Schnurgerade zog sich der blaue Streifen des Kanals durch den Wüstensand, schmal, gerandet von flachen, rötlich-gelben Ufern. Nur hier und da fand das Auge Halt an ein wenig Grün, Palmen und Gebüsch wuchsen aus dem staubigen Boden, Ziegen grasten, graue Kamele standen mit zusammengebundenen Vorderbeinen und nagten an dornigem Gestrüpp. Dort war eine Oase mit niedrigen, weißen Gebäuden, Frauen in langen, dunklen Gewändern trugen Lasten auf den Köpfen. Auf einem Sandhügel standen drei schwarzhäutige Knaben, blickten sehnsüchtig zu dem träge vorüberziehenden Dampfschiff hinüber und winkten aus Leibeskräften.
»Wie man bei dieser brütenden Hitze so herumhampeln kann«, sagte Christian, der neben Charlotte an der Reling stand und sich mit dem Taschentuch den Schweiß abwischte.
»Sie sind daran gewöhnt«, gab sie müde zurück.
Sie hätte gern die Hand gehoben, um den fröhlichen kleinen Kerlen zurückzuwinken, doch sie war zu matt dazu. Gewiss lag das an der Hitze, selbst der schwache Fahrtwind brachte keine Erfrischung. Auch der schöne Seevogel, der das Schiff so viele Tage begleitet hatte, war über Nacht verschwunden, er war zurück in seine Heimat geflogen, ins Mittelmeer; vielleicht hatte er sich jetzt ein anderes Schiff ausgesucht, dem er folgte.
Es gab keine Morgen- und Abendstunden mehr. Innerhalb kürzester Zeit brach das Licht des Tages aus der Nacht hervor, und wenn der Tag in die Dunkelheit zurückstürzte, färbte der gelb glühende Sonnenball die Landschaft für wenige Minuten mit tiefem, brennendem Rot. Der Dampfer hatte in Port Said einen Tag festgemacht, Kohle, Post und neue Passagiere waren an Bord genommen worden, nun durchfuhr man bei brütender Hitze den schmalen, glatten Kanal. Im Westen, dort, wo die Sonne allabendlich ihr flammendes Schauspiel entzündete, weit hinter den flachen Sandhügeln, über die manchmal die filigrane Form einer Palme ragte, dort in der dunstigen Ferne lag die Stadt Kairo. Nur zwei Tagesreisen entfernt und doch unerreichbar. George hatte keine Ahnung, dass sie hier vorüberfuhren.
Christian legte den Arm um seine Frau. Seitdem die Stürme des Mittelmeeres hinter ihnen lagen, hatte sich seine Stimmung wieder gehoben, er behandelte Charlotte mit Zärtlichkeit, hatte sie sogar für die »dummen, unnötigen Streitereien« um Verzeihung gebeten. Auch nutzte er jede Gelegenheit, sie zu berühren, denn nach langer Abstinenz war wieder das Verlangen nach ihrem Körper in ihm erwacht.
»Bitte nicht, Christian. Es ist so heiß …«
Tatsächlich empfand sie seinen Arm wie eine drückende Last auf ihren Schultern. Zudem war die Berührung ihr peinlich. In Port Said hatte sich das Vorderdeck mit zahlreichen neuen Mitreisenden gefüllt, orientalisch gekleidete Farbige verschiedener Hautschattierungen, die sich mit ihren Bündeln und Lasten auf Liegestühlen und Deckplanken eingerichtet hatten. Nur wenige von ihnen benutzten die Kojen im Zwischendeck, wo man wegen des Maschinenlärms, der Hitze und der stickigen Luft kaum Schlaf fand. Die meisten verbrachten die Nächte in Decken eingewickelt unter freiem Himmel.
Christian zog seufzend den Arm zurück, konnte es aber nicht lassen, dabei mit der Hand spielerisch über ihren bloßen Nacken zu gleiten. Eines der kleinen Löckchen blieb an seinem Finger hängen, und Charlotte zuckte zusammen, als er ungeschickt daran riss.
