Es regnete. Über ihr schlugen die Tropfen auf das Wellblechdach, sie hämmerten und hüpften, man konnte glauben, die ganze Wohnung würde dadurch erschüttert. Es war angenehm, im Bett zu liegen, in die weiche Decke gewickelt, und dem beharrlichen Trommeln des Regens zu lauschen. Auf der Rückseite des Hauses stürzten die Wasserfluten vom Dach, sammelten sich in breiten Pfützen und flossen dann in vielen kleinen Rinnsalen durch die Straßen von Daressalam zum Meer hinunter. Was für ein Lärm die dicken Tropfen machten. Sie prasselten dicht an dicht auf das blecherne Dach, der Boden erzitterte, man konnte Kopfschmerzen davon bekommen …
»Klara? Kannst du auch nicht schlafen?«
Jemand strich ihr über die Wange. Das war nicht Klara. Das war auch nicht ihre kleine Wohnung in der Inderstraße. Sie öffnete die Augen und blickte in Georges Gesicht, das sich im gelblichen Dämmerlicht über sie beugte.
»Schau einmal an, wie gut du geschlafen hast. Du hast sogar geträumt, hm?«
Seine Stimme klang zärtlich und ein wenig erheitert. Mit einer erschrockenen Bewegung richtete sie sich auf, und die Wirklichkeit stürzte dumpf und schwer über sie herein. Durch die verschlungenen Äste vor dem Hütteneingang flackerte rötlich-gelber Feuerschein, Trommeln wurden geschlagen, ein seltsam wilder, sich steigernder und wieder abfallender Rhythmus, der bis in ihren Traum gedrungen war. Stimmen mischten sich hinein, dunkler Singsang, aus dem immer wieder schrille Rufe aufstiegen, die vielstimmig beantwortet wurden.
»Ich fürchte, die Gruppe der Bedächtigen hat sich nicht behaupten können. Die jungen Krieger glauben an die dawa vom Rufiji-Fluss …«
Erst jetzt bemerkte Charlotte den unangenehmen Geruch. Eine kleine Schale stand dicht am Eingang, und obgleich George sein Halstuch darübergelegt hatte, war sie von allerlei Insekten umschwärmt.
»Sie haben uns die Reste ihres Mahls gebracht und auch etwas zu trinken. Hier.«
Er griff hinter sich und reichte ihr eine kleine Kalebasse, in der dieses Mal angenehm frisches Wasser war. Die Mahlzeit roch jedoch so ekelhaft, dass Charlotte trotz ihres Hungers nichts davon essen wollte.
»Versuch es. Wir haben gestern den ganzen Tag gefastet und werden unsere Kräfte noch brauchen.«
Die Schüssel war aus einer halbierten Kokosnuss gefertigt, der Inhalt bestand aus einer fettigen Flüssigkeit, in der dunkle, undefinierbare Brocken schwammen. Es roch nach Yamswurzel und Ziegengedärm, was noch darin war, wollte sie besser nicht wissen.
»Bleib dort sitzen, und tu so, als würdest du essen.«
»Ich kann das Zeug nicht herunterbringen, George. Ich bin kein Waldläufer wie du und habe niemals in der Sahara Heuschrecken verspeist …«
»Du sollst ja auch nur so tun. Ich werde derweil versuchen, diese Lehmwand zu lockern.«
Er hatte sich einen kräftigen Stock aus dem Gezweig herausgebrochen und machte sich damit im Hintergrund der Hütte zu schaffen. Charlotte begriff. Während er versuchte, einen Fluchtweg zu schaffen, sollte sie die Lage so unauffällig wie möglich im Auge behalten. Plötzlich fing ihr Puls vor Aufregung an zu rasen – es war so weit. Sie würden handeln. Die einzige Chance wahrnehmen, die sie hatten. Und auf das Glück hoffen.
Sie starrte auf die vorbeiziehenden Schatten, die sich zum Rhythmus der Trommeln bewegten, auf- und niedersprangen, die Arme fest an den Körper gepresst, die Beine geschlossen. Das wirbelnde Metrum hatte sie in eine Art Trance versetzt, sie tanzten ohne eigenes Bewusstsein, füllten sich mit Energie, die sich im gemeinsamen Tanz vervielfachte. Was würde geschehen, wenn der Höhepunkt dieser Zeremonie überschritten war? Würden sie dann in Schlaf fallen? Oder war es möglich, dass sie unter der Wirkung der hochgepeitschten Kampfbereitschaft darangingen, ihre Geiseln hinzurichten?
