Charlotte konnte vom Fenster des Arbeitszimmers sehen, wie George zwischen den Häusern verschwand, und sie wunderte sich, wie vertraut ihr seine hohe, überschlanke Gestalt war. Wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte sie zwischen zwei Häusern hindurch ein kleines Stück Meer erkennen. Es war tiefblau, die Mittagssonne spiegelte sich gleißend auf dem Wasser, als habe jemand flüssiges Silber darauf gegossen. In der Ferne lag matter, nebeliger Dunst.

Hinter ihr war der boy ins Arbeitszimmer getreten und brachte Tee, eine Schale mit Früchten und etwas Gebäck. George hatte ihn »Jim« genannt, doch das war ganz sicher nicht sein wirklicher Name.

»M’se wünschen Milch zum Tee? Oder Limonensaft?«

»Milch ist gut. Danke, Jim. Wie heißt du auf Afrikanisch?«

»Mtitima«, gab er mit leichter Verwunderung zurück. »Aber hier auf Sansibar ich bin Jim.«

Sie erfuhr, dass seine Eltern als Sklaven nach Sansibar gebracht worden waren, jetzt waren sie frei und wollten auf keinen Fall zurück an die Küste. Das Leben war schön auf Sansibar, viel besser als drüben auf dem Festland. Dort hatten sie hungern müssen, bekamen das Fieber, in den Trockenjahren starb das Vieh. Sansibar war anders, hier war es immer warm, hier waren die Menschen fröhlich, es gab pombe und Reiswein und viele schöne Frauen …

Er hatte ihr eine Tasse Tee eingegossen und sich dann wieder zurückgezogen. Sie setzte sich damit auf einen der Stühle, um das heiße, aromatische Getränk langsam zu schlürfen. Es würde ihr helfen, zur Ruhe zu kommen und ihre durcheinanderwirbelnden Gedanken zu ordnen. Wie leichtfertig sie doch gewesen war, als sie beschlossen hatte, Georges Einladung zu folgen. Ach du lieber Himmel, was würde Klara von ihr denken, wenn sie erfuhr, dass Marie und die Kinder gar nicht auf Sansibar, sondern in England waren? Aber was hätte sie tun sollen? Ein Hotel konnte sie nicht bezahlen, und auch die Unterbringung bei Freunden wäre ihr peinlich gewesen.

Sie stellte die leere Tasse ab und lehnte sich zurück. George hatte eine beneidenswert schöne Wohnung, weitläufig und hell. Außer den Wirtschaftsräumen gab es im Erdgeschoss zwei Gästezimmer, im Obergeschoss verfügte er über Arbeitszimmer, Schlafraum und ein hübsch eingerichtetes Wohnzimmer. Das Mobiliar und die üppig wallenden Vorhänge – eine Mischung aus England, Indien und Afrika – gehörten nicht ihm, sondern waren Hinterlassenschaften seiner Vorgänger. Dennoch atmeten die Räume Georges Gegenwart. Bücherstapel, aus denen Lesezeichen herausragten, lagen auf Schreibtisch und Fensterbrett, auf einem Tischchen neben dem Sessel stand ein vergessenes Glas, in dem noch ein Rest des Getränks verblieben war. An den Wänden sah man kolorierte Zeichnungen, die ganz sicher von seiner Hand stammten, denn sie ähnelten den Zeichnungen in seinen Briefen …

Ihre Gedanken schweiften in eine andere Richtung. Nein, sie wollte jetzt nicht über George nachdenken, viel eher über die unfassbar vielen, aufregenden Eindrücke, die an diesem Tag über sie hereingebrochen waren, über den Zauber dieser Insel, die ihr beim ersten Anblick wie ein schöner Traum erschienen war. Die Basare mit ihrer unendlichen Vielfalt an Waren, wo man den Duft der Orangen und reifen Mangos einatmete, das Aroma der exotischen Gewürze, aber auch den Gestank von Öl, Unrat und verfaulender Fische. Was für ein Gewimmel von Menschen jeglicher Nationalität – Inder, Somali, Araber, Abessinier, Europäer, Asiaten –, da konnte Daressalam nicht mithalten. Vor allem die Frauen waren anders, man sah sie in schreiend bunten Gewändern und abenteuerlich gestalteter Haartracht, sie wiegten beim Gehen die Hüften und sahen den Männern offen in die Augen. Wasserverkäufer und schwarze Lastenträger quetschten sich durch die Menge, Araber trieben ihre rot gefärbten, sehnigen Reitesel rücksichtslos durch die engen Gassen, Kühe standen gleichgültig kauend im Weg herum. Einmal waren sie einem Zug aneinandergeketteter schwarzer Gefangener begegnet, die armen Kerle waren mit nichts als einem zerrissenen Hüfttuch bekleidet, und der Aufseher trieb sie mit der kiboko, wie man die Nilpferdpeitschen auf Suaheli nannte, gnadenlos voran. Man hatte sie wegen irgendwelcher Vergehen verurteilt, nun mussten sie die Trümmer um den zerstörten Palast aufräumen.