»Entschuldige, mein Herz. Das geschah nicht mit Absicht.«
»Schon gut …«
»Es ist wirklich sehr heiß. Und die Landschaft ist auch nicht gerade abwechslungsreich. Kein Wunder, dass du so bedrückt bist, mein Liebes …«
»Ich bin nur ein wenig müde.«
Kleine Fischerboote wurden in Ufernähe gerudert, das Segel zu setzen machte heute wenig Sinn, denn es herrschte Flaute. Hinter ihnen hatte sich ein Streit zwischen den neuen Mitreisenden erhoben; sie hörten die rasche, aufgeregte Rede einer Frau, die die anderen übertönte. Die Worte klangen abgerissen, überstürzten sich, Laute kamen darin vor, die sie noch nie zuvor vernommen hatten.
Christian lüftete für einen Moment seinen Hut, setzte ihn jedoch gleich wieder auf, als fürchte er, sich ohne Kopfbedeckung einen Sonnenstich einzuhandeln. Charlotte hatte versäumt, einen seiner hübschen, leichten Strohhüte vor der Versteigerung zu retten, es war ärgerlich, doch er machte ihr deshalb keinen Vorwurf. Trotz der Hitze trug er beharrlich seinen dunklen Anzug, den Klara ihm enger genäht hatte, und den schwarzen Hut gegen die Sonne. Hemdsärmelig herumzulaufen, wie es einige der Mitreisenden der dritten Klasse taten, kam für ihn nicht in Frage. Das einzige Zugeständnis, das er sich erlaubte, war, dass er sich die Weste unter der Jacke ersparte.
»Weißt du, ich habe mir überlegt, dass es purer Unsinn wäre, sich an einem Ort wie Daressalam niederzulassen«, fuhr er fort. »An der Küste sollen tropische Temperaturen herrschen, wahrscheinlich ist die Gegend sogar sumpfig, da kann man leicht Fieber bekommen.«
Sie schwieg, wie immer, wenn er ihr seine Pläne unterbreitete. Vielleicht hatte er ja gar nicht so unrecht, es waren schon viele Europäer am Tropenfieber gestorben, und man wusste, dass die Feuchtgebiete daran schuld waren. Es wurde daher empfohlen, regelmäßig eine kleine Dosis Chinin einzunehmen. Sie würde dieses Medikament besorgen, sobald sie vor Anker gegangen waren; auch wenn es Geld kostete, so schien ihr diese Maßnahme doch wichtiger zu sein als alles andere.
»Wir sollten in die Berge ziehen, Charlotte. Nach Usambara, wo die Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft gerade Plantagen anlegen lässt. Oder zum Kilimandscharo.«
»Zum Kilimandscharo? Wie kommst du denn darauf?«
»Dort soll es Plantagen geben. Sie bauen Bananen an. Oder Kaffee – ich weiß es nicht genau. Auf jeden Fall ist das Klima in den Bergen viel angenehmer und gesünder als an der Küste.«
Kilimandscharo! Es hörte sich so verlockend an, dass sie für einen Moment ihren geheimen Kummer vergaß. Jener gewaltige Berg, der sich aus der Steppe erhob und seinen schneebedeckten Gipfel bis in die Wolken reckte. Ob er in Wirklichkeit ebenso großartig aussah wie auf der Zeichnung, die sie samt dem Kästchen in Leer zurückgelassen hatte? Doch gleich darauf schüttelte sie diese Gedanken ab. Die Zeit der Träume war vorüber. Vielleicht würde sie diesen wundersamen Berg eines Tages mit eigenen Augen sehen. Später. Die Stadt Kairo würde sie gewiss niemals zu sehen bekommen, sie durfte es nicht, sie wollte es nicht. Sie würde George schreiben. Später.
»Um eine Plantage anzulegen, braucht man viel Geld, Christian.«
»Ach Unsinn, Charlotte! Was ist los mit dir? Ich erkenne dich ja kaum wieder. Noch in Hamburg warst du voller Zuversicht, und jetzt redest du nur immer von dem Geld, das wir nicht haben.«
»Aber es ist so«, beharrte sie, bemüht, auch seine Träume frühzeitig zu zerstören. »Man benötigt mehrere tausend Mark, und das nur für den Anfang.«
Er wollte es nicht einsehen, argumentierte hartnäckig, dass die Ostafrikanische Gesellschaft gewiss froh um jeden Deutschen sei, der sich in der Kolonie ansiedeln wollte, und ihm das Land fast umsonst geben würde.
