Kapitel 52

 

Lucas und sein Rudel zogen ab. Ich wollte mir lieber nicht vorstellen, was Fenris am Morgen bevorstand. Wie Helens Strafe aussehen würde, war mir klar. Und was genau hatte ich Jorgen damit angetan, dass ich ihn Dren ausgeliefert hatte? Auch das wollte ich nicht wissen.

Jake hatte sich noch immer nicht gerührt. Ich fragte mich, ob die Werwölfe ihn irgendwie verletzt hatten oder ob er nur gegen das Luna Lobos ankämpfte. »Jake?«

Abwehrend hob er eine Hand. »Es geht mir gut. Tu einfach, was du tun musst, Edie.« Normalerweise hätte ich protestiert, aber Anna unterbrach uns.

»Gibt es sonst noch etwas, das heute Nacht meiner Aufmerksamkeit bedarf?« Sie stemmte die Hände in die Hüften und richtete sich stolz auf.

Mir ging durch den Kopf, was ich getan hatte, kurz bevor Sike gestorben war. »Ich muss dir noch etwas beichten.«

»Hmmm?«

»Ich … habe eine Menge Blut vernichtet. Genauer gesagt die gesamten Vorräte des Krankenhauses. Ich wollte nicht riskieren, dass sie es in die Finger kriegen.«

Gina, die hinter Anna stand und alles gehört hatte, boxte triumphierend in die Luft.

»Tja, das kommt allerdings unerwartet.« Anna sah sich um und rief: »Schatten?«

Da der Mond langsam unterging, waren die Schatten der Bäume länger geworden. Der Fleck direkt neben Anna antwortete ihr. »Das Krankenhaus können wir wieder in seinen alten Zustand zurückversetzen, ebenso viele dieser Menschen. Aber wir können nicht einzelne Blutzellen aufspüren und ihre alte Form wiederherstellen. Wenn sie noch hier wären, vielleicht. Aber sie wurden vor über einer Stunde fortgespült und zuvor auch noch denaturiert.«

»Denaturiert? Wie das?«

»Chemische Lösungsmittel.«

Anna ließ die Schultern hängen. Wer sie von hinten sah, musste glauben, sie sei bestürzt. Doch als sie anfing zu sprechen, funkelte in ihren Augen reine Macht: »Wenn die anderen Kabinette herausfinden, dass ihre Ressourcen versiegt sind …« Offenbar sah sie eine erstaunliche Zukunft vor sich, denn sie lächelte gierig. »… dann werden sie mir alle verpflichtet sein. Ich werde mich natürlich großzügig zeigen und ihnen literweise Ersatzblut zur Verfügung stellen – gegen eine kleine Gebühr, versteht sich.«

»Das Potenzial dazu hast du ja«, ergänzte ich.

»Allerdings.« Sie nickte mir wissend zu. »So sei es denn, Schatten«, fuhr sie mit erhobener Stimme fort. »Beeilt euch, die Dämmerung naht.«

Ich ging zu Rachel und Gideon, da ich nachsehen wollte, ob mit ihnen alles in Ordnung war. Gina gesellte sich ebenfalls zu uns.

»Ich habe noch nie so viele Werwölfe auf einmal gesehen«, meinte Rachel überwältigt.

»Zum Glück ist Charles nicht hier, der wäre durchgedreht.« Gina verschränkte die Arme vor der Brust. »Er fehlt mir.«

»Mir auch.« Dann erkundigte ich mich bei Gideon, ob alles in Ordnung sei. »Du brauchst auf jeden Fall einen neuen Hut.«

Gideon zeigte mir seine Hand, an der ein Zinkenfinger fehlte, dann hob er fröhlich beide Daumen.

Vor dem Krankenhaus hatten die übrigen Werwölfe lange Schlangen gebildet. Die Ärmsten: Erst waren sie mit Werwolfwasser vergiftet worden, dann hatte Kabinett Grey sie kontrolliert, und jetzt übernahmen die Schatten das Kommando, stellten sie in ordentlichen Reihen auf und kümmerten sich der Reihe nach um jeden von ihnen. Sie wurden in eine Art schwarze Wolke gehüllt – Werwölfe mit deformierten Händen und Schnauzen im Gesicht gingen hinein, normale Menschen kamen wieder heraus. Die Überlebenden liefen noch eine Weile verwirrt herum und überlegten offenbar, warum sie in einer kalten Winternacht auf einem Krankenhausparkplatz standen, doch irgendwann löste sich die Menge auf.

Doch manche gingen in die Wolke und kamen nicht wieder gesund heraus, andere hatten nach der Prozedur keinerlei Kraft mehr – ohne die Körperkräfte eines Werwolfs konnten sie sich nicht einmal mehr bewegen. Einer von ihnen brach einfach zusammen, dann schrie plötzlich eine Frau laut auf.

»Keine Sorge«, sagte eines der grässlichen Schattenwesen, als es meinen Blick bemerkte. »Wir werden die Toten verbergen.«

»Das ist grauenhaft …«

»Javier!«, schrie die Frauenstimme.

»Scheiße.« Hastig humpelte ich in ihre Richtung.