Sie beugte sich vor, um sich eine zweite Tasse Tee einzuschenken, trank einige Schlucke und stellte fest, dass sie leichte Kopfschmerzen hatte. War es gut, sich in dieser Verfassung Georges Manuskripten zu widmen, die drüben auf dem Schreibtisch auf sie warteten? Mit einer entschlossenen Bewegung stellte sie die Tasse auf die Untertasse, der heiße Tee schwappte über und verbrannte ihr die Finger. Ärgerlich wischte sie die Hand an ihrem Rock ab und stand auf, froh, dass nichts auf die hübsche, bunte Tischdecke gelaufen war. Sie fand mehrere Bleistifte und ein Radiermesser neben den Papieren, einen Rotstift allerdings nicht, obgleich George beide Schubladen danach durchsucht hatte, bevor er zur Klinik aufgebrochen war.

Zuvor hatten sie Scherze über seine überschwänglichen Briefe gemacht, seine romantische Vorstellung, sie, Charlotte, könne als seine Muse neben ihm sitzen, seine Gedanken und Phantasien beflügeln. Nein, sie war keine Muse, vielmehr eine gründliche und eifrige Leserin, die mit vorsichtigem Stift Ausdrücke korrigierte, eine Anmerkung oder eine Frage einfügte. Er hatte widersprochen und behauptet, ohne ihre ermutigenden Briefe hätte er diese vielen Seiten niemals geschrieben.

»Du ahnst nicht, wie unsicher ich im Grunde bin und wie sehr ich deine Hilfe brauche.«

Sie hatte nicht antworten können, denn sie musste ein seltsam warmes, zitterndes Glücksgefühl niederkämpfen, das gleiche, das sie während der vergangenen Woche immer wieder überkommen hatte. Es war eine ungeheuer süße Empfindung, die ihr gerade darum verdächtig erschien und die sie auf keinen Fall zulassen wollte. Ja, sie würde tun, was sie ihm versprochen hatte, sie würde sein Manuskript überarbeiten, gründlich und genau, mit klarem Kopf, aber ohne sich allzu sehr auf seine Texte einzulassen.

Kaum hatte sie mit ihrer Arbeit begonnen, wurde ihr klar, dass sie sich etwas vorgemacht hatte. Schon nach den ersten Zeilen spürte sie den Sog seiner Worte und versank darin. Da war er wieder, dieser rätselhafte Mensch, der sich so harmlos und liebenswert geben konnte und gleichzeitig solche Abgründe in sich trug. Der Grenzgänger, der Mann, der sich immer neue Herausforderungen suchte, der den Tod nicht scheute und doch mit allen Fasern seines Seins am Leben hing. Sie glaubte, neben ihm in einem der schwankenden Dhaus zu sitzen, die sich langsam nilaufwärts bewegten, an braunen Krokodilen und grauen Flusspferden vorbei. Sie kletterte an seiner Seite zum Felsentempel des Pharaos empor, sie lag bei ihm auf den nassen Bootsplanken, fiebernd, wirre, phantastische Bilder vor Augen, den Schädel fast berstend vor Schmerz. Noch mehr aber schlugen sie die folgenden Seiten in Bann. George schrieb über seine Arbeit an der englischen Klinik in Kairo, schilderte die Schicksale seiner Patienten und ihrer Familien; Menschen, die so arm waren, dass sie kaum die nötige Nahrung kaufen konnten, um zu überleben, geschweige denn Medikamente für den Kranken. Es war eine beklemmende Lektüre, die zwischen bitterer Resignation und zornigem Aufbegehren schwankte. George hatte sich dagegen gewehrt, dass man Unterschiede zwischen den Patienten machte, dass Mittel wie Chinin, das entzündungshemmende Antipyrin oder auch Äthernarkosen bei Operationen nur für europäische Patienten verfügbar waren. Auch wies man Tuberkulosefälle oder Lepra in der Klinik ab, um sich keiner Ansteckungsgefahr auszusetzen. Die Malaria – dort als »Fluch des Nils« bekannt –, wurde bei Europäern versuchsweise mit Methylenblau behandelt, wobei es Erfolge gegeben hatte – für die ägyptische Bevölkerung war eine solche Therapie undenkbar. Jeder Europäer, auch wenn er arm war, genoss eine bessere medizinische Behandlung als ein einfacher Fellache. Freilich, die Missionare waren hingebungsvoll bemüht, die Krankheiten der Eingeborenen zu heilen, doch auch hier wurden Unterschiede gemacht. Auf Sansibar war es mit den Bekehrungen zum christlichen Glauben nicht so recht vorangegangen, viele Missionen waren zum afrikanischen Festland hinübergewandert und hatten ihre Krankenstationen auf Sansibar geschlossen.

