Charlotte hatte sich vor diesem Augenblick gefürchtet, der doch nicht zu umgehen war und der einen langen Bericht nach sich ziehen musste. Sie hatte Angst gehabt, von den aufsteigenden Bildern überwältigt zu werden und aufs Neue in Verzweiflung zu versinken, doch genau das Gegenteil geschah. Stockend fing sie an zu erzählen, verwirrte sich, musste die Reihenfolge der Ereignisse berichtigen, dann aber spürte sie, wie ihr leichter ums Herz wurde. Sie schilderte jedes Detail, jede schmerzliche Erinnerung, sprach ungeschönt von ihrer Reue und ihren Gewissensbissen und fühlte zugleich, dass die bitteren Gefühle in ihrem Herzen schwanden, je mutiger sie sie aussprach.
»Gott sei seiner Seele gnädig«, sagte Peter Siegel leise, und Klara, die sich gut vorstellen konnte, wie es in Charlotte aussah, verbot ihr energisch, sich Vorwürfe zu machen.
»Du hast unendlich viel für Christian getan«, stellte sie fest. »Vor allem hast du ihm vergeben. Und ich weiß, wie sehr er darauf gehofft hat, Charlotte.«
Peter Siegel blieb bis zum späten Nachmittag, da er meinte, die unglücklichen Frauen mit dem Trost des Evangeliums versehen zu müssen. Charlotte war froh, als er sich endlich mit einem langen, innigen Händedruck verabschiedete; sie hatte das Gerede von der Auferstehung im Herrn und der Vergebung aller Sünden durch Christi Blut gründlich satt. Es mochte Missionar Siegels Bestimmung sein, die protestantische Lehre zu verkündigen, und ganz sicher war er selbst felsenfest von dem, was er sagte, überzeugt, aber seltsamerweise fehlte seinen Worten alle Wärme. Sie klangen wie jene Predigten, die sie als Kind allsonntäglich hatte anhören müssen und die sich stets an jemand anderen zu richten schienen, niemals aber an sie selbst.
»Er ist ein so rührender Mensch«, seufzte Klara.
»Das ist er gewiss«, gab Charlotte zurück, und da sie Klara nicht verletzen wollte, fügte sie hinzu: »Ich glaube, ihr werdet sehr glücklich miteinander werden.«
»Sprich doch jetzt nicht von solchen Dingen, Lotte. An eine Hochzeit ist nun sowieso nicht zu denken. Der arme Christian ist ja kaum unter der Erde …«
Sie schlossen den Laden und saßen bis gegen Mitternacht in der Wohnung zusammen, weil Klara unbedingt noch an diesem Abend einen Brief nach Leer schreiben wollte.
Auch Schammi hatte Charlottes Bericht aufmerksam gelauscht. »Fieber ist böse«, hatte er anschließend betroffen gemurmelt. »Kommt in der Nacht und zündet Bauch an, damit Seele verbrennt zu Asche.«
Wie früher schliefen beide Frauen zusammen in einem Zimmer. Trotz aller Müdigkeit flüsterten sie leise miteinander, und in der Dunkelheit des kleinen Raums wähnte sich Charlotte wieder daheim in Leer. Wie vertraut war ihr Klaras Wispern, ihr leises Atmen, ihre Gewohnheit, sich vor dem Einschlafen mit einem kleinen, wohligen Seufzer auf die Seite zu drehen.
»Denkst du daran, nach Deutschland zurückzukehren?«, flüsterte Klara.
»Nein. Du etwa?«
»Ich habe mir manchmal gewünscht, wieder in Leer zu sein«, gestand sie. »Aber jetzt ist das vorbei.«
Charlotte lächelte bitter. Ihre Cousine würde von nun an dort glücklich sein, wo Peter Siegel war. Das war nur natürlich, es musste so sein, es sollte so sein. Sie selbst aber würde niemanden an ihrer Seite haben, auch Klara würde sie verlassen. Das Glück. Wie hatte Max von Roden doch gesagt? »Das Glück ist keine einfache Sache.«
»Schlaf schön …«
»Du auch, Lotte …«
Rascher, als sie geglaubt hatte, fiel Charlotte in einen dumpfen, traumlosen Schlaf. Als Klara sie am Arm rüttelte, hatte sie Mühe, aus dem tiefen Abgrund wieder emporzutauchen, dann jedoch hörte sie die krachenden Schläge. Holz splitterte, eine Kette rasselte. Ein Hund begann zu kläffen, ein zweiter fiel ein, irgendwo kreischte ein Affe, der im Schlaf geweckt worden war.
