht.« Dren legte die Hand auf die Sichel und sah sich wachsam um. Hinter ihm wandten sich die Werwölfe plötzlich von der Klinik ab und liefen in unsere Richtung – sie hatten uns gerochen. In diesem Moment tauchte ein Auto auf und bremste auf dem Parkplatz so hart ab, dass es durch den Schnee rutschte.
»Gehören Sie zu uns oder zu denen?«, wollte Meaty von Dren wissen.
»Wenn er weiß, was gut für ihn ist, gehört er zu uns.« Anna stieg aus dem Wagen und sah mich prüfend an. »Ich weiß das mit Sike.«
Ich schluckte schwer. »Es tut mir leid.«
Trauer huschte über Annas Miene, wurde aber schnell von Wut verdrängt. »Ich hätte sie zum Vampir machen sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte. Welcher Wolf war es?«
Es gab nur einen Grund, warum sie diese Frage stellte: Damit sie ihn töten konnte. Und mir war das völlig egal. »Helen, die Matriarchin. Sie ist grau-gelb.«
»Und welchem Zweck dient das alles hier?« Anna breitete die Arme aus, um das Gemetzel im Krankenhaus einzubeziehen. Als ich mich umdrehte, entdeckte ich hinter einigen Fenstern winzige Lichtpunkte, die schnell größer wurden – Feuer.
»Ich denke, ich hätte hier jemanden, der diese Frage beantworten kann.« Dren trat gegen den Sack. »Anna, darf ich dir als neuestem Mitglied des Sanguiniums einen Vertreter von Kabinett Grey vorstellen? Er war es, der Winter das Blut gegeben hat. Sein eigenes Blut, um genau zu sein.«
Irgendwie freute es mich, dass der Blutstropfen, den ich Dren verschafft hatte, von solchem Nutzen gewesen war.
»Ohne Spürhund hat es ziemlich lange gedauert, ihn ausfindig zu machen.« Dren griff in den Sack wie ein Zauberer, der ein Kaninchen aus dem Hut zieht, und zerrte einen Mann hervor. Graue Haare, graue Brille, grauer Anzug, graue Krawatte – er hatte die Farbe des untergehenden Mondes. »Zum Glück war er einer von denen, die hier rumgerannt sind, um den Werwolfmob zu lenken.«
»Lass mich los, du viehischer Bastard«, beschwerte sich der Neuankömmling. Dren rammte ihm ein Knie in die Brust und zwang ihn dann, sich vor Anna auf den Boden zu knien.
»Nur selten sieht man einen der euren bei Nacht … oder überhaupt.« Sie krallte die Finger in seine kurzen grauen Haare. »Was soll das Ganze?«
»Alles Teil eines größeren Spiels.«
»Leck mich! Ich habe eine Freundin verloren, also sag mir die Wahrheit, oder du wirst es bereuen.«
»Was kannst du mir schon antun, Kleine?«
»Gut, dann nagele ich dich eben auf meine Motorhaube, wenn das nächste Mal die Sonne rauskommt …«
Der graue Vampir lachte. »Wann scheint hier denn schon mal die Sonne?«
»Schneid ihm den Arm ab, Dren.«
»Wie Sie wünschen, Sanguina.« Ohne zu zögern nahm Dren seine Sichel und trennte den Arm des grauen Vampirs direkt an der Schulter ab. Das Körperteil zerfiel zu Staub, und ein leerer Ärmel segelte zu Boden.
»Ich meinte den anderen«, sagte Anna.
Dren setzte sich in Bewegung, doch in diesem Moment sprang ein Wolf auf das Dach des Autos, über die Barrikade der Werbären hinweg und in unsere Mitte. Er riss Anna von den Füßen. Er hatte grau-gelbes Fell und war fast so groß wie der Wagen.