Wer sich nicht bekehren lassen wollte, durfte auch nicht an den Segnungen der europäischen Medizin teilhaben.

Charlotte musste sich die Blätter ein zweites Mal vornehmen, um ihre Anmerkungen zu setzen; beim ersten Durchlesen war sie zu aufgewühlt gewesen. Wie hatte sie vergessen können, dass er schon damals in Leer mit der üblichen Haltung der Europäer nicht konform gegangen war? Damals hatte er mit ihrem Großvater über die Sprachen der afrikanischen Eingeborenen gestritten und – wenn sie sich recht entsann – auch über Sinn und Zweck einer Kolonie. Ein »Weltverbesserer« sei dieser junge Mann, hatte Henrich Dirksen damals kopfschüttelnd gemeint. Was für Kleingeister sie doch alle gewesen waren! Charlotte war voller Bewunderung für George; seine Empörung war gerecht, und sie wäre ohne Zögern bereit gewesen, sich an seine Seite zu stellen.

Sie schob die Blätter wieder zusammen, achtete darauf, dass die Seitennummerierung nicht durcheinandergeriet, und legte die Bleistifte daneben. Sie würde nachher mit ihm darüber sprechen, ihn herausfordern, fragen, sich von seinen Gedanken führen lassen, ihm folgen und zugleich dagegenhalten. Er war doch nicht allein mit seinen Überzeugungen. Wenn es ihm gelang, dieses Buch zu Ende zu schreiben und zu veröffentlichen, würde er Gleichgesinnte finden und womöglich viel bewegen können. Ja, er musste schreiben, und sie würde ihn dabei nach Kräften unterstützen.

Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war; sicher war nur, dass sie es im Haus nicht mehr lange aushielt. Sie würde zum Meer hinuntergehen, langsam auf die Klinik zuhalten und falls sie zu früh dran war, irgendwo am Strand auf ihn warten.

Als sie die Zimmertür öffnete, eilte ihr Jim entgegen, der offensichtlich den Auftrag hatte, sie zur Klinik zu begleiten.

»M’se auf keinen Fall zu weit laufen«, mahnte er besorgt, als sie erklärte, ohne ihn gehen zu wollen. »Nur hier, wo Europäer wohnen. Nicht an andere Orte. Besser ist, Jim geht mit, nicht gut, wenn weiße m’se allein ist …«

»Ich gehe nur bis zur Klinik, Jim. Dort werde ich daktari Johanssen treffen, dann bin ich nicht mehr allein!«

»Besser, Jim geht mit …«

Sie lächelte über sein betroffenes Gesicht und wollte schon an ihm vorüber zur Treppe laufen, als er einen Vorhang beiseiteschob und sie einen kurzen Blick in Georges Wohnzimmer werfen konnte. Vorhin, als er ihr den Raum gezeigt hatte, war niemand dort gewesen; jetzt aber erblickte sie eine junge Frau. Sie hatte in einem der geflochtenen Sessel gesessen und stand auf, um mit Jim einige Worte in einer fremden Sprache zu wechseln. Charlotte blieb stehen, weniger aus Überraschung, sondern eher deshalb, weil der Anblick sie faszinierte. Die Frau musste abessinische Wurzeln haben, doch war ihre Haut heller als die der Abessinierinnen, ihr Gesicht ebenmäßig und auch nach europäischen Vorstellungen schön. Sie war groß gewachsen, und der weite, rot gemusterte Rock ließ ihre Taille ungemein schmal erscheinen. Das prächtige, schwarze Haar war nicht kraus, sondern gewellt und fiel ihr weit über die Schultern, ein paar schmale Zöpfchen, mit bunten Bändern und Perlen geschmückt, mischten sich unter die Locken.