Durch die Trommelschläge hindurch vernahm sie Georges beharrliches Schaben, ab und zu ächzte er leise vor Anstrengung, Staub wirbelte auf, und es roch nach trockenem Ziegendung. Manchmal rollte ein Lehmbrocken zu ihr hinüber. Die Wände der Hütte waren lange nicht mehr ausgebessert worden, hatten Risse und Spalten bekommen. George hustete, und sie hörte ihn fluchen.
»Was ist? Soll ich dir helfen?«
»Zieh ganz behutsam einen kräftigen Ast heraus. Dieser ist zerbrochen.«
Vorsichtig untersuchte sie das Gittergewirr am Eingang. Sie fand einen geeigneten Ast, doch sie musste ihn zerbrechen, sonst hätte sie ihn nicht herauslösen können. Zum Glück würden es die Schwarzen wegen ihrer Trommeln nicht hören.
George arbeitete fieberhaft. Charlotte stockte der Atem, als sie durch die Bresche in der Lehmwand die Mondsichel erblickte, schmal wie ein gebogenes Fädchen. Der Nachthimmel würde ihren Fluchtweg nur wenig erhellen, aber auch den Verfolgern nicht viel helfen. Zumindest der Mond war ihr Verbündeter.
»Was tun sie?«
»Sie tanzen noch. Aber ich glaube, die Zahl der Tänzer ist geringer geworden …«
»Ich versuche es jetzt, Charlotte. Viel weiter kann ich das Loch nicht öffnen, die hölzernen Stangen in der Wand sind eng gesetzt.«
Sie spürte, wie ihr Herz gegen den Rhythmus der Trommeln anhämmerte. Wenn sie jetzt entdeckt wurden, war alles aus. Die Bresche war so schmal, dass George mit den Beinen zuerst hindurchstieg und sich dann mühsam nach draußen zwängte. Charlotte folgte ihm, ohne abzuwarten, was weiter geschah; wenn man sie erwischte, wollte sie wenigstens bei ihm sein. Endlich hatte sie es geschafft, George fasste ihre Hand und zog sie mit sich fort. Schemenhaft waren die dunklen Formen der Hütten zu erkennen, als sie daran vorüberschlichen, bemüht, die Füße so leise wie möglich aufzusetzen. Charlotte verspürte keine Erschöpfung mehr, keinen Schmerz. Nur Georges Hand war wichtig, seine Orientierung, auf die sie sich verließ, das Glück, das sie jetzt nötiger brauchten als jemals zuvor.
Die Hügel waren kahl bis auf ein paar dürre Sträucher, die ihnen keine Deckung gaben. In geduckter Haltung stiegen sie aus der Talsenke bergan, hörten ihren eigenen, raschen Atem, sahen die flackernden Feuerstellen, die tanzenden Gestalten, die mächtige Tamarinde zwischen den Hütten wie eine geballte, dunkle Wolke. Auf der Kuppe des Hügels legten sie sich flach auf die Erde und krochen voran, bis sie die andere Seite erreicht hatten.
Nichts hatte darauf hingedeutet, dass die Wangindo ihre Flucht bemerkt hatten. Doch selbst wenn sie erst nach Stunden feststellten, dass ihre Geiseln entwischt waren – sie waren rasche Läufer und kannten die Umgebung. Im lichten Buschwerk und in der ausgedörrten Savanne konnte man sich nur schwer vor ihnen verbergen.