»Du …« Anna hatte sie erkannt und schrie vor Wut. Helens Flanke war blutverschmiert, was bewies, dass Sike nicht kampflos untergegangen war. Anna sprang auf und stürzte sich auf Helen, die geschickt zur Seite auswich. Die Wölfin griff sofort an, gleichzeitig wechselte Anna die Richtung und packte Helens Vorderpfote. Sie riss so heftig daran, dass der Knochen knirschend aus dem Gelenk sprang, brach und sich durch die Haut bohrte. Heulend schnappte Helen nach Anna, die tänzelnd zurückwich. Einen Moment später war die Pfote wieder gerade und der Knochen an seinem Platz. Wieder sicher auf vier Pfoten ging Helen erneut zum Angriff über.
»Kennst du die alle?«, fragte mich Gina flüsternd. Ich nickte.
Anna stürmte so schnell los, dass ich sie kaum erkennen konnte. Wie ein verschwommener Schatten in dieser irren Nacht rammte sie Helens Flanke und riss wutentbrannt an ihrem Fell. Doch kaum hatte sie ihr eine Wunde zugefügt, heilte Helen schon wieder. Schließlich konzentrierte sich Anna auf ihren Hals und versuchte, ihr das Genick zu brechen. Die Wölfin buckelte wie ein Wildpferd und schleuderte Anna herum. Die krallte sich fest, fuhr ihre Zähne aus und versenkte sie in Helens Hals. Bei jedem Biss floss Blut aus den Wunden, und Anna biss immer und immer wieder zu, genauso schnell wie Helen sich heilte. Das Gefühl, wie sich diese Zähne in die Haut bohrten, kannte ich nur zu gut, schließlich war ich auch einmal von ihr gebissen worden. Und jetzt nagte sich Anna durch das dicke Fell bis auf den Knochen durch.
Als Helen schließlich zusammenbrach, kauerte sich Anna über sie. Die Wunde am Hals der Wölfin war jetzt so breit, dass die Vampirin die Hände hineinschieben konnte. Die Wundränder wollten sich immer wieder schließen, aber Anna hinderte sie daran und hielt die Wunde offen. Helen heulte frustriert und schlug mit dem Kopf – bis ihr Geheul beantwortet wurde.
Jorgen drängte sich zwischen den Bären hindurch und heulte noch einmal.
»Ist das jetzt ein Mannschaftssport? Ich kann schlecht Herrn Grey hier bewachen und gleichzeitig mitspielen«, beschwerte sich Dren.
»Genug!«
Anna, Helen und Jorgen wurden zurückgeschleudert, als drücke sie jemand an eine Mauer.
»Ich werde diese Unverfrorenheit nicht länger dulden!« Meatys Stimme klang fremd, in ihr schwang etwas Altes, Wildes mit.
Meaty bückte sich, riss den Schatten eines nahen Baumes an sich wie ein Stück Stoff und schleuderte ihn über uns in die Luft. »Die einzige Magie sei die meine.« Als der Schatten unsere Gruppe komplett eingeschlossen hatte, waren wir in völlige Dunkelheit getaucht, doch dann begann Meaty, unheimlich zu glühen. Gina und Rachel wichen hastig zurück. »Der Mond hilft euch nicht mehr. Nun werdet ihr alle Rechenschaft ablegen für eure Verbrechen.« Meaty zeigte auf Helen, deren Wolfsgestalt verschwand und sie nackt zurückließ. Jorgen verwandelte sich ebenfalls, das Tier in ihm zog sich zurück, bis nur noch der Mann vor uns stand. Und wie Schemen konnte ich außerhalb unseres Gefängnisses die anderen Werwölfe wahrnehmen. »Doch zuvor …«
»Wer bist du?«, fragte Anna.
»Dieser Körper ist recht alt, er passt mir gut.« Meaty musterte die beiden dicken Arme, als wäre es das erste Mal. Dieses Wesen sah nicht mehr wirklich aus wie Meaty. Die körperliche Erscheinung meiner Stationsschwester war von Licht umgeben, das jedoch irgendwie seltsam wirkte. »Um deine Frage zu beantworten, Blutsklave: Ich bin ein Avatar des Konsortiums. Dieser Körper war – abgesehen von den Fellträgern – als Einziger im näheren Umkreis groß genug, um mich aufzunehmen.« Meaty sah sich suchend um. Ich wollte lieber nicht wissen, wonach.