Charlotte dachte daran, dass George ihr von mehreren Bediensteten erzählt hatte, und nickte der Frau freundlich zu, bevor sie die Treppe hinabging.

Unten empfing sie die Hitze des Spätnachmittags, so dass sie rasch ihren Strohhut aufsetzte und die Bänder fest unter dem Kinn verknotete. Sie hatte es eilig, zum Meer zu gelangen, wo hoffentlich eine kühlere Brise wehte, während sich hier zwischen den Häusern die Sonne fing und kaum ein Lüftchen zu spüren war. Auf Straßen und Wegen sah sie vor allem schwarze Bedienstete, aber auch einige Europäer, vermutlich Beamte oder Händler, die sie höflich grüßten und ihr neugierige Blicke nachschickten.

Das Meer war sanft und klar, kleine Dhaus waren darauf verstreut wie weiße Schmetterlinge, die sich mit gefalteten Flügeln auf der saphirblauen Oberfläche niedergelassen hatten. Mit leisem Plätschern schoben sich die Wellen auf den Strand und glitten sacht wieder zurück. An manchen Stellen lagen braune, mit Muscheln besetzte Algen, die bewiesen, dass der Ozean auch weniger friedlich gestimmt sein konnte. Charlotte ging dicht am Rand der Wellen entlang, und schließlich konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, wenigstens die Schuhe abzustreifen, um mit den Füßen den feuchten Sand und das kühle Wasser zu spüren. Es war ein wundervolles Gefühl, das sie an Kindheitstage erinnerte, die sie längst vergessen geglaubt hatte. Die Zeit, als ihre Eltern und der kleine Jonny noch lebten und man irgendwo – wo war das nur gewesen? – an einem Strand herumtollte, sich mit Wasser bespritzte und mit den Füßen im weichen, matschigen Schlick versank. Nach einer Weile erblickte sie das weiße Gebäude der Klinik mit den beiden Treppentürmen, das tatsächlich dicht am Meeresufer gebaut war, nur von einer niedrigen Mauer vor den Wellen geschützt. Charlotte beschloss, sich zwischen einigen jungen Kokospalmen niederzulassen, um auf George zu warten.

Sie stellte die Schuhe neben sich in den Sand, da sie zu träge war, sie wieder anzuziehen, lehnte den Rücken gegen einen der schlanken Stämme und schloss die Augen. Kaum vernehmbar knisterten die Palmzweige über ihr in der Brise, sacht rauschte und gluckste das Meer in immer wiederkehrendem Rhythmus, irgendwo in weiter Ferne, mehr spürbar als hörbar, brodelte dumpf das Leben der Stadt. Sie atmete tief ein, wollte den salzigen Geruch des Ozeans in sich einsaugen, doch es war ein anderer Duft, der vom Land zu ihr herübergetragen wurde. Der scharfe und zugleich süßliche Geruch der blühenden Nelkenbäume, das weiche Aroma von Zimt, der herbe Duft der Muskatblüte …

Sie blinzelte zur Klinik hinüber, doch dort waren nur ein paar dunkelhäutige Kinder zu sehen, die am Strand irgendetwas in Körbe sammelten, das sie nicht erkennen konnte. Draußen auf dem Meer zog jetzt der Küstendampfer vorbei, der am Abend kurz vor Einbruch der Nacht in Daressalam anlegen würde. Für einen Augenblick überließ sie sich einem kleinen Schatten, der auf ihre glückliche Stimmung gefallen war und der mit der schönen Abessinierin in Georges Haus zu tun hatte. Sie war seine Bedienstete, vermutlich hielt sie die Räume sauber, vielleicht kochte sie auch für ihn. Es waren wohl der stolze Blick und die aufreizende Körperhaltung dieser Frau, die sie andere, nahezu unvorstellbare Gedanken hegen ließen. Beschämt über sich selbst, blickte sie wieder zu dem weißen, leuchtenden Bau der Klinik hin – und tatsächlich erkannte sie jetzt einen hochgewachsenen, sehr schlanken Mann, der eben zum Strand hinabging.