»Es geht nicht nur um das Land, Christian. Wir müssten die Arbeiter bezahlen, die die Bäume roden und die Pflanzungen vorbereiten. Wir müssten die Pflanzen kaufen, für die Bewässerung sorgen, Gebäude errichten und was weiß ich noch alles …«
»Ach was! Die Neger arbeiten doch für ein paar Pfennige am Tag. Und Wasser gibt’s in den Bergen überall. Du siehst zu schwarz, mein Schatz. Wenn die erste Ernte verkauft ist, sind wir reich und können alle Schulden bezahlen …«
»Vielleicht …«
Sie hielt nicht viel davon. Selbst wenn die Gesellschaft bereit gewesen wäre, ihm einiges Geld vorzustrecken – er war gewiss nicht der Mann, der eine Plantage auf die Beine stellen konnte. Vermutlich glaubte er, auf einem bequemen Stuhl im Schatten sitzen und kühle Getränke schlürfen zu können, während die Schwarzen draußen in den Pflanzungen die Arbeiten erledigten. Sie verstanden doch beide nichts von der Landwirtschaft, sie waren Händler.
»Du wirst schon sehen, Charlotte«, meinte er lächelnd und schob sacht den Arm um ihre Taille, um sie näher zu sich heranzuziehen. »Es wird alles viel leichter sein, als du glaubst. Wir fangen ganz neu an, wir beide zusammen, Seite an Seite. Und dieses Mal werde ich dich nicht enttäuschen!«
Sie ertrug seine Annäherung, wollte ihn nicht erneut zurückweisen. Möglich, dass er es ernst meinte. Ja, ganz sicher war es ihm ernst. Aber ebenso sicher war auch, dass sie sich nicht auf ihn verlassen konnte. Mit dem wenigen Geld, das sie gerettet hatte, wollte sie tun, was sie selbst für richtig hielt.
Mitte April hatten sie den Hafen von Aden verlassen, einen öden Ort, von schwarzgrauem Fels umschlossen, wo nur wenige, gelbliche Häuser in flirrender Hitze ausharrten. Kein Baum, kein Strauch, nichts als kahles, zerklüftetes Gebirge, schwarz, von stahlblauen Wellen umspült, grandios wie eine Landschaft vor Anbeginn der Welt und zugleich beängstigend und feindselig.
In der Nacht, als der Dampfer im Hafen von Aden lag, hatte Charlotte kein Auge zugetan. Zum ersten Mal auf dieser Reise empfand sie tiefe Zweifel an dem, was sie beschlossen und so energisch in die Tat umgesetzt hatte. Die Natur neigte sich nicht überall dem Menschen zu, um ihn zu nähren und zu kleiden. In diesem feindseligen, schwarzen Fels, der die Sonnenglut des Tages in sich aufgesogen hatte, gab es keine Chance auf Leben. Dort wartete der Tod, dem George in der Wüste so fasziniert ins Auge gesehen hatte und dem er nur mit knapper Not entgangen war. Sie war nicht George, sie suchte nicht die Grenzen des menschlichen Daseins, sie wollte einen Ort finden, an dem sie leben konnte, ein Haus, einen grünen Palmenhain, ein Fenster, das aufs Meer hinausging. Und das Gleiche wollte sie für Klara und Christian. War das denn zu viel verlangt? Hatte sie leichtfertig gehandelt? Was würde aus ihnen werden, sollte es ihr nicht gelingen, in der Fremde ihr Auskommen zu finden?
Tage später, als der Dampfer an der afrikanischen Ostküste entlangfuhr, waren all ihre Ängste verflogen. Begeisterung herrschte an Bord, sie stand zwischen Christian und Klara an der Reling, eingeklemmt zwischen den schwatzenden, gestikulierenden, lachenden Passagieren jeglicher Hautfarbe und starrte voller Entzücken auf die vorüberziehenden Ufer.
Palmen und Akazien reckten sich dort gegen den tiefblauen Himmel, die filigranen Zweige, sacht vom Wind bewegt, bildeten dichte, grüne Haine, sprachen vom Zauber eines fruchtbaren Küstenlandes. Zum Strand hin fiel das Land in einer steilen Böschung ab, doch auch dieser Abhang zeigte sich nur hier und da als dunkles Riffgestein, viel öfter war er von dichter grüner Vegetation bewachsen. Sanft leckten die Meereswellen den weißen Strand, wo kleine Fischerboote im Sand lagen und schwarze Kinder im seichten Wasser spielten. Ab und zu waren erwachsene Männer in langen, hellen Gewändern mit fremdartigen Kopfbedeckungen zu sehen, die dort irgendetwas vom Boden aufsammelten.