»Es ist unten«, flüsterte Klara. »Gott steh uns bei …«
»Schon wieder so ein verdammter Löwe«, murmelte Charlotte schläfrig. »Weshalb tun die Behörden nichts gegen diese Biester?«
»Das ist kein Löwe!«
Unten im Laden polterte und schepperte es, als habe jemand das Regal mit den Töpfen und Petroleumlampen umgestoßen. Charlotte war plötzlich hellwach. Einbrecher! Man wollte ihre Waren stehlen.
»Zünde die Lampen an!«, rief sie Klara zu, während sie selbst aus dem Schlafraum hinüber zu den Wohnzimmerfenstern stürzte. Der Mond war von Wolkenschleiern verhangen, doch es war hell genug, um die Gestalten der Männer zu erkennen, die Bündel und Säcke aus dem Laden schleppten und auf mehrere Karren luden.
»Diebe! Zu Hilfe! Diebe!«, kreischte Charlotte und beugte sich zum Fenster hinaus. Niemand schien sie zu hören, in den umliegenden Häusern blieb alles dunkel.
»Wo ist mein Koffer?«
»Was willst du mit deinem Koffer?«
Klara hatte es gerade einmal geschafft, eine einzige Lampe anzuzünden, doch die wollte kaum brennen, da sie gestern Abend vergessen hatten, Petroleum nachzugießen. Bei ihrer hektischen Suche fiel Charlotte beinahe über Schammi, der ängstlich hinter einem Stuhl kauerte, dann fand sie ihren Koffer und riss ihn auf. Christians Hemd fiel ihr entgegen, ihre Hose, die Schuhe, Christians leerer Notizblock …
»Er ist nicht mehr drin. Sie haben ihn mir gestohlen«, keuchte sie verzweifelt.
»Was, um Himmels willen?«
»Meinen Revolver und die Patronen. Verdammte, dreckige Karawanendiebe …«
»Du wolltest doch nicht etwa mit einer Waffe auf Menschen schießen?«
Nein, das hätte sie vermutlich nicht fertiggebracht. Aber sie hätte die Diebe mit Schüssen in die Luft vertreiben können. In wilder Entschlossenheit griff sie einen Stuhl und schob den Riegel an der Wohnungstür zurück, um die Treppe hinunter in den Laden zu laufen.
»Bist du wahnsinnig?«, jammerte Klara. »Sie werden dich erschlagen!«
»Denkst du, ich lasse mir so einfach meine Waren stehlen?«, schrie Charlotte, doch Klara klammerte sich mit aller Kraft an sie. »Bleib um Gottes willen hier«, ächzte sie. »Wir können froh sein, wenn sie nicht hinaufkommen.«
»Weshalb sollten sie wohl hinaufkommen? Lass mich los! Klara!«
Zornig versuchte Charlotte, sich zu befreien, doch ihre Cousine, die sonst so schwächlich war, hielt sie mit eiserner Kraft fest.
»Bibi nicht streiten. Leute sind unten!«, ließ sich Schammi zaghaft vernehmen.
Tatsächlich war jetzt endlich Bewegung auf der Straße, man hörte heisere Rufe, Lichter leuchteten auf, eine helle Männerstimme fluchte auf Suaheli. Dann fiel ein Gewehrschuss.
Vollkommen erschöpft ließ Klara sich auf einen Stuhl fallen, während Charlotte die Lampe ergriff und nun doch die Stiege hinunter in den Laden rannte. Dort war alles voller Menschen. Nachbarn, Bekannte, auch andere, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, fuchtelten mit Lampen, Knüppeln und Gewehren, krakeelten, jammerten und besahen neugierig das Chaos, das die Einbrecher hinterlassen hatten. Charlotte brauchte bloß einen kurzen Blick in die Runde zu werfen, um zu begreifen, dass ihr nur wenig geblieben war.
