Kapitel 48

 

Sobald sich die Fahrstuhltüren auf Y4 öffneten, schlug Gideon und mir Geheul entgegen. Er half mir, durch die Doppeltür zu hinken.

Als ich die Station betrat, sah Meaty vom Tresen auf. »Edie? Geht es dir gut? Du siehst grauenhaft aus.«

Gina kam um die Ecke und schenkte mir ein Lächeln, bevor sie auf Gideon zeigte. »Wer ist das?«

»Ein Freund. Lange Geschichte.« Ich humpelte zum Tresen. Gideon nahm seinen Hut ab, wanderte durch den Gang und sah sich aufmerksam um.

»Was ist los?«, fragte Meaty, als ich mich vorsichtig auf einen Stuhl sinken ließ.

»Das könnte ich euch auch fragen: Der Rest des Krankenhauses wird gerade evakuiert, da oben wurde ein Code Triage ausgerufen. Sie nehmen niemanden mehr auf und schicken alle nach draußen.«

»Eins nach dem anderen. Erzähl mir erst, was dir passiert ist, von Anfang an«, forderte Meaty.

Ich fasste zusammen, was in den vergangenen zwei Tagen alles geschehen war. Die Sache mit Gideon und Veronica, den Sex mit Lucas oder die Details des Blutbads der heutigen Nacht ließ ich weg. Aber meine Kollegen hatten ein Recht zu erfahren, warum ich voller Blut war. Das erklärte ich ihnen.

»Also bin ich hergekommen, um mir die Werwolf-Impfung zu holen, aber dann habe ich das Chaos da oben gesehen …«

»Hat der Typ dich erwischt?«, unterbrach mich Gina.

»Was genau verstehst du unter erwischt?« Ich hob die Hand, an der Jorgens Zähne ihre Spuren hinterlassen hatten. Zwei der Knöchel waren offen und bluteten. Kombiniert mit den Kratzern an meinem Oberschenkel …

»Mist«, schimpfte sie. »Und das bei Vollmond! Du brauchst das komplette Programm.« Damit stand sie auf, ging zum Medikamentenschrank und suchte diverse Schachteln zusammen.

Meaty seufzte schwer. »Laut Vorschrift müssen wir die Türen verrammeln und die Evakuierung aussitzen. Der Zugang zu unserer Station ist ja sowieso streng reguliert, schließlich kann niemand einfach so bei uns reinplatzen.«

»Auch wenn die Schatten weg sind?«

Gina fiel mir ins Wort: »Was? Die Schatten sind weg?«

Meaty wich ihrem Blick aus. »Edie und ich dachten, es wäre besser, dieses Detail geheim zu halten.«

Ich konnte mich zwar nicht daran erinnern, gefragt worden zu sein, aber jetzt war das Kind bereits in den Brunnen gefallen. Hinter uns, im neu eröffneten Werwolfflügel, kümmerte sich der Mond um seine Kinder. Zwischen den Heulern hörte ich Krallen auf den Fliesen schaben und hin und wieder einen dumpfen Knall, wenn ein Wolfsmensch sich gegen seine Zimmertür warf. Mir machte weniger Sorgen, was bei uns reinplatzen konnte, sondern mehr, was gerade ausbrechen wollte.

»Wer beaufsichtigt den Zoo?«, fragte ich.

»Rachel«, antwortete Gina, die gerade mit den präparierten Spritzen zu uns zurückkehrte.

Ich griff zum Handy. »Darf ich vorher ein paar Freunde anrufen?«

»Bist du ganz sicher, dass es Freunde sind?«, vergewisserte sich Meaty.

»Nach allem, was ich heute Nacht durchgemacht habe, sollten sie besser welche sein.«

Doch ich rief nicht an, sondern schickte zwei wortgleiche SMS – erst an Sike, dann an Lucas: »Im Krankenhaus stimmt was nicht. Kannst du kommen?«

Sike antwortete sofort: »Bin unterwegs.« Von Lucas, der gerade wahrscheinlich weder Telefon noch Daumen hatte, kam keine Reaktion.

Gleich danach rammte mir Gina die erste Impfdosis in den Arm, direkt in meinen Deltamuskel.

