Der Küstendampfer hatte mit den aufgewühlten Wellen des indischen Ozeans zu kämpfen, dennoch folgte er gleichmütig und stetig seinem Kurs, eine schlanke Rauchfahne hinter sich herziehend. Der Himmel war bedeckt und ließ das Meer graugrün erscheinen, dämpfte auch die Farben der Küste, ohne ihr die Leuchtkraft ganz entziehen zu können. Die kleinen Koralleninseln, die der Hafeneinfahrt von Daressalam vorgelagert waren, glitten langsam an ihnen vorüber, im Dunst sahen sie aus, als wären sie von zartgrünen und zimtfarbigen Schleiern überzogen.

George hatte nicht damit gerechnet, dass Charlotte auf sein Angebot eingehen würde, hatte insgeheim sogar gehofft, sie würde es ablehnen, da er sich – so hingezogen er sich zu ihr fühlte – doch vor ihrer Nähe fürchtete. Mit eher zögerlichen Schritten nahm er daher am vereinbarten Freitag frühmorgens Kurs auf die Inderstraße, beladen mit Geschenken für sie, Klara und den kleinen boy. Charlotte stand vor ihrem Laden, ausstaffiert mit Regenschirm und Tasche, und erwartete ihn bereits.

»Du hast recht, George«, sagte sie und hob den Kopf, um ihn anzusehen. »Eine solche Gelegenheit wird nicht wiederkommen – ich möchte Sansibar sehen.«

Obgleich der Rand des Strohhutes Stirn und Augen beschattete, spürte er doch ihren prüfenden Blick, und er bemühte sich, sein Erschrecken zu verbergen, in das sich gleichzeitig unbändige Vorfreude mischte.

»Ich freue mich, Charlotte … Fast fürchtete ich schon, du würdest dich nicht entschließen können …«

Jetzt stand sie neben ihm an der Reling des Küstendampfers, hatte den Hut abgenommen, den der Wind ihr sonst vom Kopf gerissen hätte, und starrte nach Osten, wo bisher nichts weiter zu sehen war als die unendliche Weite des Ozeans.

»Ist dir kalt?«

Er hatte gesehen, dass sie in der kühlen Morgenbrise fröstelte. Für einen Augenblick wandte sie ihm ihr Gesicht zu, die dunklen Brauen tief gesenkt, die Lippen fest aufeinandergepresst. Er hätte sie nicht mitnehmen sollen, hätte ihr den Vorschlag gar nicht erst machen dürfen, doch dann war es zu spät gewesen. »Ich friere nicht, danke.«

Er hätte ihr seine Jacke umlegen können, doch er spürte ihre Abwehr und respektierte sie. Mit Sorge dachte er daran, wie er die Zeit bis morgen früh mit ihr verbringen sollte, was er sagen durfte und was nicht, welche Eingeständnisse er ihr machen konnte und was er besser verschwieg. Es würde ein Gang auf einem schmalen Grat sein, und er ahnte jetzt schon, dass ihm Fehler unterlaufen würden.

Der erste Fehler war bereits passiert, ohne dass er eine Chance gehabt hätte, ihn zu umgehen. Charlotte war davon ausgegangen, er lebe mit Marie und den Kindern auf Sansibar, doch er war allein, seine Frau war in England geblieben, schon wegen der Kinder, die dort die Schule besuchen sollten, aber auch, weil Marie sich strikt geweigert hatte, noch einmal ins Ausland zu reisen. Seinem Vater ging es schlecht – es war Zeit für George, die Arztpraxis in London zu übernehmen.

»Ich werde nur wenige Monate auf Sansibar bleiben«, hatte er Charlotte erklärt. »Es war ein Angebot, das über einen Kollegen zu mir kam, und ich habe es angenommen.«

Was er verschwieg, war die Tatsache, dass er dieses Angebot angenommen hatte, weil ihm inzwischen zugetragen worden war, wohin es Charlotte verschlagen hatte. Seit ihrem Briefwechsel fühlte er sich zu ihr hingezogen, sah in ihr eine Gleichgesinnte, die in seinem Leben eine wichtigere Rolle einnahm, als er es zuerst für möglich gehalten hatte. Doch auch dies würde er ihr besser verschweigen.