Sie liefen schweigend hintereinander her, George fasste immer wieder nach ihrer Hand, damit sie einander in der nächtlichen Dämmerung nicht verloren. Unter dem schwarzen, sternenbesäten Himmel zeichneten sich schattenhaft die Hügel ab, gelegentlich tauchte die bizarre Form einer Schirmakazie oder ein heller Gesteinsbrocken vor ihnen auf, einmal sogar der gewaltige Stamm eines Baobab, mächtig wie ein Geist, die knorrig gewundenen Äste wie verschlungenes Wurzelwerk zum dunklen Himmel gestreckt. Immer wieder blieb George stehen, um zu lauschen. Charlotte kannte die Stimmen der nächtlichen Savanne, das beharrliche Sirren der Grillen, das seltsame Lachen der Hyänen, die grunzenden, schnarrenden, schnaufenden Laute, auch das Brüllen der Raubtiere, die in der Kühle der Nacht ihre Beute suchten. Sie waren völlig schutzlos, außer dem Stock in Georges Hand stand ihnen keine Waffe zur Verfügung. Unsichtbare Wesen bewegten sich in ihrer Nähe, sahen sie mit nachtscharfen Augen an, Halme knisterten, trockene Stängel brachen, manchmal vernahmen sie das Geräusch erschreckter Hufe auf eiliger Flucht. Als sie auf frischen Elefantendung stießen, änderten sie die Richtung in der Hoffnung, die Herde zu umgehen.
Die Küste lag im Osten; wenn es ihnen gelingen sollte, Kilwa oder einen der nahe gelegenen Orte zu erreichen, waren sie gerettet. Aber wie sollten sie in der Nacht die Himmelsrichtungen erkennen? Wie im Gewirr der kahlen Hügel und schmalen Taleinschnitte überhaupt eine Richtung einhalten?
Als die ersten Sterne verblassten, erklommen sie die Kuppe einer Erhebung, und George umfasste ihre Schultern. Triumphierend streckte er den Arm aus.
»Der Fluss!«, wisperte er.
Sie starrte in die Dämmerung und erkannte im grauen Talgrund ein unregelmäßiges, dunkles Band, das sich durch die ausgetrocknete Erde zog wie der Körper einer riesigen Schlange. Schatten bewegten sich an seinen Rändern, die sie zuerst für Gebüsch gehalten hatte, doch es waren Tiere, die im Wasser standen und tranken.
»Was für ein Fluss?«
»Wahrscheinlich der Mandandu. Wenn nicht, ist es auch gleich. Er fließt auf jeden Fall zur Küste.«
»Wir müssen also nur seinem Lauf folgen.«
»In sicherer Entfernung – ja.«
Löwengebrüll war zu hören, das dumpfe Hämmern fliehender Hufe, dann der kurze, jammervolle Todesschrei eines sterbenden Gnus – dort unten am Fluss regierten die Jäger.
Sie stießen auf eine Gruppe niedriger Felsen, schrundiges Gestein, von Wind geformt, das wie eine Herde schlafender Tiere aus dem Boden ragte.
»Hoffen wir, dass es nicht der Lieblingsplatz der Löwen ist«, murmelte George. »Aber so haben wir wenigstens Deckung und im Notfall einen Schutz im Rücken.«
Sie lagerten dicht am Fels und teilten sich den Rest Wasser aus der Kalebasse, die George mitgenommen hatte. Im Osten hellte der Himmel auf, die graue Savannenlandschaft färbte sich langsam gelbbraun, jetzt erkannten sie einsame Akazien und flache Felsen; die gewundene Schlange des Flusses schmückte sich mit blauen Wasserstellen, braunem Schlamm und blassgrünem Buschwerk. Als die aufgehende Sonne über den ausgedörrten Erdboden flammte, fielen Charlotte die Augen zu. Sie schlief halb im Sitzen, den Rücken an den Fels gelehnt, den Kopf an Georges Schulter.
Wie lange hatte sie geschlafen? Der ziehende Schmerz in ihren Füßen weckte sie. Zusammengekauert lag sie im schmalen Schatten des Felsens, unter ihrem Kopf ein Polster, das sich als Georges zusammengerollte Jacke herausstellte. Nichts war zu hören außer dem Summen der Insekten.
»George?«
»Beweg dich nicht.«
Er hockte unweit von ihr auf dem Boden, den Rücken dicht an den Fels geschmiegt, und deutete mit dem Finger zum Fluss. Sie erschrak. Eine große Anzahl schwarzer Krieger lagerte an einer breiteren Ausbuchtung des Wasserlaufs. Sie tranken und füllten ihre Kalebassen, doch ein einziger scharfer Blick hätte ihnen die Gegenwart der Weißen oben zwischen den Felsen offenbart.
