Sie las den Brief noch einmal durch und war sehr unzufrieden. Weshalb schon wieder dieser melancholische Tonfall? Hatte sie nicht vorgehabt, Klara aufzuheitern, ihr Mut zu machen? Es musste an der späten Stunde liegen, an der Stille in dem sonst so lärmenden Haus, vielleicht auch an dem herabrauschenden Regen. Zu dieser Zeit überkam sie oft ein Gefühl der Einsamkeit, das sie tagsüber niemals empfand.
Einen Moment lang überlegte sie, ob sie das Blatt zerreißen und neu schreiben sollte, aber es war schon spät, und morgen würde der Briefträger kommen, dem sie die Post mitgeben wollte. Besser war wohl, erst einmal schlafen zu gehen und morgen früh, wenn sie in besserer Stimmung war, noch rasch ein paar fröhliche Sätze anzuhängen.
Der Regenguss war vorüber. Tröpfelnd und rieselnd rann das Wasser vom Dach herab und sammelte sich vor dem Haus in zwei Rinnen, die Max damals hatte graben lassen, um es durch die Wiese hinunter zum Teich zu leiten. Als sie die Vorhänge schließen wollte, entdeckte sie, dass in einem Fenster des Verwalterhäuschens noch Licht brannte, was ihr ein wenig über die Melancholie hinweghalf. Sie war nicht ganz allein, es gab auch andere, die zu dieser Stunde noch wach waren. Überhaupt war es albern, sich immer wieder solchen Stimmungen hinzugeben, sie hatte weiß Gott genug Gründe, zufrieden und dankbar zu sein. Zum Beispiel für die beiden jungen Deutschen drüben im Verwalterhäuschen, die seit vier Jahren auf der Plantage arbeiteten und sich als fleißige und verlässliche Menschen erwiesen hatten. Ihre Ankunft musste eine Fügung des Schicksals gewesen sein, hatte sie in dem schrecklichen Jahr, das auf Max’ Tod folgte, doch kurz davor gestanden, alles hinzuwerfen. Der Sisal war voller gelber Flecke, die die Qualität minderten, ein Schädling ließ die Kaffeebeeren braun werden, so dass sie abgepflückt und verbrannt werden mussten. Das Schlimmste aber war, dass die schwarzen Arbeiter ihre Anweisungen nur zögernd und unwillig ausführten, sie waren Max’ energische Art gewöhnt und wollten nicht glauben, dass eine bibi die Plantage führen könnte.
Lächelnd sah sie zu, wie drüben im Verwalterhaus die Tür geöffnet wurde. Die beiden Männer hatten einen Hund, den sie in der Nacht ins Haus holten. Jacob Götz und Wilhelm Guckes stammten aus der Gegend von Kassel und hatten in Usambara auf einer Kaffeeplantage gearbeitet, bevor sie zu ihr kamen. Dort hatte es angeblich Ärger mit dem Plantagenbesitzer, einem ehemaligen deutschen Offizier, gegeben, was Charlotte zuerst Anlass zu Misstrauen gab, das sich jedoch schon bald als unbegründet erwies. Jacob und Wilhelm akzeptierten sie von Anfang an als Herrin der Plantage, fügten sich ihren Anweisungen, und mit den schwarzen Arbeitern kamen sie gut zurecht. Die beiden waren unzertrennliche Freunde seit ihrer Kindheit, und wie es schien, dachte keiner von ihnen an eine Heirat, sie hatten an sich selbst genug. Das Verwalterhaus hatten sie mit viel Liebe ausgestattet, eigene Möbel gebaut und sogar Kissen genäht, auch schliefen sie ganz offensichtlich miteinander im selben Bett. Ganz so, wie sie es damals mit Klara gehalten hatte.