»Wie konntest du mich dann so einfach in dein Haus einladen? Wohnst du dort etwa ganz allein?«

»Aber nein. Ich habe Angestellte, und es gibt viele Zimmer, in denen ich oft Gäste empfange. Dein guter Ruf ist nicht in Gefahr, Charlotte Ohlsen!«

Sie war immer noch die brave, protestantisch erzogene Kleinstädterin, das hätte er vor seiner Einladung bedenken müssen, aber dazu war er bei ihrer Begegnung in der vergangenen Woche nicht fähig gewesen. Obwohl geplant, hatte ihn das Wiedersehen mit Charlotte vollkommen überwältigt, und er hatte einige Tage und Nächte gebraucht, um den Wust seiner Empfindungen zu entwirren.

Er hatte nicht die romantische Seelenverwandte gefunden, das scheue kleine Mädchen mit den orientalischen Augen, das ihn einst so gerührt hatte. Charlotte war eine voll erblühte Schönheit, eine aufregende Mischung aus Orient und Okzident, schlank und doch ungemein weiblich, das Gesicht, in dem vor allem die dunklen, goldblitzenden Augen hervorstachen, war immer noch schmal, aber das Kantige, Unausgeglichene der Fünfzehnjährigen war daraus verschwunden. Mehr noch als das Äußere hatte ihn jedoch ihre Lebendigkeit fasziniert, ihre Tatkraft, die er der verträumten, kleinen Charlotte niemals zugetraut hätte. Sie führte diesen Laden ganz allein, und offensichtlich machte sie ihre Sache gut. Dennoch hatte er trotz all ihrer Beteuerungen, inzwischen mit beiden Beinen fest auf dem Boden zu stehen, bemerkt, dass sie weder ihre Träume noch ihre Neugier verloren hatte.

Er hatte sich letztlich eingestehen müssen, dass diese neue Charlotte in ihm Empfindungen weckte, die für sie beide nicht gut waren. Genauer ausgedrückt: Er begehrte sie. Nicht nur ihren Körper, sondern vielmehr ihre sprühende Lebenskraft, ihre Zärtlichkeit, die Begeisterung, die er immer noch in ihr erwecken konnte. Eine Weile versuchte er, sich einzureden, er habe sie nur eingeladen, um ihr Ratschläge zu geben, Verbindungen aufzutun, sie über Tropenkrankheiten aufzuklären und sie mit Medikamenten versorgen zu können, dann jedoch erkannte er, dass dies alles nur Vorwände waren, so dass er sich vornahm, seine Einladung für besagten Freitag zu widerrufen.

Doch das hatte er nicht fertiggebracht.

»Hör zu, George!«

Sie hatte sich ihm wieder zugewandt, eine lange Haarsträhne in der Hand, die sich aus ihrem aufgesteckten Zopf gelöst hatte und vor ihrer Nase herumflatterte. Der Strohhut hing an einem Band um ihren Hals, der Wind ließ ihn auf ihrem Rücken tanzen.

»Es tut mir leid, dass ich mich so albern benommen habe. Natürlich werde ich in deinem Haus übernachten – schließlich sind wir erwachsene Menschen, nicht wahr?«

»Ich bin froh, dass du so denkst«, sagte er erleichtert. »Falls dir aber noch Bedenken kommen sollten, kann ich dich auch in einem Hotel oder in der Familie eines englischen Kollegen unterbringen.«

»Ach, Unsinn. Ich freue mich wahnsinnig – ist das dort hinten schon die Insel?«

»Noch nicht, Frau Ungeduld. Es dauert noch ein wenig.«

Sie war jetzt wie ausgewechselt, ließ sich von den Gewürznelkenplantagen erzählen, die erst Anfang des Jahrhunderts auf Sansibar angelegt worden waren und die Insel zur Erntezeit mit dem starken, vanilleartigen Duft der blühenden Bäume erfüllten. Tief bewegt lauschte sie der Liebesgeschichte zwischen einem deutschen Kaufmann und der Tochter des Sultans, stellte immer wieder Fragen, wollte wissen, was nach der Entführung aus den beiden geworden war, und stellte dann beklommen fest, dass es so mutige Frauen auf der Welt gäbe, vor denen sie selbst sich entsetzlich klein und feige vorkam. Sie erzählte ihm, dass sie auf dem Markt von Daressalam einer Frau im Tropenanzug begegnet war, einer dieser englischen Ladys, deren Welt nur aus Hunden, Pferden und der Jagd bestand und die nach Afrika auf Großwildjagd reisten, um sich daheim eine Reihe ausgestopfter Trophäen über den Kamin zu hängen. George verachtete diese Sorte Mensch zutiefst. Von dem fremden Land, in dem sie herumgestapft waren, begriffen diese Leute nicht mehr, als in ein Whiskyglas ging.