»Verfluchte Scheiße, das tut weh!« Allerdings weniger die Nadel, sondern mehr das Brennen, das sich von der Einstichstelle her ausbreitete. Ich fühlte mich, als hätte mir jemand einen Schlag verpasst.

»Sei bloß froh, früher wurde das Zeug in den Bauch gespritzt.«

Meaty suchte online nach Neuigkeiten. »Ich finde auch hier nichts über unseren Code Triage. Gina, verrammele die Türen.«

Gina ging zielstrebig auf das Rohrpostrohr zu und schob suchend ihre Hand hinein. Dann zog sie einen Metallhebel herunter, sodass er einrastete. Anschließend ging sie von Raum zu Raum und betätigte weitere versteckte Riegel.

»Wo steckt eigentlich Mr. Hale?«, fragte ich sie, als sie zurückkam. Charles’ Tageslichtagent war nicht in seinem Zimmer.

»Der ist vor ungefähr einer Stunde eine rauchen gegangen. Sobald er weg war, haben sie angefangen zu heulen.«

Von den Gehegen drang ein Schrei herüber – Rachel. Gina sprintete sofort los, Meaty folgte ihr eilig. Ich ebenfalls, aber wesentlich langsamer. »Wer ist das? Und was macht er bei meinen Patienten?«, rief Rachel. Sie zeigte auf Gideon. Das fluoreszierende Licht schmeichelte meinem Begleiter nicht gerade: Es betonte die Fremdkörper, die sich unter seiner Haut wanden, obwohl sie eigentlich gar nicht da sein sollten.

»Tut mir leid, er will nur helfen, ehrlich«, sagte ich schnell, woraufhin Gideon zu mir trat und mir wieder seinen Arm anbot.

»Sind diese Zimmer alle gesichert?«, fragte Meaty.

»Natürlich.«

Via Monitor konnte ich die Insassen sehen, die stillen Männer und Frauen von gestern, die nun halb Mensch, halb Tier waren – und alle stinksauer. Als sie unsere Stimmen im Flur hörten, verdoppelten sie ihre Anstrengungen, zum Spielen zu uns rauszukommen.

»Jetzt ist es zu spät, um ihnen die Impfung zu geben, oder?«, fragte ich.

Rachel warf mir einen ironischen Blick zu. »Würdest du gerne eine dieser Türen öffnen?«

»Absolut nicht.« Aber da war noch etwas. Ich deutete mit dem Kopf auf Winters Tür. »Ist der Gerichtsmediziner eigentlich gekommen?«

»Nein. Wir haben zweimal angerufen, aber es ist Feiertag«, antwortete Gina.

Es musste eine Verbindung zwischen all dem geben – den Angriffen auf mich, dem Angriff auf Anna, Viktors Vergangenheit und Lucas’ Zukunft. Entweder hatte Winter die Antwort mit ins Grab genommen, oder sie wartete hinter seiner Tür auf mich.

»Gina, komm mit. Du auch, Gideon.« Wir gingen zusammen zu Winters Zimmer.

Sobald wir drin waren, schaltete ich alle Lichter ein – es gab jetzt keinen Grund mehr für Diskretion. Als ich die Decke zurückschlug, gesellte sich zu dem Nekrosegeruch, den bereits die Werwölfe bemerkt hatten, der Gestank der Exkremente, der letzten Entwürdigung im Tod, die wie nasser Zement an ihm und den Laken klebten.

»Wonach suchen wir?«, fragte Gina.

»Ich bin nicht sicher.«

»Ich habe jedenfalls keine Lust, dir die Impfung zweimal geben zu müssen.« Sie reichte mir ein Paar Latexhandschuhe, die ich brav anzog. Nur eine Krankenschwester riss im Angesicht des Todes noch Witze, und ich hätte sie dafür küssen können.

Sein nackter Körper wies keinerlei Bissspuren auf, anders als die lizenzierten Spender der Vampire, deren Nacken, Achseln und Lendengegend so oft verletzt wurden, dass sie irgendwann total vernarbt waren. Winters Zugänge waren unverändert, sogar der Endotrachealtubus. Was war es? Was entging uns?