»Der Scheitan soll sie holen. In der Hölle sollen sie verbrennen!«
»Vier sind es gewesen. Zwei haben die Karren gezogen.«
»Nein, fünf. Einen habe ich noch am Hemd erwischt, da hat er sich umgedreht und mir die Faust ins Gesicht gehauen!«
»Die Türen haben sie zerschmettert.«
»Alles haben sie mitgenommen, die Hundesöhne …«
Auch im Laden drängten sich jetzt Neugierige, aufgeregt wurde über das Ereignis geredet, jeder hatte etwas gesehen oder wenigstens gehört, mancher wusste zu berichten, dass bei anderen Überfällen sogar Ladenbesitzer verprügelt und die Kasse geraubt worden sei. Ab und zu bückte sich jemand, klaubte einen Gegenstand vom Boden auf, der den Dieben entfallen war, doch nur ein einziger, ein junger Afrikaner, brachte Charlotte seinen Fund. Ein kleines Amulett aus einem geschnitzten Mandelkern.
»Weshalb habt ihr die Diebe nicht verfolgt?«, schimpfte sie.
»Sie sind verschwunden wie die Geister. Zwischen den Häusern hindurch in die Dunkelheit. Wer kann sie da finden? Die Löwen sollen sie fressen.«
Der Tumult hatte auch zwei Askari der deutschen Polizeitruppe herbeigelockt, und die Verwirrung steigerte sich, als sie wissen wollten, wer die Diebe gesehen habe. Die Beschreibungen waren abenteuerlich, einer behauptete sogar, sie hätten Gesichter wie Leoparden und Füße wie Elefanten gehabt. Klar war nur, dass es schwarze Afrikaner gewesen waren – zu welchem Stamm sie gehörten, darüber wurde allerdings heftig gestritten. Man führte die beiden Polizisten zu der Stelle, wo die Spitzbuben angeblich zwischen den Gebäuden hindurchgeschlüpft und verschwunden waren, doch wegen der schlechten Beleuchtung waren keinerlei Spuren zu finden.
»Schreiben Sie alles auf, was gestohlen wurde, und kommen Sie ins Stadthaus«, wies der sudanesische Askari Charlotte an. »Wenn wir die Diebe finden, werden sie eine schreckliche Strafe erhalten.«
Nachdem sich die Polizisten wieder entfernt hatten, verlief sich auch die Menge der Neugierigen. Man gähnte, murmelte noch einige Verwünschungen an die Adresse der ruchlosen Diebe, und ein alter Inder meinte kopfschüttelnd, es sei ein Unglück, dass Kamal Singh nicht mehr in der Stadt wäre.
Schlagartig wurde Charlotte klar, dass es Kamal Singhs Einfluss gewesen war, der sie bisher vor solchen Übergriffen bewahrt hatte. Nun aber waren die Fäden, die er gesponnen hatte, zerrissen, die Machtverhältnisse in der Inderstraße hatten sich gewendet. Es war gut möglich, dass sie den Zorn derer zu spüren bekam, die Kamal Singh über Jahre hinweg unterdrückt hatte.
Als endlich alle gegangen waren, versuchte sie mit Schammis Hilfe die schwer beschädigten Ladentüren wenigstens notdürftig zuzuklappen. Das Schloss vorzulegen erübrigte sich – es gab nicht mehr viel zusammenzuhalten. Beim Schein der Petroleumlampe schoben sie Regale und Kisten wieder an Ort und Stelle, kehrten zerbrochenes Geschirr, Reiskörner und zertretene Bohnen vom Boden auf und trugen die wenigen Dinge, die man ihnen gelassen hatte, hinauf in die Wohnung. Vielleicht hatte Klara ja recht, und sie konnten froh sein, dass die Diebe nicht nach oben gekommen waren. So sicher das Versteck auch war, in dem Charlotte ihre Ersparnisse aufbewahrte, ein Dieb, der nicht vor brutaler Gewalt zurückschreckte, hätte sie zwingen können, es zu verraten.
Erst gegen Morgen krochen sie zurück in ihre Betten, zitternd vor Kälte und immer noch voller Angst, die Diebe könnten zurückkommen. Obgleich Charlotte die Wohnungstür mit der Truhe verbarrikadiert hatte, versteckte sich Schammi vorsichtshalber in der Küche, da er glaubte, dass man dort kaum nach wertvollen Dingen suchen würde. Zum ersten Mal seitdem sie in Daressalam lebten, hoffte Charlotte, eine Löwin möge durch die Straße streifen. Sollte sie ruhig unten in den Laden eindringen, dann würde wenigstens niemand wagen, die Treppe hinaufzusteigen, um die Wohnungstür aufzubrechen.