»Findest du es wirklich erstrebenswert, ahnungslose Tiere zu erlegen, die von schwarzen Treibern ausgespäht und schussgerecht vor deine Flinte gelockt werden?«

Sie sah ihn mit großen Augen an, offensichtlich hatte sie ihm dieses harte Urteil nicht zugetraut.

»Du hast recht«, meinte sie dann. »Nein, das ist keineswegs zu bewundern. Ich würde niemals ein Tier einfach nur um der Trophäe willen töten. Allerdings würde ich mich mit meinem Revolver schützen, falls mir einer dieser feigen, diebischen Löwen zu nahe käme, die nachts in den Straßen von Daressalam ihr Unwesen treiben.«

Sie besaß tatsächlich einen Revolver und hatte auch schon probeweise damit geschossen. Dieser Inder hatte ihn ihr besorgt, ihr Helfer, den sie in höchsten Tönen lobte. Es machte ihn stutzig – George konnte sich nicht vorstellen, dass dieser Mann sie aus purer Menschenliebe derart unterstützte. Er war ein Geschäftsmann, der vermutlich nur da investierte, wo er einen Gewinn sah. Doch er schwieg besser über seine Vermutungen, denn er wollte auf keinen Fall mit ihr streiten.

»Wenn du einmal in die afrikanische Savanne kommst, wirst du dort Löwen sehen, die keine feigen Diebe sind.«

»Vielleicht werde ich das eines Tages tun«, erwiderte sie nachdenklich. Dann lächelte sie ihn an. Es war ein glückliches Lächeln, dem eine Verführungskraft innewohnte, von der sie vermutlich keine Ahnung hatte.

»Es ist seltsam, George. Seitdem ich dich wiedergetroffen habe, scheinen mir so viele Dinge möglich zu sein, an die ich vorher gar nicht zu denken gewagt habe. Die Savanne mit all den fremdartigen, wundervollen Wesen möchte ich kennenlernen: die Massai, diese stolzen Krieger, die niemals versklavt werden können, da sie in Gefangenschaft sterben, und diesen gewaltigen Berg, den Kilimandscharo, von dem ich schon als Kind geträumt habe …«

Das Leuchten ihrer Augen ging ihm nahe, denn er bezweifelte, dass sie all dies jemals zu Gesicht bekäme. Sie war eine Frau, und wie er ihren Mann einschätzte, so schien er nicht eben geneigt, mit Charlotte die wilde Schönheit der afrikanischen Savanne zu erkunden. Er war in Usambara auf einer Pflanzung. Wieso dort und nicht in Daressalam an ihrer Seite? Aber diese Dinge gingen ihn nichts an, und er würde sich hüten, sie danach zu fragen. Obgleich es ihn brennend interessierte – die Details in Ettjes Brief hatten seinen Zorn erregt. Wieso hatte sie einen solchen Versager geheiratet? Sie hatte weiß Gott einen besseren Ehemann verdient.

Die Sonne ließ die Wellen glitzern, jetzt endlich waren die Wolken zu kleinen Dunstfähnchen zusammengeschmolzen, und das Meer leuchtete in klaren Blau- und Türkistönen. An der afrikanischen Küste wagten sich wieder einige der kleinen Dhaus aufs Meer, die gebauschten Segel sahen aus wie weiße Tropfen auf den blaugrünen Fluten. Er dachte daran, dass er in Ägypten mit Schifflein wie diesen den Nil befahren und dabei auch selbst Hand angelegt hatte. Hier wie dort waren die Schiffer Meister ihres Faches, steuerten ihre einfachen Boote instinktiv, als wären sie mit ihnen verwachsen. Kein Wunder, die meisten lernten diese Kunst von Kind auf.

Er hatte erwartet, dass Charlotte in entzückte Rufe ausbrechen würde, als die Hauptinsel Unguja mit den vorgelagerten Koralleninseln in Sicht kam. Doch sie gab keinen Laut von sich, starrte mit weit geöffneten Augen auf weiße Sandstrände und sanfte, dunkelblaue Buchten mit ihren Mangrovendickichten und Schraubenbäumen. Dahinter lagen weite Grasflächen, Buschwerk und vielfarbige Plantagenanlagen, aus denen die hohen Palmen herausragten wie aufgereckte, grüßende Hände. Durch das dunkle Grün der Pflanzen leuchteten hier und da die weißen Landhäuser der Araber.