Auch auf dem Oberdeck hatten sich die Reisenden an der Reling versammelt, man konnte sehen, dass sie Sektgläser in den Händen hielten und miteinander anstießen. Welchen Toast sie ausgebracht hatten, war wegen des Dröhnens der Maschine nicht zu hören, doch es war nicht schwer zu erraten.
»Tanga! Tanga!«
Der Name des Küstenortes schwirrte über das Vorderdeck. Auch wenn man sonst kein einziges Wort aus den Gesprächen der farbigen Mitreisenden verstand – dort, bei der weit ins türkise Meer hinausragenden Landzunge, fast verborgen zwischen üppig wuchernden Tropenpflanzen, musste der Hafen von Tanga liegen. Sie hatten die Küste der Deutschen Kolonie erreicht – deshalb brachte man dort oben ein Hoch auf Kaiser Wilhelm aus, auf die Deutsche Kolonie Ostafrika und auf Herrn Wissmann, der den Araberaufstand vor ein paar Jahren so glorreich niedergeschlagen hatte.
»Schau doch nur!«, rief Christian, der, von der allgemeinen Begeisterung angesteckt, seinen Hut schwenkte. »Man kann das Usambara-Gebirge sehen. Dort werden wir bald eine Plantage haben, mein Schatz!«
Sie lachte über seinen Eifer, der doch so unsinnig war, aber in ihrer glücklichen Stimmung sah sie darüber hinweg. Vielleicht würden sie ja tatsächlich irgendwann in diesen Bergen ihre Heimat finden, die man von hier aus nur als bläuliche Hügel weit im Inland sehen konnte. Vorläufig lockte sie jedoch viel mehr die Küste, das blau und grünlich schimmernde Meer, die kleinen Schiffe mit den weißen und farbigen Segeln, die sich wie große Tropfen im Wind bauschten und die man Dhau nannte. War es nicht jenes Land, von dem sie immer geträumt hatte?
»Es ist schön«, sagte Klara neben ihr so leise, dass sie es im allgemeinen Geschrei kaum verstand.
»Es ist genau so, wie ich es mir vorgestellt habe, Klara!«, gab Charlotte triumphierend zurück und zog die Cousine an sich. »Ein Land aus Wärme und Licht, ein reiches Land, ein unendlich schönes Land. Schau nur die vielen Vögel dort – ich glaube gar, es sind Pelikane.«
Ein Schwarm großer, schwarzweißer Vögel hatte sich aus dem grün bewachsenen Inland erhoben. Sie erschienen ihnen sogar aus der Entfernung gewaltig – wie mussten ihre Schwingen rauschen, wie ihre Schreie klingen!
»Das ist ein gutes Omen«, meinte Klara lächelnd und beschattete die Augen mit der Hand. »Pelikane sollen Glück bringen, das habe ich mal irgendwo gelesen!«
»Glück und Segen!«, rief Charlotte ausgelassen. »Nie wieder graue Dächer und enge Gassen. Nie wieder trübe Nebel und missgünstige Menschen! Wir sind frei. Und wir werden glücklich sein, Klara!«
Lachend warf sie den Kopf zurück, und in diesem Moment erfasste ihr Blick den weiß gekleideten Mann, der abseits der übrigen Passagiere auf dem Oberdeck stand. Wie die anderen hielt auch er ein Sektglas in der Hand, jetzt hob er es übermütig in die Höhe und lächelte zu ihr hinab, als wolle er ihr zutrinken. In ihrer Euphorie winkte sie ihm zu, dann jedoch senkte sie rasch den Kopf und zog das Tuch fester, das sie um ihr Haar geschlungen hatte.
»Du hast das Richtige getan, mein Schatz«, hörte sie Christians Stimme dicht neben sich und spürte, wie er seinen Arm um ihre Taille schob. »Ich habe eine wundervolle, kluge Frau geheiratet. Du hast uns in dieses Paradies geführt, Charlotte. Wie bin ich dir dankbar dafür.«
Er küsste sie sanft auf die Schläfe, eine Zärtlichkeit, die ganz ohne körperliches Begehren war und die sie gerade deshalb zutiefst rührte. Er war stolz auf sie, und er liebte sie. Was konnte sich eine Ehefrau mehr wünschen als die Liebe und Anerkennung ihres Mannes?
