Charlotte musste die Lektüre unterbrechen, um die Gefühle zu ordnen, die jetzt über sie hereinbrachen. Es war vor allem Befriedigung, mehr noch: Es war Triumph. Er vertraute ihr diese Blätter an, nicht Marie, seiner Frau, die doch mit ihm in Ägypten lebte und diese Aufgabe leicht hätte übernehmen können. Zugleich aber stieg Bitterkeit in ihr auf. Er hätte damals nur ein Wort sagen, ihr ein wenig Hoffnung machen müssen. Weshalb hatte er sie niemals aufgefordert, nach Ägypten zu reisen? In seinem Haus zu wohnen, Marie zur Hand zu gehen und ihr Gesellschaft zu leisten? Vor drei Jahren war sie volljährig geworden, da hätte sie über ihre Mitgift verfügen können. Aber er hatte neun Jahre lang geschwiegen, und jetzt jammerte er, wie schön es wäre, wenn sie neben ihm säße!

Ein böser Gedanke beschlich sie. Vielleicht hatte er tatsächlich überlegt, sie einzuladen, und es war Marie gewesen, die damit nicht einverstanden war? Ihre Cousine Marie, die so klug sein konnte und stets bekam, was sie haben wollte.

Gleich darauf schämte sie sich dieses Verdachts und vertiefte sich in Georges Reisebericht. Er zog sie in seinen Bann, kaum dass sie zwei Sätze gelesen hatte, sie glaubte, den rötlichen Staub auf der Zunge zu schmecken, den Kamelgeruch zu atmen, das Geschrei der streitenden Beduinen zu vernehmen. Mit bebendem Herzen las sie seine Schilderung des Sandsturms, der ihn und seine Begleiter fast das Leben gekostet hatte. Sie war neben ihm, kniete inmitten des höllischen Infernos an seiner Seite und spürte, wie er versuchte, sie mit seinem Körper vor den heranbrausenden Sandkörnern und Steinchen zu schützen …

Gewaltsam riss sie sich von dem Text los und stützte den Kopf in beide Hände. Nein, das war lange vorbei. Damals, als Fünfzehnjährige, war sie in George verliebt gewesen, eine dumme, kindliche Schwärmerei, die ihr Kummer bereitet hatte und die inzwischen längst vergessen war. Was sie heute miteinander verband, war eine Art Seelenverwandtschaft, sie teilten die gleiche Leidenschaft, verstanden einander und tauschten sich aus.

Sie las den Bericht zu Ende, betrachtete eingehend die Zeichnungen, die, anders als Klaras Bilder, sehr genau waren und viele Einzelheiten zeigten. Dann griff sie zur Feder und begann, den Text zu überarbeiten, machte auf einem gesonderten Blatt Vorschläge, um einige Details plastischer auszudrücken, strich Übertreibungen und Ungenauigkeiten an, stellte Verständnisfragen. Zwei Tage benötigte sie für diese Arbeit, dann schrieb sie einen Brief dazu, lobte und ermutigte George, mit seinen Schilderungen fortzufahren, und fügte in heiteren Worten hinzu, wie sehr auch sie bedauere, nicht neben ihm zu sitzen, denn so könnten sie sich das Porto für die Briefe sparen.

Als sie den Brief am folgenden Morgen zum Postamt trug, kam ihr der seltsame Gedanke, dass dieser nun auf die Reise gehen durfte, während sie selbst zurückblieb. Es gab Träume, die man leben konnte, das hatte George bewiesen. Es gab aber auch solche, die für immer ausgeträumt waren.

Himmel über dem Kilimandscharo
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