Max von Roden hatte sich zusammennehmen müssen, sonst hätte er wohl noch eine Weile dagestanden, um den drei Davonreitenden nachzustarren. Was war bloß los mit ihm? Es gab jede Menge Arbeit: Drüben bei den Angestellten wurde gebaut, da wollte er gleich mit dem Lot nachmessen, denn die Afrikaner mauerten gern einmal schiefe Wände. Dann musste er ein Auge darauf haben, dass die Löcher für die Setzlinge tief und breit genug gegraben und mit lockerer Erde angefüllt wurden. Im Stall sollte einer seiner Ochsen das Futter verweigert haben, hoffentlich hatte sich da keine Seuche eingeschlichen.
Während er zur Baustelle eilte, dachte er darüber nach, dass er unbedingt einen weißen Vorarbeiter brauchte, am besten sogar zwei, aber es war nicht leicht, gute Leute zu finden. Den Dänen hatte er wieder fortschicken müssen, weil er an der Flasche hing. Ein Deutscher aus Leipzig hatte sich nach ein paar Wochen einer Gruppe Goldsucher angeschlossen.
Er brauchte nicht einmal das Senkblei zu benutzen, schon mit bloßem Auge war zu erkennen, dass sich die frisch gesetzte Lehmziegelmauer ordentlich nach innen neigte. Da half nur abreißen und neu aufmauern. Es dauerte eine Weile, den schwarzen Arbeiter davon zu überzeugen; Makwetu fand alle möglichen Ausreden und versicherte ihm hoch und heilig, den Fehler noch ausgleichen zu können. Aber mit schiefen Wänden wollte Max von Roden gar nicht erst anfangen. Makwetu hatte sich bisher recht geschickt angestellt, da lernte er sicher auch noch, anständige Mauern hochzuziehen.
Nachdem sie gemeinsam das Werk zweier Stunden Arbeit umgestoßen hatten, ging er dem Schwarzen ein wenig zur Hand und schaute ihm dann noch eine Weile mit kritischen Augen zu. Dabei kam ihm unversehens wieder das Bild der drei Reiter in den Sinn, die hell gekleidete Frau in der Mitte, ein goldenes Tuch um das schwarze Haar geschlungen. Es stand ihr gut, es passte zu ihren dunklen Augen, die manchmal wie goldgelber Bernstein glänzten. Gestern Abend, als sie miteinander Klavier gespielt hatten, war er von diesen Augen voll und ganz in Bann geschlagen worden. Sie konnten unglaublich verträumt schauen, wenn sie sich in die Musik versenkte. Wenn er allerdings aus Versehen danebengegriffen oder einen Einsatz verpasst hatte, war der sanfte Ausdruck in ihrem Blick verschwunden, und sie hatte ihn energisch angeblitzt … Er fragte sich, ob sie mit ihrem Mann glücklich war. Auf Christian Ohlsen schien eine düstere Wolke zu lasten; schon auf dem Schiff war ihm das aufgefallen, und er hatte sie bewundert, mit welcher Sanftmut und Fürsorge sie ihm begegnete. Auch gestern Abend hatte sie …
»Bwana muss kommen! Wurzel ist in Erde, groß und dick wie Bauch von Elefant. Niemand kann herausziehen!«
»Sag Kapande, er soll mir ein Maultier satteln!«
Während er zu den Stallungen hinüberging, ärgerte er sich über die Arbeiter, die in solchen Fällen gern resignierten und behaupteten, es sei unmöglich, an dieser Stelle Pflanzlöcher zu graben. Trotzdem wurde er das Bild nicht los: Charlotte Ohlsen in Männerkleidung, auf dem Maulesel reitend. Er hatte sie um die Taille gefasst und gespürt, dass sie ein Mieder unter der Jacke trug, was nicht verwunderlich war. Es war geradezu aufregend gewesen, sie in die Höhe zu stemmen und ihren Körper zu spüren, warum auch immer. Vielleicht lag es daran, dass er so lange keine Frau mehr in den Armen gehalten hatte. Er machte sich nichts aus den schwarzen Frauen, auch nicht zum Zeitvertreib, wie es so viele Weiße hielten. Er wollte Johanna die Treue wahren, genau so, wie sie es sich gegenseitig vor über einem Jahr versprochen hatten. Sie kannten einander seit ewigen Zeiten, hatten schon als Kinder zusammen gespielt.