Am folgenden Tag ging Charlotte zum Stadthaus, um den Einbruch zu schildern und eine Liste der gestohlenen Waren abzugeben. Man machte ihr wenig Hoffnung, ihren Besitz je wiederzusehen. Leider kämen Einbrüche immer wieder vor, besonders in den Geschäftsvierteln der Inder und Araber und noch häufiger in den Gegenden, in denen die Schwarzen wohnten.
»Weshalb gibt es keine nächtlichen Kontrollgänge? Wir haben eine Polizeitruppe und dazu eine Schutztruppe.«
»Selbstverständlich wird die Stadt auch in der Nacht bewacht, Frau Ohlsen.«
»Die Gegenden, in denen die Deutschen wohnen – das glaube ich Ihnen gern. Und was ist mit den übrigen Vierteln?«
Man erklärte ihr, dass die indischen und arabischen Geschäftsleute sich normalerweise selbst gegen Überfälle schützten, es gäbe bewaffnete Angestellte und Wächter.
»Schön, wenn man sich darauf verlassen kann …«
Sie war ärgerlich geworden und ging dem deutschen Leiter der Polizeitruppe auf die Nerven, so dass er sich schließlich zu der Bemerkung hinreißen ließ, sie könne froh sein, nicht als Mitwisserin dieses Inders Kamal Singh angeklagt zu werden. Sie habe sich in seine kriminellen Machenschaften hineinziehen lassen, die Schmuggelware sei in ihrem Laden entdeckt worden, und nur weil sich der Missionar Peter Siegel für sie eingesetzt habe, lasse man die Angelegenheit auf sich beruhen. Sie solle sich eben ein Geschäft im deutschen Viertel anmieten, das sei allemal besser, als sich unter Neger und Inder zu mischen.
Mutlos kehrte sie in die Inderstraße zurück. Die Mieten im deutschen Viertel waren viel zu hoch, und außerdem – wer würde dort einkaufen? Höchstens die wenigen deutschen Frauen, die anderen Kunden würden in der Inderstraße bleiben.
Inzwischen war Pfarrer Peter Siegel zu seinem täglichen Besuch eingetroffen, er zeigte sich tief erschrocken über die Vorgänge der Nacht, rüttelte zaghaft an den zerbrochenen Klapptüren, dann wanderte sein besorgter Blick zu den aus Lehmziegeln gemauerten Stufen, die hinauf in die Wohnung führten.
»Sie können hier unmöglich bleiben, Frau Ohlsen. Zwei schutzlose Frauen, die der Gewalt dieser Räuberbanden ausgesetzt sind … Ich habe Klara angeboten, vorläufig in unserem Missionshaus am Immanuelskap Quartier zu beziehen, dort wird auch Platz für Sie sein. Und Schammi wollte ohnehin schon lange in der Missionsschule lesen und schreiben lernen …«
Charlotte setzte sich auf einen Schemel, den die Einbrecher verschmäht hatten; der schöne Sessel, in dem Christian stets gesessen hatte, war ihnen lieber gewesen. Sie war mit ihren Kräften am Ende und fragte sich verbittert, wie das Schicksal so boshaft sein konnte. Es hatte ihr ihren Mann genommen, wollte auch Klara von ihr trennen, und nun brachte es sie um das Einzige, das ihr noch geblieben war: ihren Laden, ihre kleine Wohnung, das kleine Refugium, das sie sich geschaffen hatte. »Danke für das Angebot«, sagte sie ablehnend. »Wenn Klara in die Mission ziehen möchte, kann ich das gut verstehen, und ich werde auch Schammi nicht zurückhalten. Ich aber weiche nicht von der Stelle.«
Resigniert ließ der Missionar die Arme sinken und drang nicht weiter auf sie ein, da er einen Streit vermeiden wollte. »Wenn Charlotte hierbleiben will, dann werde ich sie nicht allein lassen«, sagte Klara leise. »Es tut mir leid, Peter.«
»Ich will, dass du gehst, Klara!«, rief Charlotte aufgebracht, doch ihre Cousine blieb standhaft
»Nein!«
Klara, die allzeit Fügsame, konnte in seltenen Momenten unfassbar hartnäckig sein. Sie habe diesen Entschluss im Gebet getroffen, er sei unumstößlich, niemand könne sie davon abbringen. Auch Schammi wollte sich auf keinen Fall von bibi Charlotte trennen. Der Missionar seufzte tief, und der Blick, mit dem er Charlotte bedachte, war voller unausgesprochener Vorwürfe.