Einen Tag später hatten sich die kleinen Wölkchen zu einem bedrohlich dunklen Gewitterhimmel zusammengezogen, und die Küste lag im Dunst herabstürzender Regenmassen. Gewaltig explodierte über ihnen der Donner, übertönte sogar das Dröhnen und Stampfen der Schiffsmaschine, und zu Charlottes großer Verzweiflung zog die geheimnisvolle, lang ersehnte Insel Sansibar als blaugrauer Schemen in weiter Ferne an ihnen vorüber. Ach, sie hatte so gehofft, diese Insel wenigstens im Vorbeifahren betrachten zu können, die Paläste des Sultans zu bestaunen, den Zauber des nach Gewürzen duftenden Orients einzuatmen. Doch alles, was sie beim Ausharren auf Deck davontrug, war ein durchweichtes Kleid und triefend nasses Haar.
»Es ist Regenzeit, meine Liebe«, sagte Sarah William kopfschüttelnd, als Charlotte enttäuscht in den Frauenbereich des Zwischendecks zurückkehrte. »Da treibt man sich nicht draußen herum. Nur gut, dass es hier unten so warm ist, Ihre Sachen werden rasch trocknen.«
Regenzeit – natürlich. Sie würde noch bis Ende Mai andauern, dann begann die Trockenperiode. Das hatte sie irgendwann gelesen, doch bald wieder vergessen. Es regnete – was für ein gesegnetes Land, wenn man an die glühend heiße Wüstenlandschaft Ägyptens oder gar an die Ödnis von Aden dachte.
Als der Dampfer die Einfahrt zum Hafen von Daressalam durchfuhr, war der Himmel über ihnen dunkel, gleißende Blitze durchzuckten die Wolken. Die Passage durch den breiten, natürlichen Kanal war wegen der Korallenriffe nicht ungefährlich, mehrfach stoppte die Maschine, man hörte die lauten Kommandorufe des Schiffsführers, und es kam den ungeduldig wartenden Reisenden wie eine Ewigkeit vor, bis sich endlich vor ihnen das weite Hafenbecken öffnete. Es war tatsächlich riesig, ringsum von reicher Vegetation bewachsen und durch die vorgelagerten Riffe vor Stürmen geschützt.
»Daressalam – der Hafen des Friedens«, sagte einer der jungen Männer, mit denen Christian seit ihrer Abfahrt aus Hamburg so gern Umgang pflegte.
In diesem Augenblick krachte über ihnen der Donner, und der regenschwangere Himmel entlud sich über Land und Hafenbucht. Oben auf den überdachten Seitendecks störte sich niemand an dem heftigen Tropengewitter, unten auf dem Vorderdeck jedoch rannte alles durcheinander, denn viele der Passagiere hatten schon ihr Gepäck hinausgetragen. Vor allem Sarah schimpfte lauthals und warf die schiffseigenen Decken über ihre Koffer und Hutschachteln, da sie fürchtete, ihre Hüte würden durch die Nässe Schaden nehmen. Charlotte, Christian und Klara drängten sich eng aneinander, als könnten sie auf diese Weise dem heftig herabprasselnden Regen trotzen.
Gemächlich bewegte sich der Dampfer auf die Stadt zu, die sich rechts der Hafeneinfahrt an der Küste ausbreitete. Sie sahen Palmen, die vom Unwetter geschüttelt wurden, dazwischen einige helle, neue Gebäude, nicht ganz so großartig wie der Gouverneurspalast, der schon vom Meer aus sichtbar gewesen war, aber dennoch solide im Vergleich zu den anderen Häusern, die eher einen verwahrlosten Eindruck machten. Aber das mochte an dem dichten Regen liegen, der den Blick und auch die Farben trübte.
»Da ist ein Landungssteg!«, rief Christian. »Ich glaube, wir halten genau darauf zu.«
»Gott sei Dank«, murmelte Charlotte.
Doch ihre Hoffnung wurde enttäuscht. Der Dampfer bewegte sich zwar auf den Landungssteg zu, legte jedoch nicht dort an, sondern stoppte die Maschine in einiger Entfernung und ging vor Anker. Es sah ganz so aus, als müssten die Passagiere mit Booten zum Steg gebracht werden.
Klara schwieg, doch Charlotte sah ihr die aufsteigende Panik an. Wie sollte ihre Cousine, die sogar auf einer normalen Treppe Schwierigkeiten hatte, über die schmale, nur von zwei Handläufen gesicherte Gangway hinunter in das schwankende Boot gelangen?