Im Hintergrund war jetzt der Kilimandscharo aus den Wolken getreten, ein großartiger Anblick, geradezu magisch und vielleicht auch der Grund, weshalb er sich ausgerechnet hier niedergelassen hatte. Man konnte die Konturen sehr klar erkennen, was nicht immer der Fall war und möglicherweise auf einen Wetterumschwung hindeutete. Raben schwirrten auf, ein ganzer Schwarm der schwarzen Räuber war unterwegs, wahrscheinlich hatten sie es auf den Mais abgesehen, den die Dschagga oben pflanzten.
»Bwana Roden! Bwana Roden!«
Er fuhr aus seinen Gedanken und erblickte einen Schwarzen auf einem Maultier, der ungeniert über die neu eingesäte Wiese ritt. Er wollte schon zu einem Donnerwetter ansetzen, als er Juma erkannte.
»Bwana Roden nicht böse sein mit Juma … Krieger sind so viele wie Halme auf den Wiesen … niemand weiß die Zahl. Speere schneiden wie Messer … stoßen in Herz. Fällt vom Maultier auf die Erde … Steht nicht mehr auf … Krieger haben weiße und rote Gesichter … Bogen mit Pfeilen … kämpfen mit bwana … Juma hat Angst. Maultier hat auch Angst und läuft zurück auf Plantage … Juma kann es nicht halten …«
Von Roden hatte genügend Erfahrung mit den Eingeborenen, um aus diesem Wirrwarr das Wesentliche herauszuhören.
»Wer ist vom Maultier gestürzt? Doch nicht …«
»Bibi Ohlsen fällt von Maultier … Juma kann bibi nicht helfen. Krieger stehen um sie herum, haben Speere, scharf geschliffen …«
»Dschagga?«
Juma zog die Schultern zusammen und bejahte die Frage leise. Es gab auch Dschagga auf der Plantage, und er fürchtete sich vor ihnen. Sie kamen meist nur für einige Tage, um sich Geld für ein schönes Tuch, ein scharfes Messer oder hübschen Schmuck zu verdienen, dann verschwanden sie wieder. Juma hatte mehrfach Streit mit ihnen bekommen und Prügel bezogen, denn die Dschagga waren stolz und verachteten die Schwarzen, die auf der Plantage wohnten.
»Zeig mir den Ort, wo es passiert ist!«
Von Roden ließ ihn stehen und rannte die wenigen Meter bis zum Stall, befahl Kapande, drei weitere Maultiere zu satteln und zwei Begleiter herbeizuholen, dann stürzte er zurück ins Haus, um sich zu bewaffnen. Was im Einzelnen passiert war, konnte er sich noch nicht ganz zusammenreimen, aber da Juma allein zurückgekehrt war und von den Ohlsens jede Spur fehlte, schien ihnen etwas zugestoßen zu sein.
Die Maultiere spürten die Unruhe und benahmen sich besonders bockig, er musste sich zusammennehmen – mit Zorn konnte man nichts ausrichten. Verflucht – er hätte darauf bestehen müssen, Charlotte und ihren Mann zu begleiten. Weshalb hatte er sich abweisen lassen? Er war bisher mit den verschiedenen Häuptlingen recht gut zurechtgekommen, aber dennoch waren die Dschagga unberechenbar, und die Stämme befanden sich praktisch pausenlos in irgendwelchen Kleinkriegen.
Juma hatte einen ziemlichen Schrecken erlitten. Von Roden sah ihm an, dass er viel lieber auf der Plantage geblieben wäre, doch an der Seite seines bwana und der drei anderen fasste er neuen Mut und stieß seinem Reittier die Fersen in den Bauch. Von Roden trieb zur Eile an, neben den Selbstvorwürfen peinigte ihn jetzt eine unbestimmte Angst. Charlotte war von ihrem Reittier gestürzt, vielleicht hatte sie sich etwas gebrochen und lag nun hilflos und mit peinigenden Schmerzen irgendwo am Wegesrand.
»Was ist mit bwana Ohlsen?«, forschte er Juma aus.
»Juma weiß nicht genau. Bwana Ohlsen hat mit Kriegern gestritten. Hat keine Angst vor den Lanzen. Aber dann ist das Maultier mit Juma davongelaufen …«
»Soso, das Maultier«, knurrte von Roden ungehalten.