»Ich werde auf dich warten, Klara«, sagte er leise, als er sich verabschiedete. »Ich habe tiefstes Verständnis für deine Treue zu Charlotte – aber bitte vergiss nicht, dass du auch mir ein Versprechen gegeben hast.«
Charlotte hatte das niederschmetternde Gefühl, allen Menschen, die sie liebte, unrecht zu tun. Und doch wusste sie sich keinen anderen Rat, als um ihre Existenz zu kämpfen. Im Laden eines Arabers kaufte sie ein Gewehr und dazu Munition, sie lief an den Strand, um Schießübungen mit der alten Büchse abzuhalten, und kehrte mit schmerzender Schulter, aber guten Mutes zurück. Sie beauftragte einen indischen Handwerker, die zerschlagenen Klapptüren ihres Ladens zu ersetzen, was sie viel Geld kostete, aber die Arbeit, die er leistete, war die Sache wert. Für den Rest ihrer Ersparnisse kaufte sie neue Waren ein, feilschte lange um die Preise und stellte fest, dass Kamal Singh ihr die Sachen zu weitaus besseren Bedingungen geliefert hatte. Einige Wochen lang überlebten sie nur, weil Klara mit ihrer Näherei Geld dazuverdiente. Die Kunden kehrten zögernd in den Laden zurück, sie waren wählerisch und behaupteten, in den anderen Läden für Streichhölzer, Petroleum und Reis weniger bezahlen zu müssen.
Kondolenzbriefe aus Deutschland und England trafen ein. Ettje berichtete von der schweren Lungenentzündung ihres Mannes, die gottlob vorübergegangen sei; die Großmutter sei wohlauf und habe sich der Enkel angenommen, während sie selbst ihren Mann pflegen musste. Paul sei im Amt aufgestiegen und inzwischen verlobt, er wolle bald heiraten und mit seiner Frau ins Haus der Großmutter einziehen. Pastor Harm Kramer und Tante Edine sprachen ihr tiefstes Mitgefühl aus, wünschten Kraft und Gottes Segen, Menna schloss sich mit kurzen Worten an. Auch Marie schickte einen langen Brief, erzählte vom Gedeihen ihrer Kinder, von den wunderbaren Schwiegereltern, von befreundeten adeligen Familien, die Charlotte gänzlich unbekannt waren, und schloss mit der Bemerkung, dass eine junge Frau nicht für den Rest ihres Lebens eine trauernde Witwe bleiben müsse. Einige Wochen später brachte der Briefträger ein flaches Paket, das in Kairo aufgegeben worden war. Es enthielt ein Buch, dazu einen Brief von George. Er schien von Christians Tod nichts erfahren zu haben, denn er ließ ihn unerwähnt. Stattdessen schickte er neue Manuskripte mit der Bitte um Durchsicht, dazu sein gerade erschienenes Buch Ein britischer Arzt im Land der Pharaonen, das er vor allem ihr gewidmet habe. Tatsächlich fand sich eine Vorbemerkung in kursiver Schrift, der Autor bedanke sich bei Charlotte O. für die fleißigen Korrekturen, vor allem aber für die Anteilnahme und Ermutigung, ohne die dieses Buch niemals entstanden sei.
Er war also wieder in Kairo – wie seltsam, dass Marie nichts davon geschrieben hatte. Charlotte legte das Buch ungelesen zur Seite; sie hatte Scheu davor, sich auf Georges Schriften einzulassen, auch die Manuskripte blieben unkorrigiert. Sie hatte andere Sorgen.
Mitte Oktober stiegen die ersten, regenschweren Wolken am Horizont auf, ein graues Gebirge, das sich aus dem Meer erhob und die Sonne verdüsterte, dunkel und bedrohlich und doch sehnlichst erwartet. Das Land war ausgetrocknet, der rötliche Erdboden in Spalten gerissen. Am frühen Morgen entluden sich die Spannungen über der Bucht in krachenden Donnerschlägen, Blitze zuckten wie gleißende Pfeile über den Himmel, zerschlugen Strommasten und fällten uralte Palmen. Dann endlich strömte der Regen zur Erde.