»Sie suchen nicht nach uns«, flüsterte George. »Es muss ein anderer Stamm sein. Ngoni oder Donde vielleicht.«
Wie erstarrt blieb Charlotte liegen und wagte kaum, den Kopf zu heben. Nur der Schatten des Felsens verbarg sie vor den Augen dieser kriegerischen Eingeborenen. Ihr dunkles Kleid würde nicht auffallen, doch Georges zusammengerollte Jacke war aus hellem Stoff, wenn auch inzwischen ziemlich staubig und voller Flecken.
Minuten dehnten sich ins Unendliche. Sie konnten nichts, aber auch gar nichts tun, jede Bewegung, jeder Fluchtversuch hätte ihre Anwesenheit offenbart. Schweigend blickten sie auf die Männer, verfolgten ihr Tun und hielten den Atem an, während sie auf ihren eigenen Herzschlag lauschten.
Die Krieger lösten sich nach und nach vom Flussufer und zogen ganz in der Nähe der Felsen in einer langen Reihe hügelan nach Norden. Auch jetzt hätten sie die beiden Weißen leicht entdecken können, doch ein helfender Geist schien George und Charlotte vor ihren Augen zu verhüllen. Nichts geschah.
Charlotte tat einen tiefen Atemzug, um die Anspannung zu lösen, George fuhr sich mit der Hand über die Stirn und verscheuchte eine zudringliche Fliege.
»Wir werden wohl noch öfter auf solche Gruppen stoßen«, sagte er beklommen. »Sie ziehen tatsächlich in großer Zahl in den Kampf. Diese da hatten sogar Gewehre.«
»Wie weit ist es wohl bis zur Küste?«
»Vielleicht fünfzig Kilometer. Wenn wir uns beeilen, sind wir morgen Abend in Kilwa.«
Er sagte es mit einem leichten Grinsen, in dem sich Zuversicht mit Selbstironie mischte. Sie besaßen weder Waffen noch Lebensmittel – eine leichte Beute für Raubtiere und feindliche Eingeborene –, George wies Verletzungen am Rücken auf, Charlottes Füße waren voller blutiger Wunden. Fünfzig Kilometer. Vielleicht auch mehr.
»Zieh deinen Unterrock ganz aus, und reiß ihn in Streifen.«
Sie drehte ihm den Rücken zu, während sie den Rock hob, um das Band des Unterrocks zu lösen. Sie brauchte sich vor ihm nicht zu schämen, er war schließlich Arzt, er wollte sie verbinden, das war etwas ganz Normales.
Er verrichtete sein Werk schweigend und mit sanften Händen, sah dabei hin und wieder zur ihr auf, doch er blieb ernst.
»Ich kann dich auch ein Stück tragen.«
»Das fehlte noch, George Johanssen!«
Der erste Schritt war höllisch, und sie sah, wie sein Gesicht zuckte, als spüre er selbst den Schmerz. Dann jedoch wurde es leichter, ein Gefühl der Taubheit stellte sich ein, und nach einer Weile lief sie neben ihm her, als habe sie nie wunde Füße gehabt.
Unten am Fluss füllte er die Kalebasse für sie, dann gingen sie stromabwärts, wobei sie sich in einiger Entfernung zum Ufer hielten. Die afrikanische Sonne brannte ohne Erbarmen auf die trockene Erde herab, hatte sie in unregelmäßigen Mustern aufgebrochen und ließ rötliche Staubgeister aus ihrem Inneren aufsteigen. An manchen Stellen war der Flusslauf nur wenige Meter breit, im gelbbraunen Uferschlamm hatten Elefanten gewühlt und weiche Mulden hinterlassen. Träge, aber unaufhaltsam, floss das Wasser dem Ozean zu, und Charlotte hatte die verrückte Hoffnung, dass auch sie dort ankommen würden, solange dieses Wasser noch nicht versiegt war.
Hatten sie zu Anfang noch sorgenvoll die Umgebung mit Blicken abgesucht, so wurden sie schließlich nachlässiger. Alles schien so friedlich. Hin und wieder tranken Gnus oder Zebras am Fluss, doch sie beachteten die Menschen wenig, nur das Leittier hob witternd den Kopf, bis sie vorübergegangen waren.