Ich ließ meine Hand über seine Brust und Arme gleiten, dann über die Beine bis zu seinem verbliebenen großen Zeh. Anschließend klopfte ich gegen seine nekrotische Fußsohle, in der Erwartung, dass sie sich wie eine überreife, faulige Tomate anfühlen würde.

Sie zerfiel zu Staub.

Nicht komplett, aber die Spitzen seiner Zehen zerbröselten. Als ich noch einmal dagegenschlug, stieg wieder Staub auf; als würde ich beim Frühjahrsputz einen alten Teppich ausklopfen.

»Hast du das gesehen?«, fragte ich Gina und wiederholte das Spektakel.

»Er ist ein Tageslichtagent«, flüsterte Gina erstaunt. »Kein Wunder, dass er so alt geworden ist.«

»Warum wussten wir das nicht?«

»Macht man bei Männern Schwangerschaftstests? Wir gehen einfach davon aus, dass Werwölfe nicht auch Vampire sind. Und bis jetzt hatten wir damit immer recht.« Sie klopfte jetzt selber gegen Winters Fuß, dann auch noch gegen seine Hand. Es staubte erneut, und ein Teil seines Handgelenks löste sich auf.

»Mist. Das ist das Geheimnis, das sie schützen wollten«, erklärte Gina.

»Gestorben ist er aber trotzdem. Wen juckt es also?«

»Winters Familie – wenn das rauskommt, ist das eine Riesendemütigung für sie. Sie würden die Herrschaft über das Rudel verlieren.« Gina begann auf und ab zu wandern, während sie nachdenklich fortfuhr: »Andererseits haben sie die ja schon verloren – jetzt wird schließlich Lucas Rudelführer.«

»Aber nur übergangsweise, bis Fenris Junior volljährig ist«, wandte ich ein.

»Das ist in fünf Jahren, da kann viel passieren.«

Plötzlich erschien Rachel an der Tür. »Übrigens: Ich habe im Konferenzraum nach Helen gesucht. Sie hat die Tür zertrümmert und ist verschwunden.«

»Ich wüsste nur zu gerne, welcher Vampir Winter Blut gegeben hat«, überlegte Gina weiter. Gideon stand am Kopf des Bettes und starrte auf Winters Leichnam. Er beugte sich kurz vor, als wollte er ihm einen lippenlosen Kuss aufdrücken.

Gina tigerte weiter hin und her. Ich hätte gerne mitgemacht, aber meine Oberschenkel taten immer noch bei jeder Bewegung weh, und dank der Wer-Impfung fühlte sich meine Schulter an, als hätte mich ein Lastwagen gerammt.

»Als Charles und ich ihn gesehen haben, kurz vor dem Unfall, da kam Winter aus Richtung Krankenhaus. Was zur Hölle wollte er überhaupt hier?«

Gina blieb abrupt stehen. »Welche Stationen haben Videoüberwachung?«

Nachdenklich musterte ich Gideon. »Ich denke, ich kenne da jemanden, der das herausfinden könnte.«

Wir setzten Gideon an den schnellsten Computer der Station. Er zog das Ende eines USB-Kabels aus seiner Tasche und verband es mit dem Computer. Ich hatte keine Ahnung, wo das andere Ende angeschlossen war, und ich würde auch bestimmt nicht nachfragen.

»Passiert das gerade wirklich?«, fragte Rachel fassungslos.

»O ja. Frag ihn mal, ob er Kabelprogramme reinkriegt.«

Gideon tauschte sich mit dem Computer aus, doch der Bildschirm blieb schwarz.

»Übrigens, Spence, das ist für dich. Ist heute Nachmittag reingekommen.« Meaty entfaltete ein Blatt Papier. Selbst auf der Rückseite schimmerte das Logo des Labors in der oberen Ecke durch. »Analyse einer Probe unbekannter Herkunft: Wasserstoffoxid, Smectite und Feldspat.« Meaty schüttelte das Blatt. »Was hast du denen da geschickt? Das ist ja so aufregend wie Spucke.«

»Das war diese Droge, die mein Bruder verkauft.« Ich nahm Meaty das Blatt ab, um das Ergebnis selbst zu lesen. »Ich weiß nicht einmal, was Smectite sind.«