»Wir gehen miteinander, Klara. Du hakst dich bei mir unter und hältst dich mit der anderen Hand am Handlauf fest!«
Vorerst geschah nichts, man wartete den tropischen Regenguss ab, der bekanntermaßen nie allzu lange andauerte. Als sich die Regenwolken verzogen hatten und die Feuchtigkeit in der Sonnenhitze als feiner Dunst emporstieg, begannen die Vorbereitungen für den Landgang. Jetzt, da die große Maschine nicht mehr dröhnte, vernahm man andere Geräusche, hörte das Gluckern und Plätschern der Wellen, die Befehle an die Matrosen, sogar die Anweisungen, die oben im Bereich der ersten und zweiten Klasse an die Bediensteten gerichtet waren.
»Schau, das Wasser im Hafen ist ganz ruhig!«, sagte Christian.
Charlotte blickte hinunter auf die spiegelnde Wasserfläche, die jetzt bei Sonnenschein von einem hellen Blau war, kleine Wellen blitzten auf wie funkelnde Glasscherben. Vom Land her näherten sich Ruderboote; darin saßen ausschließlich schwarzhäutige Männer, die sich mächtig in die Riemen legten, als gälte es, ein Wettrudern zu bestreiten. Als das erste der Boote an der inzwischen eingehängten und befestigten Gangway anlegte, schien es Charlotte jedoch, als schwanke das kleine Boot heftig auf und nieder.
Man ließ den anderen den Vortritt. Die meist männlichen Passagiere der oberen Klassen gelangten ohne Schwierigkeiten in die Ruderboote, einige schienen sogar Spaß daran zu haben, man hörte ihre Scherzworte und sah sie lachen. Die Frauen – fünf an der Zahl, zwei davon Bedienstete – stiegen ebenfalls mutig hinunter, sie wurden von hilfreichen Händen in Empfang genommen und auf einen Sitz geleitet. Sie machten ihre Sache gut – eigentlich war es nur die Kleidung, die bei solchen Unternehmungen lästig war: die enge Schnürung, die Röcke und die Schuhe, die für eine solche Kletterpartie nicht geeignet waren.
»Warten wir noch ein wenig«, bat Klara ängstlich, als Charlotte ihre Tasche ergriff und sich den Reisenden anschließen wollte, die auf die Gangway zusteuerten.
»Irgendwann muss es sein, Klara«, widersprach Christian verärgert. »Wir können schließlich nicht ewig auf dem Schiff bleiben, oder?«
Verzagt hakte sich Klara bei Charlotte unter, während Christian den Koffer trug. Die Ausschiffung der farbigen Mitreisenden verlief rascher, denn alle, auch die Frauen, bewegten sich mit einer Geschmeidigkeit, die Charlotte staunen ließ. Auf den Booten staute sich ihr Gepäck, und man drängte die Menschen so eng zusammen, dass zu befürchten stand, das Boot könne die Last nicht tragen und würde sinken.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?«
Charlotte wandte sich zu dem Mann um, der sie von hinten angesprochen hatte, in der Meinung, es sei einer der Matrosen. Doch zu ihrer Überraschung war es der blonde Reisende, der ihr mit seinem Sektglas zugeprostet hatte. Was hatte ihn aufgehalten? Die anderen Passagiere der oberen Klassen waren längst ausgeschifft.
»Sehr freundlich – aber ich glaube, wir kommen zurecht.«
Sein Lächeln erschien ihr angenehm, es war weder aufdringlich noch verfänglich, zeugte aber von einem unerschütterlichen Selbstvertrauen.
»Ich trage Ihre Schwester hinunter!«, schlug er vor. »Das dauert keine Minute und erspart Ihnen die Kletterei!«
Klara war zu keiner Antwort fähig. Es war für sie undenkbar, von einem völlig fremden Herrn angefasst oder gar getragen zu werden.
»Vertrauen Sie sich mir an, junge Frau?«, rief er vergnügt und machte eine kleine Verbeugung. »Sie sind in meinen Armen so sicher wie in Abrahams Schoß!«
Er schien ihr Schweigen für Zustimmung zu halten. Mit raschem Schwung hob er die völlig erstarrte Klara hoch, als sei sie ein leichtes Vöglein, und trug sie Richtung Ruderboote.
»Das ist doch … Wer ist das überhaupt? … Wie kommt er nur dazu?«, stotterte Christian überrumpelt.