George half ihr über schwierige Wegstellen hinweg, reichte ihr die Hand, manchmal machte er Scherze über ihre hübschen Schuhe, die längst die Farbe des rotgelben Staubes angenommen hatten. Eine seltsame, völlig aberwitzige Unbefangenheit ergriff sie. Sie lachte über seine Scherze, machte Witze über den stoppeligen Bart, der ihm inzwischen gewachsen war, und behauptete, er stehe ihm gut, weshalb er überhaupt glatt rasiert herumlaufe. Wegen der Damen in Daressalam? Die könne er sowieso nur mit einem aufgezwirbelten Schnurrbärtchen beeindrucken.
»Runter!«
Er riss sie in das lichte Ufergebüsch, hielt den Arm um sie und drückte sie fest an den Boden.
»Krieger«, murmelte er. »Sie überqueren den Fluss und werden dann wohl nach Nordosten ziehen. Keine Angst, sie sind weit genug entfernt und haben uns sicher nicht gesehen.«
Er hatte die ganze Zeit über die Hügel genauestens beobachtet. Sie keuchte vor Schrecken und kam sich unendlich dumm vor, presste sich an die Erde und atmete den Geruch des trockenen Staubes. Dicht neben ihr lag George, sie spürte seinen raschen Puls, hörte seinen Atem, und plötzlich hatte sie das Gefühl, dass es schon immer so gewesen sei. Seit ewigen Zeiten, schon lange bevor sie in diese Welt getreten war, hatte er neben ihr geatmet, sie kannte seinen Pulsschlag, den Geruch seines warmen Körpers, seine Hände, früher hatte sie auch seine Träume gekannt.
Ich bekomme einen Sonnenstich, dachte sie erschrocken. Ich werde verrückt. George ist Maries Ehemann. Das heißt, er war es. Er hat sie geheiratet, weil er sie liebte …
»Es ist vorbei«, sagte er leise. »Ich hoffe, ich habe dir nicht wehgetan. Aber sie tauchten ziemlich überraschend auf, und ich hatte keine Zeit mehr, dich zu warnen.«
»Natürlich. Ich habe … geträumt. Wie gut, dass du aufgepasst hast.«
Sie hatte einen Riss im Kleid davongetragen, doch das war inzwischen bedeutungslos geworden.
Sie lief hinter ihm her und betrachtete seinen Rücken. Die Verletzungen schienen tatsächlich nicht sehr tief zu sein, es war kein weiteres Blut ausgetreten. Er bewegte sich immer noch in der gleichen Weise wie damals, als sie in Leer durch die Wiesen gelaufen waren, ein wenig schlaksig, federnd, doch wenn es nötig war, konnte er kraftvoll und geschickt sein. So war er damals über die Zäune gesprungen und hatte beim Wettlauf gesiegt – um Marie zu beeindrucken.
»Keine Sorge, Charlotte. Gib mir die Hand. Wir gehen einfach weiter.«
Drüben am Fluss lag eine Löwin, verschmolz fast mit der Farbe des Uferschlammes. Das große Tier räkelte sich, drehte sich auf den Rücken, so dass ihr hell behaarter Bauch zu sehen war, wälzte sich hin und her, streckte die Pranken und kam dann wieder auf der Seite zu liegen. Ihr Bauch hob und senkte sich, der Schweif peitschte den Boden, die Ohren zuckten nervös. Als die dunkle Mähne im Buschwerk auftauchte, erhob sich die Löwin und wandte dem großen Männchen fauchend den Kopf zu. Der Löwe bewegte sich auf sie zu und wurde mit wütenden Prankenschlägen empfangen, er brüllte und versuchte, sie zu beißen, doch sie kam geschmeidig auf die Füße und lief ein Stück flussabwärts. Er folgte ihr.