Luz hielt Javier in ihren Armen, der wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft schnappte. Panisch schaute sie sich um. »Wo sind wir? Wie sind wir hierhergekommen? Was ist mit Javier?«

O Gott. Er würde hier draußen in der Kälte verrecken. Wir waren viel zu weit vom Klinikgebäude entfernt, um ihn reinzutragen. Das Luna Lobos, das ihm trotz meiner Warnung von Luz verabreicht worden war, hatte Javier seine Beine zurückgegeben und seine Wirbelsäule geheilt – aber nur vorübergehend.

»Luz …«

Ich wusste nicht, ob sie mich wirklich erkannte. »Sie da! Helfen Sie ihm!« Sie wiegte Javier in ihrem Schoß, während er bereits blau anlief.

»Das kann ich nicht.« Es waren keine Sanitäter mehr da, die Techniker waren auch alle nach Hause gegangen. Vier Krankenschwestern – von denen eine außer Gefecht gesetzt war, nachdem sie mit einem strahlenden, Recht sprechenden Licht verschmolzen war – würden da nicht viel rausreißen können.

»Er wird sterben!«, protestierte Luz. »Tun Sie doch etwas!«

»Schatten?« Ich kniete mich hin und schlug mit der Faust auf den Boden. Die Antwort kam aus der Dunkelheit vor dem Bordstein.

»Seine Zeit ist längst abgelaufen. Wir reparieren die Dinge, wir verändern sie nicht.«

Luz weinte hemmungslos und schaukelte ihn hin und her. »Tun Sie was! Schnell! Ich würde mein Leben für ihn geben!«

Plötzlich stand Anna neben uns.

»Meinst du das ernst?«

Luz starrte wutentbrannt zu ihr hoch. »Natürlich meine ich das ernst.«

»Also dann.« Anna ging in die Hocke und biss sich grob in die Hand. Anschließend schob sie ihre blutenden Finger zwischen Javiers Lippen, bis er tief einatmete. Sie wandte sich an Luz und streckte fordernd die Hand aus.

»Er ist über den Berg. Jetzt komm mit mir.«

Fassungslos starrte Luz auf Annas blutige Hand.

»Du hast gesagt, du würdest dein Leben für seines geben. Oder stehst du etwa nicht zu deinem Wort?« Von Annas Fingern tropfte immer noch das Blut.

Luz ergriff ihre Hand. Als Anna sie losließ, strich sie ihr mit dem Daumen über die Stirn und hinterließ so ein blutiges Mal auf Luz’ Haut.

»Gut. Vorerst kannst du bei ihm bleiben. Ich werde dich holen kommen.« Sie stand auf und ging. Ich schloss zu ihr auf, doch bevor ich fragen konnte, kam sie mir zuvor und sagte: »Ich brauche eine Schwester, kein weinendes Kind. Ich werde sie morgen verwandeln.«

»Anna … Sike war kein Haustier, das man einfach ersetzen kann.«

Abrupt blieb Anna stehen. »Ihr Verlust schmerzt mich mehr als dich. Du fühlst dich einfach nur schuldig«, sagte sie heftig. Plötzlich wusste ich wieder, wie es sich anfühlte, wenn ein Vampir einem ein Messer in die Brust rammte. Dann sah sie mich an, und ihre Miene wurde weich. »Von nun an habe ich das Recht, mein eigenes Kabinett zu gründen. Ich habe sein Leben gerettet, und das Mädchen hat eingewilligt. Das ist nun einmal der Preis des Blutes.«

Einige Vampire, die mir vage bekannt vorkamen, traten aus der Dunkelheit zu uns. Sie hatten bei der Zeremonie Annas Blutcocktails ausgeschenkt.

Mit einer ausholenden Geste bezog Anna sie in unser Gespräch mit ein. »Der Verlust einer so großen Menge kostbaren Blutes ist ein Verbrechen, das eigentlich mit dem Tode bestraft wird, Edie. Doch du hast bereits einmal vor Gericht gestanden, und wir wissen beide, wie das ausgegangen ist. Deshalb bleibt nur eine einzige angemessene Strafe übrig.«

»Und die wäre?«, fragte Gina und stellte sich angriffslustig an meine Seite.

Anna schenkte ihr ein anerkennendes Lächeln, bevor sie sich wieder mir zuwandte: »Wir werden dich ächten, Edie. Jedem von uns wird bei Todesstrafe verboten sein, mit dir in Kontakt zu treten. Unsere Welt wird dir von nun an verschlossen bleiben.«

»Moment mal … was?« Genau das hatte ich doch gewollt, diesem ganzen Mist zu entkommen. Trotzdem überraschte es mich.

Anna stellte sich dicht vor mich und legte eine Hand an meine Wange. »Ich habe geschworen, dich nicht zu verletzen, weißt du noch?«

Ich nickte stumm.

»Das habe ich ernst gemeint. Du wirst mir fehlen, Edie.« Sie trat ein paar Schritte zurück, und ich konnte förmlich spüren, wie sich zwischen uns eine Wand errichtete. Als Letztes warf sie mir einen Schlüsselbund zu. »Nimm Drens Wagen und fahr damit nach Hause. Pass auf dich auf.«

»Ich werde es versuchen.« In meiner Kehle bildete sich ein Kloß. Nach allem, was in dieser Nacht schon passiert war, sollte das machbar sein.