Klara! Sie zog rasch die Vorhänge zu und blickte wieder zweifelnd zum Schreibtisch hinüber. »Bis wir uns wiedersehen« hatte sie unter den Brief gesetzt. Was für eine dumme Floskel. Seit sieben Jahren waren sie nun voneinander getrennt, und die Hoffnung, sich wiederzusehen, war vor zwei Jahren noch weiter in die Ferne gerückt, als Peter die Order erhalten hatte, im Süden der Kolonie, in der Nähe von Kilwa Kivinje, eine neue Missionsstation ins Leben zu rufen. Der Süden war eine Gegend, die man bisher vernachlässigt hatte, nun aber wurde dort überall Baumwolle angebaut, und die Mission der eingeborenen Stämme hatte große Bedeutung bekommen. Peter Siegel und seine Frau Klara lebten inzwischen in einem angeblich »einfachen, aber wunderschönen« Missionshaus in Naliene, etwa neunzig Kilometer westlich der Küste gelegen. Klara hatte hübsche Bilder gezeichnet und oft von der fruchtbaren Landschaft und den freundlichen Eingeborenen geschwärmt, doch Charlotte wusste recht gut, dass Klara ihr nicht immer die ganze Wahrheit mitteilte. Ganz sicher war das Leben dort sehr mühselig für eine behinderte Frau, und dazu war sie nun schwanger geworden. Mit dreiunddreißig erwartete sie ihr erstes Kind, hatte sogar »Schwierigkeiten« gehabt, von denen sie im Einzelnen nichts berichtete. Großer Gott – ob es überhaupt jemanden gab, der ihr bei der Geburt zur Seite stehen konnte? Eine treue Seele wie Hamuna?
Sie ließ sich auf ihren Stuhl fallen, nahm sich den Brief noch einmal vor, grübelte und schob ihn dann wieder zur Seite. Nein, es war nicht möglich. Sie hatte um die Plantage Sorge zu tragen. Zu dieser Zeit würde man einen Teil der Agaven schneiden und verarbeiten. Sie hatte eine kleine Tochter, die sie brauchte. Ein Wirbelwind, die mit den schwarzen Kindern herumtobte, braun gebrannt mit zwei hellblonden Zöpfchen, die sich ständig auflösten. Eine bezaubernde, widerspenstige Göre, die die Geduld ihrer Kinderfrau schamlos ausnutzte und dann wieder freigiebig all ihre Leckereien an die schwarzen Freunde und Freundinnen verteilte. Elisabeth war der wichtigste Mensch in Charlottes Leben, ihr einziges Kind, ihr Augenstern und Max’ Vermächtnis an sie. In den bitteren Wochen nach seinem Tod war eine Nachricht aus Brandenburg eingetroffen. Max’ Bruder und seine Schwägerin kondolierten ihr tief ergriffen zum Tod ihres Ehemannes und forderten Charlotte auf, die kleine Tochter auf ihr Gut in Brandenburg zu bringen. Das Kind sei immerhin eine von Roden, nach Max’ Tod käme seinem Bruder die Vormundschaft zu. Man wünsche nicht, dass das Mädchen in Afrika wie eine Wilde aufwachse, es habe Anspruch auf eine standesgemäße Erziehung. Charlotte hatte den Brief zornig zerrissen und ins Feuer geworfen, und sie war sich vollkommen sicher, dass Max das Gleiche getan hätte. Nichts auf der Welt hätte sie dazu bringen können, ihr eigenes Kind, Max’ Tochter, fortzugeben.
Weshalb sorgte sie sich überhaupt? Peter Siegel konnte Klara nach Kilwa bringen, dort gab es eine Station der Schutztruppe, also auch Ärzte, die ihr beistehen würden. Und außerdem war Peter Siegel bei all seinem religiösen Fanatismus doch ein zärtlicher Ehemann, hatte er nicht große Angst um Klara gehabt, als sie in der Inderstraße krank darniedergelegen hatte?
Entschlossen nahm sie die Lampe und ging hinüber ins Schlafzimmer. Seitdem sie dem Gitterbettchen entwachsen war, schlief Elisabeth neben ihr, dort, wo Max früher gelegen hatte. Beide waren sehr zufrieden damit, vor allem Elisabeth, die jetzt oft von Albträumen geplagt wurde und sich dann an die Mama kuscheln konnte. Doch auch Charlotte war froh, den ruhigen Atem ihres Kindes zu hören, wenn sie am Abend nicht einschlafen konnte und sich trüben Gedanken hingab. Jetzt lag die Fünfjährige zusammengekauert wie ein junges Kätzchen auf der Seite, das Gesichtchen rosig im Schlaf. Natürlich nuckelte sie wieder am Daumen und hatte noch dazu ein Zopfende in den Mund gesteckt. Charlotte kleidete sich aus und zog das Nachthemd über, dann beugte sie sich leise über ihre Tochter, zog ihr vorsichtig den Daumen aus dem Mund und legte den blonden Zopf nach hinten. Was für eine dumme Angewohnheit, morgen würde sie Hamuna einschärfen, Elisabeths Zöpfchen am Abend zusammenzubinden.