Als er sie sah, winkte er und setzte sich in Trab, lief auf sie zu wie ein unbeschwerter Knabe. War das wirklich der Mann, dessen widersprüchliche Schriften sie vorhin so aufgewühlt hatten? Er bewegte sich in weiten, mühelosen Sprüngen über den Sand, erwischte den hellen Strohhut gerade noch, bevor er ihm vom Kopf geweht wurde, und lachte herzhaft über sich selbst. Charlotte fiel ein, dass sie barfuß war, und sie beeilte sich, ihre Schuhe wieder überzustreifen.

»Komm!«, sagte er und streckte ihr den Arm entgegen. »Lass uns ein wenig am Meer entlanggehen.«

Die Aufforderung hatte etwas Unwiderstehliches, und so zögerte sie nicht, ihm die Hand zu reichen und sich von ihm auf die Füße ziehen zu lassen. Sein Griff war fest, und er hielt ihre Hand noch eine kleine Weile umschlossen, als sie schon vor ihm stand.

»Ich könnte mir morgen Vormittag freinehmen, und wir reiten ins Inselinnere«, schlug er vor. »Ich zeige dir die Gewürzpflanzungen und den Urwald. An manchen Orten befinden sich verfallene Paläste, von Pflanzen halb überwuchert; dort lebt die Erinnerung an die Zeiten, als die Inseln noch den Omanis allein gehörten und der Handel mit afrikanischen Sklaven den Sultan noch reicher machte als der Gewürzhandel.«

»Das wenigstens war eine gute Entscheidung der Engländer«, meinte sie. »Auch die Deutschen haben den Sklavenhandel verboten und Buschuris Aufstand vor einigen Jahren niedergeschlagen.«

Er war ihr voraus zum Meer gegangen, das sich jetzt merklich zurückzog, es war Ebbe. Der Sand war feucht, so dass man nicht allzu tief einsank, hin und wieder schwappte eine vorwitzige Welle über Georges helle Stoffschuhe, was ihn jedoch nicht im Mindesten störte.

»Du hast recht«, erwiderte er nach einigem Zögern. »Und doch schaffen es die Sansibarer, die Verbote zu unterlaufen. Das Geschäft ist allzu einträglich – täglich und überwiegend nachts werden schwarze Afrikaner vom Festland nach Sansibar und von dort aus weiter in die Sklaverei verschleppt.«

Sie hatte davon gehört, es aber nicht glauben wollen. Der Wind trug den Duft der Nelkenblüten heran, reife Süße und herbe Bitternis, ein Aroma, das die Sinne gefangen nahm, genau wie diese Insel in ihrer unschuldigen Schönheit, die doch von Gewalt und Elend unterwandert war.

»Das Paradies ist zugleich auch der Ort, an dem die Sünde ihren Anfang nahm«, sagte George leichthin. »Es gibt auf Erden niemals das eine ohne das andere. Vielleicht ist es gut so – wer weiß?«

Er sah sie blinzelnd von der Seite an, als wolle er herausfinden, wie sie diese Worte aufnahm.

»Was sollte daran gut sein?«, fragte sie kopfschüttelnd.

»Nun – das Leben ist nun einmal so eingerichtet, Charlotte. Wir alle sind wie diese Insel. Unschuldig und zu edlen Taten fähig und zugleich auch sündig, kleinmütig, eigensüchtig. Wir sollten weder uns selbst noch diese Insel hassen, sondern sie trotz ihrer Unvollkommenheit lieben.«

Das klang vernünftig, obgleich der Großvater sicher anderer Meinung gewesen wäre, denn für ihn war der Mensch von Geburt an durch und durch sündig und daher auch nicht liebenswert, er konnte aber mit Christi Hilfe von seiner Sünde erlöst werden.

Noch während sie überlegte, was sie auf seine Worte erwidern sollte, war sein Ernst unvermittelt in Übermut umgeschlagen. Wie ein kleiner Junge fasste er ihre Hand und begann zu rennen, zog sie hinter sich her, bis sie sich losriss, dann wandte er sich lachend zu ihr um.

»Nun komm schon, Charlotte!«, rief er ihr zu. »Zieh die Schuhe wieder aus. Ich tue es auch.«

»Die … die Schuhe?«

Noch ganz außer Atem von dem unvermittelt raschen Lauf, versuchte sie, den verrutschten Strohhut wieder zurechtzuschieben.