»Du da.« Meaty drehte mit dem Fuß einen Stein um. »Komm rauf und erkläre dich.«
Jeden anderen hätte ich für total irre gehalten, wenn er mit dem Boden sprach. Aber ich hatte so eine Ahnung, bei wem da gerade geklopft wurde.
Am Fuß des Baumes liefen dunkle Flecken zusammen, verdichteten sich zu einer ölartigen Substanz und formten schließlich eine hüfthohe Gestalt.
»Euer Gnaden, ehrenwerter Doktor Swieten …«, setzte die Teerfigur an. Obwohl die Schatten eigentlich formlos waren, kam es mir so vor, als würden sie katzbuckeln.
»Wagt es nicht, mich beim Namen zu nennen, als würden wir uns kennen, Dunkle.« Das Strahlen rund um Meaty verstärkte sich.
»Niemals wieder, Doktor, niemals wieder. Bitte, zeigt Gnade.« Die Schatten dünnten sich aus und versanken im Angesicht dieser Helligkeit ein Stück weit im Boden.
»Ihr wisst sehr gut, wie wertvoll dieses Gebiet ist. Was könnte so wichtig sein, dass ihr euren Posten verlasst?«
»Santa Muerte ist entflohen. Wir mussten sie aufspüren.«
Meatys glühende Gestalt zog eine Augenbraue hoch. »Und wart ihr erfolgreich?«
»Nein!« Hundertfaches Wimmern in einem Wort vereint. »Sollte es ihr gelingen …«
Der Avatar des Konsortiums winkte mit einer glühenden Hand ab. »Eure Torheit ist keine Entschuldigung hierfür. Brecht eure Suche ab und beseitigt das Chaos, das hier angerichtet wurde.«
Es tat gut zu sehen, dass es etwas auf der Welt gab, das die Schatten fürchteten. Doch dann wurde mir eines klar: Wenn sie sich fürchteten, sollte ich das besser auch tun. Das Geheul hinter uns war verklungen, und die Werwölfe außerhalb unseres Kreises verhielten sich ruhig. Aber es kam mir nicht so vor, als würden sie abwarten, für sie schien vielmehr die Zeit stehen geblieben zu sein. Vergeblich suchte ich die Gruppe nach Jake ab.
Meaty streckte einen Arm Richtung Krankenhaus aus. »Diese vergifteten Menschen waren nie dazu bestimmt, Formwandler zu werden, Schatten. Heilt sie oder tötet sie.« Damit ließ das Strahlen des Avatars nach und mit ihm schwand auch das Gefühl, einer fremden Macht gegenüberzustehen.
»Warte!«, schrie ich. Gideon legte mir eine Hand auf den Arm, um mich zurückzuhalten. »Was ist mit dem Rest?«
Das Licht erstrahlte wieder, und der Avatar des Konsortiums musterte mich herablassend durch Meatys Augen. »Überall in der Stadt wurden zusätzlich rätselhafte Brände gelegt, um das Chaos zu erklären. Für alles, was nun noch bleibt, werdet ihr sicher eine Lösung finden.« Meaty warf Anna und Helen einen durchdringenden Blick zu, dann schwand das Licht wieder. Der Schatten über uns blieb allerdings bestehen. Als alles vorbei war, taumelte Meaty erschöpft und wurde von Gina aufgefangen.
Anna ging zu Helen hinüber. Ihre Tiergestalt war verschwunden, doch Sikes Blut klebte noch an ihren Händen. Jorgen legte den Arm um sie.
»Deine Dienerin hat tapfer gekämpft, aber …« Helens Worte klangen entschuldigend, ihre Stimme jedoch nicht.
»Ich habe sie geliebt.«
»Dann stimmt mit dir irgendetwas nicht. Vampire lieben nicht«, erklärte Jorgen. Unter seiner Haut zuckten Muskeln – ob mit oder ohne Fell, man durfte ihn nicht unterschätzen. Er drückte Helen schützend an sich. In einiger Entfernung setzte das unheimliche Heulen wieder ein.