Auf dem Monitor von Gideons Computer erschienen plötzlich Bilder, und sofort drängten wir uns um ihn. Ein Mann, der aussah wie Winter, stritt sich in einem Korridor mit einem Kerl im Laborkittel. Die Auflösung der Überwachungskameras war nicht die beste, außerdem konnte ich nicht Lippenlesen. »Verdammt.«

»Ich weiß, wo das ist.« Gina zeigte auf eine hässliche Statue, die den halben Bildschirm einnahm. »Die kenne ich, sie steht vor dem Transfusionszentrum. Da tauchen ständig Werwölfe auf – sie spenden jede Menge Blut, damit wir sie während ihrer sterblichen Phasen versorgen können.«

»Dann war Winter wahrscheinlich nur wegen einer Spende da«, meinte Rachel und beugte sich mit zusammengekniffenen Augen vor. »Aber warum sollte er deswegen sauer werden?«

Auf dem Bildschirm ging der Streit zwischen Winter und dem Labortechniker weiter.

»Wenn er die Spende zum Beispiel zurückhaben möchte …«, überlegte ich.

Gideon schaltete auf eine andere Kamera um. Jetzt erschienen acht Felder auf dem Bildschirm, jedes zeigte einen Teil der Außenansicht der Klinik. Auf jeder Aufnahme schneite es leicht, und graue Gestalten krochen auf die Kameras zu.

»Ist das live?«, fragte ich ihn. Er nickte.

»Ist die Triage vorbei? Sind das Patienten, die zurückkommen?«

Ohne zu antworten vergrößerte Gideon eines der Felder, bis es den gesamten Bildschirm einnahm. Die Gestalten vor der Kamera waren nicht die hilflosen Krüppel, die Gideon und mir entgegengekommen waren. Diese hier waren stark und liefen teilweise auf zwei, teilweise auf vier Beinen. »Sieh nur, wie sie sich bewegen«, sagte Gina. »Das sind Werwölfe.«

»Smectite und Feldspat sind übrigens Erdminerale«, meldete sich Meaty hinter uns zu Wort. »Dein Bruder hat also nur dreckiges Wasser verkauft.«

»Was? So wie er über dieses Zeug geredet hat, klang das wie Magie. Und er war nicht der Einzige. Bei einem der Werwölfe hier habe ich auch ein Fläschchen davon gefunden.« Ich war mir sicher, dass dieses Zeug irgendetwas mit der ganzen Geschichte zu tun hatte.

Gina nahm mir den Laborbericht ab und überflog ihn. »Das gibt’s doch nicht.« Sie stöhnte verzweifelt. »Er hat das verkauft? An wie viele Leute?«

»Keine Ahnung. Er meinte, das Geschäft liefe gut …« Bei meinen Worten wurde sie blass. »Warum?«

»Dein Bruder hat Wasser aus dem Pfotenabdruck eines Werwolfs verkauft.«

»Na und?« Aber dann fiel mir wieder ein, was ich im Internet gelesen hatte. »Du meinst also … jeder, dem er das angedreht hat, wird zum Werwolf?«

»Heute ist ihr erster Vollmond.« Gina tippte auf den Bildschirm. »Das sind sie. Und sie kommen hierher.«

»Pfotenabdruck … das ist doch nur eine Legende, und noch dazu uralt. Sogar älter als ich.« Meaty schob sich um den Tresen herum und starrte gemeinsam mit uns auf den Bildschirm. Mein eigener Bruder hatte Werwolfwasser verkauft. Und einige seiner Kunden sowie andere Luna-Lobos-Dealer und deren Kunden waren auf dem Weg hierher. Die Menge im Blickfeld der Kamera schwoll kontinuierlich an.

»Verdammt. Wie schnell wirkt das Zeug?«

»Dabei geht es nicht um Zeit, sondern um Menge. Es hängt davon ab, wie viel man getrunken hat.« Fassungslos starrten wir auf den Bildschirm. Gina schüttelte den Kopf. »Verdammt noch mal, wer hat das Zeug nur in den Umlauf gebracht?«

»Das spielt keine Rolle. Wir sind ein leichtes Ziel, Herrschaften. Schnappt euch alle Betäubungsgewehre und so viel Munition wie ihr könnt«, befahl Meaty. »Wir müssen hier weg.«