»Die Schuhe!«, beharrte er grinsend. »Du hattest sie vorhin schon ausgezogen, ich habe es genau gesehen.«

Mit ungeduldigen Bewegungen streifte er seine eigenen Schuhe von den Füßen, klemmte sie unter den Arm und nickte ihr auffordernd zu.

»Aber ich …«, stammelte sie ratlos.

»Nur Mut. Es wird dich niemand deshalb steinigen!«

Es war etwas Verschmitztes in dem Blick, mit dem er sie von oben bis unten maß, eine Herausforderung, bei der ihr unbehaglich wurde. Das war nicht der George, der sie mit seinen Schriften so fasziniert hatte, und doch war er es. Aber hier war er körperlich präsent, sie fühlte seine Anziehung, hörte sein Lachen, hatte den festen Griff seiner Hand zu spüren bekommen.

Er hatte nicht viel Geduld, sondern hockte sich vor sie in den Sand und machte sich an ihren Füßen zu schaffen. Mit geschickten Händen befreite er sie von dem schützenden Leder, erhob sich mit triumphierendem Grinsen und reichte ihr die braunen Halbschuhe.

»Halte sie gut fest, wenn du sie verlierst, siehst du sie nie wieder!«

»Was … was soll das werden?«

Er gab ihr keine Antwort, packte sie nur erneut bei der Hand und riss sie mit sich fort. Die flachen Wellen spritzten auf, durchnässten den Saum ihres Kleides. »George!«, rief sie verzweifelt. »Lass mich … mein Kleid …«

Er kümmerte sich nicht um ihren Protest. Mit weiten Sprüngen lief sie mit ihm durch die kühle, schaumige Brandung, spürte, wie der Sand unter ihren Füßen wich, das salzige Wasser um sie herum aufwirbelte, und plötzlich empfand sie Vergnügen dabei. Der nasse Kleidersaum wickelte sich um ihre Beine, der Hut glitt ihr vom Kopf, der aufgesteckte Zopf löste sich, doch das alles war ihr gleich. Sie war frei wie ein Vogel, so frei, wie sie als Kind gewesen war; sie spürte ihren Körper, das kühle Nass der Wellen, die kleinen Steinchen und Muscheln im Sand, die warme Meeresbrise, die ihre heißen Wangen umstrich. Als er endlich innehielt und sich zu ihr umwandte, keuchte sie vor Anstrengung.

»So gefällst du mir viel besser, Charlotte Dirksen!«, sagte er und betrachtete sie mit leuchtenden, grauen Augen.

»Mein Kleid ist nass!«, beschwerte sie sich.

»Das trocknet wieder!«

Sie bückte sich blitzschnell und spritzte einen Schwall Wasser über ihn. Überrascht sprang er zurück, sah dann scheinbar empört an sich herunter und drohte, es ihr gleichzutun. Wo waren die Jahre geblieben? Sie war wieder ein Kind, lief jauchzend und kichernd vor ihm davon, raffte mit einer Hand den nassen Rock, um schneller voranzukommen, und wusste doch, dass er sie mit Leichtigkeit einholen würde. Ihr langer Zopf wehte hinter ihr her, die Flechten lösten sich.

»Warte nur, ich erwische dich schon!«, hörte sie ihn rufen, und in diesem Augenblick wünschte sie sich nichts mehr, als von ihm gefasst zu werden, seine Arme zu spüren, seinen heftigen Atem an ihrer Schulter zu hören.

Doch das geschah nicht. Er lief nur eine Weile hinter ihr her, jagte sie durch die seichte Brandung, dann blieb er zurück, beobachtete sie und wartete, bis auch sie stehen blieb. Erst dann setzte er sich wieder in Bewegung und ging langsam auf sie zu.

Das Blut rauschte noch in ihren Ohren, kleine Wellen umspielten ihre Waden. Jetzt, da die kindliche Begeisterung sich legte, kam sie sich lächerlich vor mit den großen Wasserflecken im Kleid und dem aufgelösten Haar, die Schuhe in der Hand

Auch er war nicht ohne Spuren davongekommen, die Hose klebte an seinen Beinen, die Jacke trug blassgraue Flecken, und sogar an seinen Augenbrauen hingen ein paar Tröpfchen. Beklommen sah sie, dass der Übermut aus seinem Gesicht gewichen war. Er hatte die Stirn gefurcht, und seine Augen waren schmal, die Iris von den hellen Wimpern fast verborgen.

Als er vor ihr stand, schwieg er eine kleine Weile und starrte sie an, dann sagte er etwas vollkommen Verrücktes.