»Was wurde mit ihrem Blut erkauft?«, fragte ich, weil ich die Bestätigung brauchte, dass es nicht umsonst vergossen wurde.
»Kabinett Grey hat uns zugesichert, dass sie uns ihr Blut geben würden, wenn wir zuvor das Blut von hier für sie stehlen. So wie sie es auch schon Winter gegeben hatten, um sein Leben zu verlängern.« Helen suchte den Blick des Abgesandten der Greys. »Ihr Teufelspakt mit meinem Vater hat meinen Mann das Leben gekostet. So wie ich meinen Mann liebte, habe ich meinen Vater gehasst, da er ihn getötet hat.« Dann löste sie sich aus Jorgens Armen und warf sich Anna zu Füßen. »Zeige Gnade. Wir werden Buße tun.«
Der graue Vampir hüstelte. »Eure Rührseligkeit ist höchst ungebührlich.«
»Dren, sei so gut und töte ihn«, bat Anna den Schäler.
Der zögerte. »Sein Tod könnte dir viele Feindschaften einbringen, Sanguina. Feindschaften, die du zu diesem Zeitpunkt deiner illustren, fünf Stunden alten Laufbahn vielleicht noch nicht pflegen möchtest.«
»Das kümmert mich nicht.«
Dren zuckte mit den Schultern und drückte seine Sichel an die Kehle des Grauen. »Wollt ihr nicht wissen, was mit Santa …«, setzte der an, doch Anna schaute nicht einmal hoch. Der Schäler zog den Arm durch, und der Vampir löste sich in eine Staubwolke auf.
Das Wolfsgeheul wurde lauter, die Macht des Schattens schwand. Anna konzentrierte sich nun auf Helen. »Ein solches Mahl bot sich mir noch nie. Kein Wunder, dass wir euresgleichen einst als Haustiere hielten. Vielleicht sollte das deine Bestrafung sein: Ich kette dich ans Fußende meines Bettes und sauge dich jede Nacht aus.«
Plötzlich tauchte Lucas als Wolf vor unserem Kreis auf und nahm die Barriere mit einem Sprung. Die Tiergestalt verließ ihn dabei genauso mühelos, wie sie wohl gekommen war. Er landete in der Hocke, mit beiden Händen aufgestützt. Ihm folgten noch zwei weitere Werwölfe.
»Ihre Bestrafung steht uns zu.« Er erhob sich und sah Helen vorwurfsvoll an. »Was hast du dir nur dabei gedacht? Wie konntest du uns eine solche Schmach zufügen?«
»Mein Vater hat meinen Mann umgebracht, um sein Geheimnis zu bewahren und sich ein paar zusätzliche Jahre zu erkaufen. Fenris, mein geliebter Fenris, musste sterben, weil mein Vater sich heimlich Vampirblut zunutze machte, was niemand wissen durfte.« Helen nahm eine Handvoll Schneematsch und schleuderte sie Lucas vor die Füße. »Fenris Junior war zu jung, um das Rudel zu führen, und eine Frau würden sie nie zum Leitwolf wählen. Also musste ich den Dreckskerl so lange am Leben lassen, bis die Stellung meines Sohnes gesichert war – und plötzlich ernannte er Lucas zu seinem Nachfolger!« Wütend verzog sie das Gesicht. »Da habe ich selbst einen Pakt mit Kabinett Grey geschlossen und ihnen versprochen, eine Armee aufzustellen, um an dieses Blut heranzukommen. Daraufhin haben sie meinem Vater weiteres Vampirblut verweigert. Jorgen hat ihn überfahren, aber das Schwein wollte trotzdem nicht sterben. Fast wäre alles ruiniert gewesen. So lange habe ich gewartet und mich in Geduld geübt, und wofür?«
In Lucas’ Miene spiegelten sich Mitleid und Entsetzen. »Ich habe dir doch versichert, dass ich nur übergangsweise das Rudel anführen werde. Warum hast du mir nicht geglaubt?«
»Niemand gibt freiwillig einen Thron auf!«
Lucas ballte die Fäuste. »Ich bin nicht wie er, Helen.«
»Das sagen alle Männer.«
Anna baute sich vor Lucas auf. »Ich fordere ihr Leben. Ein Leben für ein Leben – so hielt man es in alten Zeiten.«
»Wir werden sie nach unserem Ermessen strafen. Nimm Jorgen statt ihrer.« Die Werwölfe, die Lucas begleitet hatten, packten Jorgen, der sich heftig dagegen wehrte.