Charlotte antwortete nicht, doch auch sie war nicht gerade erfreut über diese impulsive Aktion. Allerdings musste sie zugeben, dass der Fremde nicht zu viel versprochen hatte. Klara saß nun heil und sicher unten im Boot, während ihr Helfer das schwankende Gefährt mit seinem Körpergewicht ausbalancierte und offensichtlich darauf wartete, weitere Hilfe leisten zu dürfen.
Er nahm Christian, der als Nächster hinunterstieg, den Koffer ab, damit er leichter ins Boot klettern konnte, dann blinzelte er gegen die Sonne an der Bordwand empor. Charlotte, die nun ebenfalls die untere Plattform der Gangway erreicht hatte, verzichtete auf die Hilfe des Unbekannten und ergriff stattdessen die ausgestreckte Hand ihres Mannes.
Während die schwarzen Ruderer die kurze Strecke bis zum Landungssteg bewältigten, saß der blonde Helfer ihr gegenüber, die angewinkelten Ellenbogen auf die Knie gestützt. Er schien sich offenbar darüber klar zu werden, dass seine Hilfeleistung ein wenig übereilt gewesen war, und versuchte, den Schaden wiedergutzumachen.
»Ich habe mich nicht einmal vorgestellt – verzeihen Sie mir. Maximilian von Roden. Aus Brandenburg.«
Christian war rasch versöhnt, stellte sich, seine Frau und seine Schwägerin vor, erklärte, im Usambara-Gebirge eine Plantage anlegen zu wollen, und schwatzte davon, ein großes Geschäft in Ostfriesland geführt zu haben. Klara überwand ihren Schrecken und sprach ihren Dank aus. Charlotte nickte ihm nur kurz zu und starrte dann angestrengt zu der Stadt hinüber, der sie sich näherten. Als das Boot am Landungssteg festmachte, hatte Klara gleich mehrere Helfer zur Seite, auch die schwarzen Ruderer fassten zu, um sie auf den Steg zu heben. Charlotte musste hart um den Koffer kämpfen, den ein übereifriger Schwarzer an Land tragen wollte, erst als sie energisch wurde, ließ er die Last stehen und starrte die zornige Weiße so verständnislos an, dass ihr die lauten Worte schon wieder leidtaten.
Langsam ging sie an Klaras Seite über den hölzernen Steg. Unter ihnen schwappten die Wellen über den flachen Strand, vereinzelt war schwarzes, vom Wasser glatt geschliffenes Gestein zu sehen, Muscheln und Seetang. Als der Steg endete, setzten sie zögernd die Füße auf den sandigen Boden ihrer neuen Heimat. Er war feucht und von den Spuren der Menschen vor ihnen übersät, die meisten stammten von den nackten Füßen der einheimischen Träger, doch man sah auch die Abdrücke breiter Herrenschuhe, kantiger Stiefel und die Konturen von Damenschuhen, deren Absätze viereckige Löcher in den Sand gebohrt hatten.
Unter einer einsamen Palme blieben sie stehen. Christian setzte den Koffer ab, und sie betrachteten unsicher das deutsche Hafenamt, zu dem eine steinerne Treppe hinaufführte. Es war ein lang gezogenes, hell getünchtes Gebäude von eigenartiger Bauart, eine Mischung aus altgewohnter, heimatlicher Architektur und orientalischen Formen. Deutsch wirkten auf jeden Fall die viereckigen Türmchen mit den spitzen Dächern, doch die verschnörkelt geschnitzte Türeinfassung kam ihnen sehr afrikanisch vor.
»Da sind wir nun«, sagte Christian schnaufend und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Stamm der Palme. »Und was jetzt?«
Die Frage war berechtigt. Die Passagiere der Bundesrath waren längst im Stadtinneren verschwunden, auch Maximilian von Roden war nicht mehr zu sehen. Dafür eilten eingeborene Träger an ihnen vorüber, die auf ihren Köpfen dicke Bündel und Säcke die Treppe hinauf zum Hafengebäude schleppten. Sie schauten die beiden weißen Frauen und ihren Begleiter mit neugierigen Augen an, doch keiner von ihnen kümmerte sich weiter um die neu angekommenen Europäer. Indes verdunkelte sich der Himmel über ihnen in der Absicht, einen weiteren Regenguss tropischen Ausmaßes auf die Bucht des Friedens herabzuschütten.