»Bist du glücklich?«

Er hatte mit leiser Stimme gesprochen, und sie begriff, dass etwas hinter dieser Frage stand, auf das sie sich nicht einlassen durfte.

»Eben gerade war ich glücklich wie ein Kind. Und schrecklich albern.«

»Das waren wir beide, Charlotte. Es ist eine seltsame Sache mit dem Glück. Glück ist etwas Flüchtiges. Man muss es greifen, wenn es sich einem bietet, sonst eilt es vorüber.«

Der Wind spielte in ihrem offenen Haar. Sacht strich er ihr eine Strähne aus dem Gesicht, und seine Hand verweilte dabei für einen winzigen Augenblick auf ihrer Wange.

»Das Glück«, murmelte sie. »Kommt es im Leben darauf an? Es ist viel wichtiger, an dem Platz, an den man gestellt wurde, seine Pflicht zu erfüllen.«

Wo hatte sie das nur gehört? Wieso redete sie jetzt solches Zeug?

»Und was ist, wenn man dich an den falschen Platz gestellt hätte? Wenn es einen anderen Ort gäbe, an dem du deine Pflicht erfüllen und zugleich glücklich sein könntest?«

Der Großvater hätte jetzt gesagt, dass es Gott war, der den Platz des Menschen bestimmte, doch im Grunde hatte sie niemals wirklich daran geglaubt …

George legte nun seine Hand auf ihre Schulter, und sie spürte seine Finger, unruhig, nervös, zittrig, als stünde er unter großer Anspannung.

»Wie meinst du das?«, fragte sie bang.

Er drehte den Kopf zur Seite und sah aufs Meer. Sie hörte seinen gepressten, hastigen Atem.

»Du bist nicht glücklich mit diesem Mann, Charlotte«, stieß er endlich hervor. »Dein Platz ist nicht an seiner Seite. Wenn du Mut hättest …«

Entsetzt fuhr sie zurück, seine Hand glitt von ihrer Schulter, sein Arm sank herab.

»Wie kannst du so etwas sagen?«, rief sie zornig. »Was geht dich das an, George Johanssen? Ich liebe Christian, und mein Platz ist an seiner Seite!«

»Du liebst ihn nicht«, beharrte er hartnäckig. »Du kannst ihn gar nicht lieben, sonst wärst du nicht mit mir hierhergefahren!«

Scham und Wut durchfluteten sie. O wie boshaft, ihr derartige Absichten zu unterstellen! Wie abgrundtief musste er sie verachten, wenn er so von ihr dachte! Sie war hierhergefahren, um die Gelegenheit beim Schopfe zu packen, Sansibar kennenzulernen, zusammen mit ihm, seiner Ehefrau – ihrer Cousine Marie – und den Kindern. Er war derjenige gewesen, der sie getäuscht hatte!

»Wag es nicht, mich je wieder anzufassen!«, schrie sie. »Geh! Verschwinde! Ich will dich nie mehr wiedersehen!«

Sogar in ihrem Zorn begriff sie, dass sie ihm unsinnige Dinge entgegenschleuderte, doch es war ihr gleich. Sie hörte nicht einmal, was er erwiderte, und sie wollte es auch gar nicht wissen. In ihren Ohren klang noch der Satz »Du kannst ihn gar nicht lieben, sonst wärst du nicht mit mir hierhergefahren« – eine Beleidigung, die gerade darum so fürchterlich war, weil sie ein Körnchen Wahrheit enthielt.

»Charlotte!«

Sie raffte den Rock bis zu den Knien und rannte davon. Spürte den Sand unter den Füßen, stellte fest, dass sie die Schuhe hatte fallen lassen, und hielt doch nicht an, rannte weiter und weiter, fort vom Strand, über schmale Wege und durch enge Gassen. Wo war sie? Graue, halb verfallene Häuser waren plötzlich um sie herum, Gebüsch, der umgestürzte Stamm einer vertrockneten Palme. Sie schlüpfte zwischen den Gebäuden hindurch, spürte einen stechenden Schmerz im linken Fuß, doch sie blieb nicht stehen. Sprang über Scherben und Unrat, stieß sich an einem vorstehenden Brett, stolperte fast, weil ihr ein niedriger Karren im Weg stand. Hühner flatterten auf, ein kleiner Köter kläffte sie an.

»Charlotte! Verdammt noch mal!«, tönte es zornig hinter ihr her.