»Nein!« Helen schrie auf und griff nach ihm, als er weggeschleift wurde.
»War er es, der dich angegriffen hat, Edie?«, fragte Anna. Ich nickte. »Dann akzeptieren wir ihn stattdessen. Er wird so sterben, wie du es wünschst.«
Ich wich zwei Schritte zurück. »Und … wenn ich es gar nicht wünsche?«
Sie kniff warnend die Augen zusammen. »Sike ist sicher nicht gestorben, damit er leben kann.«
Sprachlos starrte ich sie an.
Ich konnte Patienten mit Nadeln traktieren, schmerzhafte Wunden reinigen und ein schreiendes Baby festhalten, um ihm eine Magensonde in die Nase zu schieben – ich konnte sogar einem Vampir Blut abzapfen. Aber konnte ich ganz allein den Tod eines Mannes befehlen?
»Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte, Ladys«, meldete sich Dren zu Wort. »Ich wollte schon immer einen Werwolf als Spürhund haben.«
Anna sah mich fragend an, dann drehte sie sich zu Dren um. »Tu es.«
War das besser als der Tod? Tatenlos sah ich zu, wie Dren Jorgen an sich riss. Da wusste ich: Das würde ich für den Rest meines Lebens bereuen. Dren zerrte ihn aus dem Kreis heraus in die Dunkelheit, sodass ich die beiden nicht mehr sehen konnte. Aber ich hörte Jorgen aufschreien.
»Nein …«, flüsterte Helen. »Samson, Lars, Nichola … Als sie wissen wollten, wie Winter so lange leben konnte, hat er einige von ihnen mit Blut bestochen. Nehmt einen von ihnen!«, flehte sie. Am äußersten Rand des Rudels lösten sich ein paar Werwölfe aus den Schatten und rannten davon.
Lucas schnippte mit den Fingern, woraufhin andere Wölfe die Verfolgung der Verräter aufnahmen. »Wer sonst noch?«
»Niemand!«, rief sie.
»Nun gut. Dann werden wir ein Urteil fällen.«
Aus den Reihen des Rudels erhob sich ein fiependes Knurren. Helen wurde bleich. »Fenris, nicht …«
Fenris Junior kam in den Kreis gerannt, erst auf vier Beinen, dann auf zweien, und ließ sich vor seiner Mutter auf die Knie fallen. »Tut ihr nicht weh!«
Lucas bückte sich, packte den Jungen im Nacken wie einen Welpen und hob ihn hoch.
»Nein, Lucas – nicht«, hauchte Helen.
»Die Ehre des Rudels verlangt, dass deine Blutlinie bestraft wird – also ihr beide.« Die Kreaturen außerhalb des Kreises schoben ihre Zähne und Klauen hinein, packten Helen und zogen sie mit sich in die Dunkelheit. Lucas schleuderte Fenris Junior zu Boden. Der Junge schlug hart auf und blieb wie ein Häufchen Elend liegen. Wütend stellte ich mich vor ihn.
»Das kannst du nicht machen, Lucas. Er ist noch ein Kind.«
»Geh mir aus dem Weg, Edie.«
»Ich werde das nicht zulassen.« Hilfe suchend schaute ich zu Anna, doch die hob entschuldigend die Arme, um mir zu zeigen, dass ihr die Hände gebunden waren. »Wenn du ihn tötest, wirst du das ewig bereuen!«
»Ich werde es ewig bereuen, wenn ich ihn leben lasse. Denn dann werde ich für immer der Rudelführer sein, der entehrt wurde.«
»Na und? Das bedeutet nichts! Für niemanden!!« Ich half Fenris Junior auf die Beine und schob ihn hinter meinen Rücken.