Der Pfad an dieser Stelle war tief in den Boden eingegraben und von hohen Büschen gesäumt. Als sie um eine Kehre bogen, tat von Rodens Maultier einen Sprung zur Seite, um nicht den Mann umzulaufen, der plötzlich vor ihnen auftauchte. Christian Ohlsen sah schrecklich aus. Blut rann aus einer Wunde an seiner Stirn, seine Kleidung war zerrissen und voller Flecke, der Tropenhelm fehlte. Erschrocken stiegen sie ab, um ihm zu helfen; es war nur allzu deutlich, dass er sich unter Aufbietung seiner letzten Kräfte vorangeschleppt hatte. Als von Roden und Juma ihn unter den Armen fassten, sackten ihm die Beine weg. Vorsichtig ließen sie ihn zu Boden gleiten. »Von Roden«, stammelte Christian, als müsse er nachdenken, wen er vor sich hatte. »Sie ist … sie haben sie … ich konnte sie nicht daran hindern …«
»Woran konnten Sie wen nicht hindern? Nun reden Sie schon!« , rief Max von Roden und fasste ihn stützend bei den Schultern.
Christian sprach hastig und gepresst und musste zwischendrin immer wieder nach Luft ringen.
»Die Eingeborenen. Sie haben sie mitgenommen. Ihr Maultier ist durchgegangen und hat sie abgeworfen. Ich habe sie stöhnen hören und wollte zu ihr, aber sie war von diesen Kerlen umringt. Als ich das Gewehr anlegte, fielen sie in Scharen über mich her … Die verdammte Flinte ist nicht losgegangen …«
»Seien Sie froh, Mann«, knurrte von Roden. »Hätten Sie einen von ihnen erschossen, wäre das Ihr Todesurteil gewesen.«
Die Dschagga hatten Charlotte mitgenommen! Das sollte begreifen, wer wollte, aber es war auf jeden Fall eine böse Nachricht. Großer Gott – was würden sie mit ihr tun? Er wehrte sich gegen die scheußlichen Bilder, die in seinem Hirn auftauchten – solche Dinge passierten immer wieder. Aber doch nicht ausgerechnet Charlotte …
»Wohin sind sie gegangen? Den Pfad hinunter?«
Christian Ohlsen war ihm keine große Hilfe. Er war zu Boden geworfen worden und hatte für eine Weile das Bewusstsein verloren. Als er wieder zu sich kam, waren die Dschagga verschwunden, ebenso Charlotte und auch die Maultiere.
»Reiten dorthin und finden ihre Spuren«, sagte Kapande. »Niemand geht ohne Spur, nur Geist.«
Juma überließ Christian sein Maultier und lief freiwillig zu Fuß; er war voller Reue, trotzdem aber heilfroh, rechtzeitig entkommen zu sein. Christian Ohlsen brauchte drei Ansätze, um in den Sattel zu gelangen, schließlich half ihm von Roden hinauf, während Juma das unruhige Maultier am Halfter hielt.
»Sie haben Fieber, Mann. Das habe ich schon gestern bemerkt. Haben Sie Chinin genommen?«
Christian wischte sich mit dem Ärmel das Blut von der Stirn und gab keine Antwort. Immerhin stellte von Roden mit scharfem Blick fest, dass die Stirnwunde nicht erheblich war – eine aufgeplatzte Prellung, die von einem Schlag herrührte. Wahrscheinlich war er deshalb noch benommen.
Sie hatten nicht lange zu reiten. An der Stelle, wo der Überfall stattgefunden hatte, wurde der Pfad von einem schmalen Gebirgsbach überquert, der zurzeit nicht allzu viel Wasser führte. Die Dschagga waren das Bachbett heruntergelaufen und hier auf den Pfad gestoßen.
»Da, bwana!«
Juma hatte ein ockergelbes Tuch entdeckt, das sich im Gebüsch verfangen hatte.
»Das gehört ihr. Sie hat es verloren, als das Maultier durchging!«
Christian nahm das Tuch an sich, hielt es in den Händen und besah es mit so verzweifeltem Blick, dass von Roden Mitleid bekam. Er mochte diesen Mann nicht besonders, aber er konnte seine Sorge um Charlotte nur allzu gut verstehen.
»Dschagga haben Zweige und Äste geschnitten«, vermeldete Kapande.
Von Roden hatte die frischen Bruchstellen als Folge des Kampfes gedeutet, jetzt aber erkannte er, dass Buschmesser benutzt worden waren.