Was sie aufhalten sollte, trieb sie nur zu weiterer Flucht an. Nur fort, zum Hafen hinunter, irgendwie würde sie ein Boot finden, das sie zum Festland hinüberbrachte. Der Dampfer fuhr erst wieder morgen früh, aber es gab die kleinen Dhaus, die Handelsboote …

»Charlotte. Um Himmels willen! Charlotte!«

Wo war nur der Hafen? Sie musste sich links halten, doch da gab es kein Durchkommen. Die Gebäude waren jetzt dichter, die schmalen Gassen zahlreicher, sie trat auf etwas Weiches, das jammervoll aufkreischte, sah dunkle Gesichter, blitzende, große Ohrringe, hörte lautes Gelächter. Ihr Herz hämmerte. Weshalb musste sie auch dieses enge Korsett tragen, das ihr den Atem abschnürte und sie schwindeln ließ? Links tat sich eine Gasse auf, eng und wenig vertrauenerweckend, doch das war jetzt gleich, gewiss würde sie zum Hafen führen.

Es war dämmrig zwischen den gedrängt stehenden Baracken, der Geruch von Schnaps und Erbrochenem schlug ihr entgegen, und gleich darauf erkannte sie, dass es hier nicht weiterging. Ein halb nackter, braunhäutiger Mann torkelte auf sie zu, starrte sie mit weiten, hell glänzenden Augen an und murmelte etwas, das sie nicht verstand. Erschrocken wandte sie sich um, stolperte über die Beine eines Menschen, der dicht an einer Hauswand am Boden gesessen hatte, und wäre fast gestürzt. Ein Gesicht blickte sie an, das so grauenhaft war, wie sie es in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen hatte; Nase und Lippen des Unglücklichen waren von einer Krankheit zerfressen. Gelächter und laute Rufe erhoben sich in ihrer Nähe, die Gasse, die eben noch menschenleer gewesen war, belebte sich plötzlich, als lösten sich die Gestalten aus den dunklen Bretterwänden der armseligen Hütten.

Voller Panik wandte sie sich um, auf der Suche nach dem Weg, den sie gekommen war, und prallte gegen einen Körper.

»Ruhig«, hörte sie eine Stimme dicht an ihrem Ohr. »Hör auf zu schreien. So sei doch still!«

Sie wehrte sich verzweifelt, zappelte, wand sich, versuchte sogar, mit den nackten Füßen zu treten, doch George hielt sie unerbittlich fest.

»Bitte, Charlotte!«, flüsterte er. »Ich kann dich nicht schützen, wenn du ein solches Aufsehen machst.«

Er zog sie ein Stück mit sich fort, drängte sie sacht mit dem Rücken gegen eine Hauswand und lehnte sich gegen sie. Namenlose Erschöpfung überkam sie, es gab keine Möglichkeit, ihm zu entkommen, er war stärker als sie und fest entschlossen, sie nicht mehr davonlaufen zu lassen. Sie lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen, spürte seinen angespannten Körper, der sich dicht an sie presste und der so völlig anders war als Christians schwerer, weicher Leib.

»Ich wollte das nicht sagen, Charlotte«, flüsterte er. »Ich weiß selbst nicht, was mich überkommen hat …«

Sein heißer Atem berührte ihre Schläfe, und die Sehnsucht, die sie so lange verleugnet hatte, stieg mit ungeahnter Macht in ihr auf. Nie zuvor hatte sie einen Mann begehrt, nie hatte sie Leidenschaft erlebt, außer in ihrer Musik und in ihren Träumen. Sie wandte ihm ihr Gesicht zu und blickte in seine zusammengekniffenen, glänzenden Augen.

Er küsste sie. Zuerst verhalten, als könne er selbst nicht glauben, was er da tat, dann immer heftiger, berauschte sich an ihr, ließ sie seine Zunge spüren, grub die Finger in ihr Haar und flüsterte immer wieder ihren Namen. Ohne zu wissen, was sie da tat, erwiderte sie seine Liebkosungen mit verzweifelter Hast, und erst als sie langsam wieder zur Besinnung kam, begann sie, sich zu wehren.

»Das werden wir niemals wieder tun«, flüsterte sie.

Schweigend umfasste er sie mit beiden Armen, hielt sie an sich gepresst und ließ die Stirn auf ihre Schulter sinken.

»Niemals«, murmelte er. »Ich verspreche es dir.«

Himmel über dem Kilimandscharo
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