Immer mehr Wölfe und Wolfsmenschen kamen angepirscht, und einer von ihnen schob sich zwischen den Bären hindurch. Sein Fell war schwarz mit weißen Flecken. Als er den Kreis überschritt, verschwand der Wolf und ließ Viktor zurück. »Für mich schon. Diese Blutlinie hat ihr Recht verwirkt, unser Rudel anzuführen.« Viktor stellte sich mitten in den Kreis und brüllte so laut, dass ihn alle hören konnten. »Ich habe alles aufgeklärt, restlos. Aber niemand von euch wollte mir zuhören. Deshalb habe ich einen der Drogendealer befragt und dabei herausgefunden, dass er seine Droge – das Luna Lobos – direkt von Jorgen bekommen hat. Hier ist er.« Der Werwolf zerrte an einem Mann und schubste ihn so hart, dass er auf die Knie fiel.
Jake. Mir blieb fast das Herz stehen. Aber warum war er nicht mit den ganzen anderen verrückten neuen Werwölfen hier draußen unterwegs herumgeirrt? Die Schatten hatten sich wohl zumindest darum gekümmert. Momentan starrte Jake noch auf den Boden, aber bald würde er hochschauen und mich sehen.
Viktor fuhr fort: »Du bist kein Anführer, Lucas. Sieh dir doch nur an, was für ein Chaos im Rudel herrscht, wie viele Verräter es beherbergt. Töte den Jungen – und dann kämpfe mit mir um dein Rudel.«
Lucas musterte Viktor, der nun stolz durch den Kreis marschierte. »Für wen hältst du dich eigentlich? Willst mir sagen, was ich zu tun habe?«
Viktor schlug sich prahlerisch auf die Brust. »Ich habe mir jeden deiner Kämpfe angesehen, ich kenne all deine Schwachstellen. Und das wird sich nun auszahlen!«
Lucas kam auf mich zu, als wollte er sich Fenris holen. Der ging hinter mir in Deckung und schaffte es so bis zum Rand des Kreises. Ich hörte ihn knurren, als er sich verwandelte, dann sein ängstliches Fiepen, das durch seine Flucht schnell leiser wurde. Erst sah es so aus, als wollte Lucas ihm nachsetzen, doch dann wirbelte er herum, war mit zwei Schritten bei Viktor und rammte ihm die Faust mit so viel Wucht in den Magen, dass sein Herausforderer fast in die Luft geschleudert wurde. Als der sich aufrichtete, zog Lucas ihn mit sich hoch, und plötzlich verschwand seine Hand in Viktors Brust. »Sieht so aus, als gehöre dein Herz mir.«
Viktor konnte nichts erwidern. Sein Gesicht war knallrot und seine Rippen schienen den Brustkorb zu sprengen, so krampfhaft rang er um Luft. Lucas blieb unbeeindruckt.
»Niemand sagt mir, wie ich mein Rudel zu führen habe.« Damit schleuderte er Viktor aus dem Kreis, der sich sofort wieder in den schwarzen Wolf zurückverwandelte. »Heile – und dann verschwinde. Wage es nie wieder, dich in mein Rudel zu drängen.«
Lucas musterte seine Anhänger und breitete fordernd die Arme aus. »Wäre das damit geklärt? Oder möchte noch jemand vortreten?« Niemand rührte sich. »Gut. Jetzt bringt Junior sicher nach Hause. Keiner von euch wird ihm auch nur ein Haar krümmen.«
Dann drehte er sich um und streckte mir seine blutverschmierte Hand entgegen. Da ich heute ja schon eine Werwolfimpfung bekommen hatte, ergriff ich sie. »Du wurdest in der falschen Spezies geboren«, meinte er.
Erleichtert und völlig erschöpft sackte ich zusammen. »Das glaube ich nicht.«