»Sie sind nicht hungrig«, meinte George. »Sie sind ganz und gar miteinander beschäftigt.«
Sie schwieg, doch die Unbefangenheit war von ihr gewichen. Plötzlich spürte sie wieder den Schmerz in ihren Füßen, den Hunger, die Erschöpfung. Der Fluss machte unendlich viele Windungen, sie kamen so langsam voran, überall lauerten tödliche Gefahren – wie sollten sie es nur bis zur Küste schaffen? Sie starrte auf die bleichenden Knochen eines Büffels, den die lange Trockenzeit wohl schon vor Jahren dahingerafft hatte, und musste sich zusammennehmen, um ihre Mutlosigkeit vor ihm zu verbergen.
»Noch ein kleines Stück, und wir machen eine Rast.«
»Meinetwegen müssen wir keine Pause machen, George. Lass uns besser weitergehen.«
»Gut!«, sagte er und sah sie lächelnd mit eindringlichen, grauen Augen an.
Gegen Mittag legten sie eine kurze Rast im Schutz eines Felsens ein, und George ging zum Fluss hinüber, um die Kalebasse für sie aufzufüllen. Ihr war schwindelig vor Erschöpfung, doch während er am Wasserlauf kniete, wagte sie nicht, die Augen zu schließen, sondern spähte sorgfältig in alle Richtungen. Der Fels hatte die Sonnenhitze aufgenommen und warf sie glühend zurück, die Luft flimmerte. Was für ein Land! So musste die Erde vor der Erschaffung der Welt ausgesehen haben, nichts als totes Gestein und roter Staub – wie konnte es hier überhaupt Leben geben? Wie war es möglich, dass diese verfluchten Grillen immer noch beharrlich und eintönig zirpten? Sie dachte an Klara, an den Säugling, der sich mit so viel Mühe ins Leben gekämpft hatte und der nun vielleicht schon gestorben war. Verschmachtet, genau wie seine Eltern, die hilflos allein im Busch geblieben waren. Juma, der zuerst davongelaufen, dann aber reumütig zurückgekehrt war und seine Treue nun möglicherweise mit dem Leben bezahlt hatte. Niemand wusste, was aus Matumbe geworden war, auch George nicht.
Nicht nachdenken. Sie konnte nichts für all ihre Lieben tun. Sie musste um das eigene Überleben kämpfen. Für Elisabeth, ihr Kind, das sie nicht allein lassen wollte …
»Trink«, sagte George und hielt ihr die gefüllte Kalebasse an den Mund. »Es ist nicht mehr weit. Die größte Wegstrecke liegt schon hinter uns.«
»Danke …«
Sie trank mit geschlossenen Augen; als sie die Kalebasse absetzte, kniete er immer noch dicht neben ihr. Sacht hob er den Finger und wischte einen Tropfen von ihrem Kinn.
»Weißt du, dass ich damals alles darum gegeben hätte, mit dir durch die Wüste reiten zu dürfen?«, fragte sie leise.
»Das habe ich geahnt, Charlotte. Ich dachte sogar ernsthaft daran, dich nach Kairo einzuladen. Wärest du gekommen?«
»Stehenden Fußes. Aber ich weiß nicht, was daraus geworden wäre …«
»Nichts Gutes«, erwiderte er ernst.
Sie setzten den Weg fort. Zweimal noch mussten sie sich im dürren Buschwerk des Flusslaufs vor kriegerischen Eingeborenen verstecken. Sie alle strebten nach Nordosten, möglicherweise sammelten sie sich an einem bestimmten Ort, um die Küstenstädte der Kolonialherren anzugreifen. Die schwarzen Kämpfer zogen eilig durch die hitzeglühende Landschaft, gingen auf unbekannten Pfaden, die sie ohne Umwege zu ihrem Ziel führten. Diese Menschen waren hier zu Hause – nie war Charlotte der Sinn dieses Satzes so deutlich geworden.
Gegen Abend stieg die Landschaft zu beiden Seiten des Flusses an, schmale Rinnen zogen sich von den Hügeln zum Strom hinab, sie führten jedoch kein Wasser. Dennoch fanden sich immer häufiger einzelne Schirmakazien und Tamarinden, an deren Ästen noch ein wenig Grün verblieben war. In einer Ausbuchtung des Tales entdeckten sie mehrere kleine Erhebungen, die sie zuerst für rötliches Felsgestein hielten, doch es waren die Reste eines verlassenen Dorfes, kreisrunde Lehmhütten, um eine Tamarinde gruppiert, die einst der Mittelpunkt der Siedlung gewesen war. Dächer gab es keine mehr, die Wände waren in der Regenzeit aufgeweicht und fortgespült worden, nur die größte der Hütten hatte noch einigermaßen standgehalten. Aus den brüchigen Lehmwänden ragten die ausgebleichten Holzstangen hervor, der Eingang war eine breite Lücke, die Wind und Hitze beständig erweiterten.