»Sie haben Trage gebaut, bwana. Und dann sie sind bergab gegangen. Vielleicht nach Moshi …«
»Moshi?«, wiederholte Christian Ohlsen. »Wieso Moshi? Kann man das an den Spuren erkennen?«
Von Roden wurde klar, dass Ohlsen offensichtlich kaum Suaheli verstand, und er beschloss, die Sache mit der Trage besser zu verschweigen. Es konnte nur bedeuten, dass Charlotte ernsthaft verletzt war und weder reiten noch gehen konnte. Himmel – sie würde doch nicht sterben?
»Ja, hinunter nach Moshi. Es ist möglich, dass die Dschagga zur Karawane unterwegs sind, um ihr Elfenbein anzubieten«, sagte er bedächtig. »Vielleicht haben sie Ihre Frau dorthin mitgenommen …«
Es war eine recht vage Vermutung, an die er selbst nicht so richtig glauben konnte, aber sie war keineswegs vollkommen abwegig. Es konnte ja sein, dass die Dschagga mit der Dankbarkeit der weißen Schutztruppe rechneten, die sich ganz sicher in Geschenken ausdrücken würde.
»Dann reiten wir hinunter …«
Christian schien wieder aufzuleben. Er trieb sein Maultier an, doch er hing so weit vornüber im Sattel, dass von Roden nicht umhin kam, sich zu fragen, wie lange er sich wohl auf dem Tier halten würde.
»Hören Sie, Ohlsen! So hat das keinen Zweck. Reiten Sie zurück auf die Plantage, das ist nicht allzu weit, dort wird man Sie versorgen. Wir werden Ihre Frau in Moshi finden und Ihnen Nachricht geben …«
»Ich reite dorthin, wo Charlotte ist …!«
Damit verschwand er hinter der nächsten Biegung. Was für ein sturer Bursche!, dachte von Roden. Aber hätte er selbst in einer solchen Situation nicht ebenso gehandelt? Was immer man gegen diesen Ohlsen sagen konnte: Er liebte seine Frau abgöttisch.
Die Gruppe zog sich auseinander; von Roden musste auf Kapande warten, der immer noch nach Spuren suchte. Juma wollte er lieber zur Plantage zurückschicken – er hatte jetzt kein Maultier mehr und hielt sie nur auf.
»Kapande! Komm jetzt, wir müssen weiter.«
Doch Kapande hockte im Bachbett und schien mit den Fingern Linien in den feuchten Boden zu malen. »Ja, bwana. Aber wir finden die bibi nicht in Moshi. Hier ich sehe Füße mit den Zehen nach oben. Zwei Männer, drei, vier …«
Das konnte nur bedeuten, dass sich ein paar der Dschagga-Krieger von den Übrigen getrennt hatten, um das Bachbett wieder hinaufzugehen. Vermutlich waren sie zurück in ihr Dorf gelaufen.
»Weshalb denkst du, dass wir bibi Ohlsen nicht in Moshi finden, Kapande?«
»Darum, bwana!«
Er hielt von Roden die flache Hand entgegen. Darauf glänzte ein kleiner, runder Gegenstand, ein Knopf aus Perlmutt, noch feucht vom Wasser. Solche Knöpfe waren an ihrer Jacke gewesen, daran erinnerte er sich genau.
Von Roden zog scharf die Luft ein, um seinen Schrecken vor Kapande zu verbergen. Sie hatten Charlotte in ihr Dorf gebracht, das war keine gute Nachricht. Weshalb? Was hatten sie mit ihr vor?
Er zögerte, dann entschied er sich, Christian Ohlsen nicht zurückzurufen. Er würde ihnen seine beiden schwarzen Angestellten hinterherschicken; vielleicht schaffte er es bis Moshi, dann tat er klug daran, sich in die Hände des deutschen Militärarztes zu begeben. Dieses Bachbett konnte man nur zu Fuß bewältigen, was bedeutete, dass sie die Maultiere hinter sich herzerren mussten – eine kräfteraubende und zudem recht gefährliche Angelegenheit. Von Roden hatte weder eine Ahnung, mit welchem Dschagga-Stamm er es zu tun hatte, noch wusste er, was sie im Schilde führten. Das einzig Gute an der Situation war, dass Kapande sich vermutlich mit ihnen verständigen konnte, denn er hatte eine Dschagga zur Frau.