Als sie sich im Bett ausgestreckt und das Licht gelöscht hatte, wurde ihr bald klar, dass nicht einmal Elisabeths unbefangener Schlaf sie heute von ihren Sorgen abhalten konnte. Sie versuchte, ihren Gedanken eine andere Richtung zu geben, dachte an Marie, die vor einigen Monaten einen Brief mit einer hübschen Fotografie ihrer Kinder geschickt hatte. Der dreijährige Arthur saß auf einem hölzernen Schaukelpferd, neben ihm kniete die achtzehnjährige Berta, eine zarte junge Frau, herausgeputzt wie eine feine Dame. Dahinter stand Johannes, der inzwischen sechzehn war, dünn und hellblond, seine Augen blickten kritisch, fast feindselig in die Welt. Marie schien recht glücklich mit ihrem zweiten Ehemann zu sein, der – so schrieb sie – allen drei Kindern ein guter Vater sei und keine Unterschiede mache. Nur am Rande hatte sie erwähnt, dass George nach langer Abwesenheit wieder in London sesshaft geworden sei und in Whitechapel eine Arztpraxis eröffnet habe, sie pflege jedoch keinen Kontakt zu ihm. Charlotte kannte diesen Stadtteil nur, weil Marie ihn hin und wieder in ihren Briefen erwähnte. Wenn man ihr glauben konnte, dann gaben sich in Whitechapel Bettler und Kriminelle ein Stelldichein – es war gewiss eine ganz andere Gegend als die, in der die Praxis von Georges Vaters gelegen hatte. Ob George wohl wieder geheiratet und eine Familie gegründet hatte? Seit seinem Besuch auf der Plantage hatte sie nie wieder etwas von ihm gehört, aber sie wünschte ihm sehr, dass er nach den langen Wanderjahren endlich zur Ruhe gekommen war.
Auch sie hatte ihren Frieden gefunden. Sie war jetzt fünfunddreißig Jahre alt und hatte in diesem Land zwei Ehemänner begraben. Den einen hatte sie bemitleidet und geglaubt, für ihn sorgen zu müssen; sein unseliges Ende hatte sie nicht verhindern können, es belastete sie immer noch. Den anderen aber hatte sie geliebt, und sie liebte ihn immer noch. Die drei kurzen Jahre an Max’ Seite waren übervoll mit Glück gewesen, mehr, als vielen anderen Menschen in ihrem ganzen Leben beschieden war. Das Schicksal hatte ihr diese Zeit geschenkt, dafür war sie dankbar, mehr konnte und wollte sie nicht verlangen.
Sie hatte Menschen, die ihr nahestanden. Ihr Kind. Hamuna. Schammi, der fortgelaufen war. Einige Nachbarn, zu denen der Kontakt jedoch nicht allzu eng war. Natürlich die Familie in Leer, doch die war weit fort. Nicht nur räumlich, auch ihr Leben verlief in ganz anderen Bahnen, und oft war es schwer, einander zu verstehen. Sie hatte Klara …
Klara, ihre kleine Cousine. Hatte sie etwa vergessen, wie sehr sie sich während ihrer eigenen Schwangerschaft nach Klara gesehnt hatte? Ihre Cousine war allein mit ihrem Mann in einem primitiven, einsam gelegenen Missionshaus. Was, wenn Peter Siegel sie nicht rechtzeitig nach Kilwa brachte? Was, wenn Klara diese Geburt nicht überlebte?
Sie zündete die Lampe wieder an und ging auf Zehenspitzen hinüber zu ihrem Schreibtisch. Sorgfältig tauchte sie die Feder ein und schrieb ein Postskriptum.
Nein, du kannst mich nicht von meinem Vorhaben abbringen, versuche es erst gar nicht, denn ich bin fest entschlossen. Mitte Juli werde ich hier aufbrechen, das letzte Stück von Mombo bis Tanga kann ich zum Glück mit der Usambara-Bahn fahren, und dann nehme ich den Küstendampfer bis Kilwa Kivinje. Für den Weg bis Naliene werde ich Maultiere mieten.
Sieben Jahre lang haben wir uns nicht gesehen, so viel ist inzwischen geschehen. Ich habe große Sehnsucht nach dir, meine Klara, und ich will an deiner Seite sein, wenn deine schwere Stunde naht, die doch zugleich die glücklichste deines Lebens sein wird.
Charlotte