Charlotte hatte den Laden trotz der Wasserfluten geöffnet. Sie hoffte, dass vielleicht doch ein paar Kunden vorbeikämen, die sich in ihrer Freude über den Beginn der Regenzeit nicht scheuten, klatschnass zu werden. Es liefen jedoch nur einige schwarze Kinder auf der Straße herum, führten jubelnde Regentänze auf, und wenn tatsächlich einmal eine weibliche Gestalt zu sehen war, dann eilte sie geduckt an Charlottes Laden vorüber, um anderswo ihre Einkäufe zu tätigen. Gierig atmete Charlotte den Geruch des Regens ein, diesen seltsam schweren Duft, in dem sich Erde und Wasser miteinander verbanden, diese erregende Verheißung auf Blüten und Früchte, auf neues Leben, vielleicht auf Glück. Es war ein Jahr her, dass sie hier gestanden und sich an diesem feuchten Duft berauscht hatte. Damals hatte sich eine Gestalt aus dem Regen gelöst, ein Mann war zu ihr in den Laden getreten, und sie hatte für eine kurze Zeit geglaubt, dass Gott ein Wunder geschehen ließe. Dass die Vergangenheit umkehrbar war, dass Sehnsüchte erfüllt werden könnten …
»Frau Ohlsen?«
Sie erschrak, denn sie hatte die beiden Männer wegen des prasselnden Regens nicht kommen hören. Es waren zwei junge Inder, die sich mit Schirmen vor den herabstürzenden Fluten schützten, damit ihre Jacken aus schönem, safrangelbem Tuch nicht vom Wasser verdorben wurden.
»Was kann ich für Sie tun?«
Sie traten lächelnd in den Laden, klappten die Schirme zu und sahen sich um. Nicht mit den Augen von Käufern, die sich für bestimmte Waren interessierten, sondern mit prüfenden, neugierigen Blicken, die Charlotte verdächtig vorkamen.
»Wir haben Ihnen einen Vorschlag zu machen.«
Der Sprecher war ein gut aussehender Mensch mit glattem, zimtfarbigem Teint und hellbraunen Augen, auf seiner Oberlippe stand ein kleines, schwarzes Bärtchen.
»Was für einen Vorschlag?«
Vermutlich hatten sie erwartet, zum Niedersetzen eingeladen, vielleicht sogar mit Tee und Gebäck bewirtet zu werden, doch Charlotte hatte keine Lust dazu. Ihre deutlich ablehnende Haltung quittierten die beiden mit undurchsichtigem Lächeln. Das gleiche Lächeln, das sie so oft bei Kamal Singh gesehen hatte.
»Es wäre doch schade, wenn die Kolonialregierung dieses Haus abreißen würde. Das würde uns nicht gefallen und Ihnen gewiss auch nicht. Es gäbe eine Möglichkeit, dieses Unglück zu verhindern …«
Man wollte sie dazu bringen, das Haus zu kaufen. Sie sei eine Deutsche – weshalb sollten sich die Behörden nicht überreden lassen, einer Landsmännin diesen Gefallen zu erweisen?
»Wie soll ich das bewerkstelligen? Ich habe doch gar nicht genug Geld!«
»Das ist kein Problem, Frau Ohlsen. Wir leihen es Ihnen.«
Sie sprachen von einem sehr günstigen Zins, da auch ihnen daran gelegen sei, dass dieses Haus nicht abgerissen werde, man arbeite sozusagen Hand in Hand.
»Ihr Geschäft wird gut laufen; es wird unter unserem Schutz stehen, das sollten sie dabei nicht außer Acht lassen.«
Charlotte durchschaute das Spiel. Man würde ihr das Geld leihen und anschließend ihren Laden ruinieren, damit das Haus rasch wieder in indischen Besitz überging, doch was blieb ihr für eine Wahl?
»Ich werde es mir überlegen.«
Die beiden jungen Männer verbeugten sich leicht, spannten ihre Schirme wieder auf und stiegen vorsichtig über die brodelnden Rinnsale, die sich inzwischen auf der Straße gebildet hatten.
»Denken Sie bitte auch daran, dass unser Schutz nicht umsonst ist, Frau Ohlsen. Wenn Sie uns enttäuschen, könnte der Preis dafür sehr hoch werden …«