»Weshalb mag das Dorf verlassen sein?«
»Das kann viele Gründe haben. Eine Seuche. Ein Überfall eines feindlichen Stammes. Vielleicht auch das Ausbleiben der Regenzeit. Wenn der Fluss ganz und gar austrocknet, ist hier kein Leben mehr möglich …«
Die Nacht war nahe. Sie suchten den Innenraum der Ruine nach Schlangen und anderem Getier ab, dann brachen sie trockene Äste von der Tamarinde, um den Hütteneingang notdürftig zu verschließen. Sie arbeiteten Hand in Hand, waren eine verschworene Gemeinschaft gegen die feindliche Wildnis, vergaßen niemals, Hügel und Flusslauf im Auge zu behalten. Als sie die Äste vor dem Eingang ablegten, setzte sich Charlotte müde auf den Boden und trank ein wenig Wasser. Die sinkende Sonne lag rostrot auf den kahlen Hügeln, zeichnete die schwarzen Formen der Tamarinden nach, blitzte gelb und weiß auf dem ruhig dahinfließenden Strom.
»Dieses Haus hat brüchige Wände und keine Tür«, hörte sie George heiter sagen. »Der Wind bläst Staubwolken daraus empor, und die Löwen sind unsere Nachbarn.«
Sie wandte lächelnd den Kopf und sah ihn an: das Haar von der Sonne gebleicht, die Kleidung an vielen Stellen zerrissen, fleckig, voller Staub. Die Anstrengungen der vergangenen Tage hatten sich in seinem Gesicht eingegraben, aber die Spottlust war ihm dennoch nicht vergangen.
»In der Nacht umgibt uns das Lied der Wildnis, und der tausendfach gestirnte Himmel ist unser Dach«, fuhr er leise fort. »Willst du mit mir in dieses Haus eintreten?«
»Oh, George! Du wirst wohl niemals aufhören, deine Scherze zu machen!«
»Ich meine es ernst, Charlotte.«
Ein Kreis schloss sich. Schweigend lagen sie nebeneinander, hörten auf die Geräusche der nächtlichen Savanne, die verschlungene, vielstimmige Melodie des Werdens und Vergehens. Sie sahen die Lichter an der dunklen Himmelskuppel erscheinen, zuerst blass, dann immer deutlicher, bis sich das Firmament auf sie herabsenkte und sie umhüllte. Dann erst zog George sie an sich. Es gab keine Erinnerungen mehr, keine enttäuschten Hoffnungen, keine Irrtümer, keine Zweifel – es gab nur ihre Sehnsucht, die sie über all die Jahre hinweg nie verloren hatte und die sich in dieser Nacht zwischen Leben und Tod im Mondschatten des Tamarindenbaumes erfüllte.
Eine Ewigkeit später riss sie eine laute, heisere Stimme aus dem Schlaf.
»Gewehre runter!«
Es war hell, sie hatten im Schutz der dachlosen Mauern bis in den Morgen hinein geschlafen. Durch das Gezweig vor dem Eingang erkannten sie die Gestalt eines weißen Offiziers der Schutztruppe.
»Du liebe Güte – Frau von Roden. Fast hätten wir auf Sie geschossen. Wir dachten, es sei ein Hinterhalt der Wangindo.«
Es war einer der beiden Feldwebel aus Kilwa, von einer Gruppe Askari begleitet. Er grinste über das ganze Gesicht, als er neben Charlotte einen bärtigen, schlanken Mann in zerrissenen Kleidern entdeckte.
»Mein Gott, da wird sich Ihre Schwester aber freuen. Oder ist sie Ihre Cousine? Unsere Leute haben sie mit Mann und Kind nach Kilwa gebracht, und sie hat immer wieder nach Ihnen gefragt.«