»So habe ich es in meinen Träumen gesehen.«

Er musste sich zu ihr hinüberlehnen, um ihre leisen Worte durch das Rattern und Tuckern des Dampfers hindurch zu verstehen.

»Die bläulichen Wellen, die immer heller und durchsichtiger werden, wenn sie über den Sand lecken. Das dichte Gewirr der Pflanzen, wie ein grünes Gewölk, das auf der weißen Koralleninsel lagert. Dort, im Schatten riesiger Bäume, schlummern Teiche, auf denen rosige und gelbe Blütenknospen treiben …«

Sie hatte den Mund ein wenig geöffnet, als wolle sie den Anblick nicht nur mit den Augen in sich aufnehmen, sondern ihn einatmen wie einen erregenden Duft. George war bewegt. Undeutlich erinnerte er sich, dass sie damals tatsächlich von Bildern gesprochen hatte, die sie in ihren Träumen sah. Es hatte ihm gefallen. Die kleine Charlotte mit den exotischen Augen und dem schwarzen Haar war ihm damals wie eine Verkörperung seiner eigenen Sehnsüchte erschienen. Jetzt erst begriff er, wie ernst und tief sie empfand, und etwas wie Reue stieg in ihm auf, dass er sie damals so bald wieder vergessen hatte.

»Zayn z’al barr«, sagte er ihr ins Ohr. »Das haben die arabischen Seeleute damals ausgerufen, als sie diese Inseln zum ersten Mal erblickten. Auf Deutsch heißt es so viel wie: Schön ist dieses Land.‹«

Das dunkelblaue Wasser im Hafen von Sansibar-Stadt schien wie von zahllosen, weißen Papierstückchen bestreut, so viele kleine Boote fuhren jetzt hinaus aufs Meer. Es waren nicht nur Dhaus, sondern vor allem Einbäume mit doppeltem Ausleger, die mit ihrem großen Segel pfeilschnell durchs Wasser glitten. Am Ufer lagen einige größere Handelsschiffe vor Anker, Segler und Dampfschiffe, unübersehbar auch ein englisches Kriegsschiff. George versuchte, Charlotte die Aufteilung der Stadt zu erklären, den Bereich des Sultanspalasts, die Basare der Inder mit ihren mehrstöckigen Häusern, deren Fensterläden stets graublau und grün gestrichen waren, das Negerviertel, wo kleine Hütten aus Lehm eng nebeneinander standen. Er zeigte ihr auch die Klinik, in der er arbeitete: ein weißer Bau mit zwei zinnenbewehrten Treppentürmchen. Sie lag im Viertel der Ausländer direkt am Meer. Doch hörte sie ihm überhaupt zu?

»Der Palast des Sultans, sagst du? Aber das sind Ruinen, ganze Mauern sind zusammengefallen, die Dächer eingestürzt …«

»Sie sind nicht eingestürzt, Charlotte, sie wurden von den Kanonen englischer Kriegsschiffe zerschossen. Hat man denn drüben in Daressalam nichts davon gehört?«

Sie überlegte kurz, dann nickte sie. Die deutschen Frauen, die sie hin und wieder besuchte, hatten von einem »Operettenstückchen« geredet, das auf Sansibar stattgefunden habe. Die Araber dort hätten für ein paar Stunden den Aufstand geprobt, aber die britische Marine habe sie recht bald wieder zur Räson gebracht.

Die Schilderung ärgerte ihn, obgleich ihm die Hochnäsigkeit britischer und deutscher Offiziere längst bekannt war.

»Das ist nett ausgedrückt. Die britische Schutzmacht war mit dem Nachfolger des verstorbenen Sultans nicht einverstanden und wünschte sich einen anderen Kandidaten auf dem Thron. Ende August haben fünf britische Kriegsschiffe Stadt und Sultanspalast beschossen, um diese Ansprüche durchzusetzen. Es hat über fünfhundert Tote und noch mehr Verletzte gegeben – auf Seiten der Sansibarer natürlich, die Briten haben keinen einzigen Mann verloren.«

Er hatte versucht, einen ironischen Ton anzuschlagen, doch ihr betretenes Schweigen zeugte davon, dass sie seine Verbitterung herausgehört hatte. »Die Lage ist inzwischen wieder ruhig«, erklärte er und bemühte sich um ein Lächeln. »Die Menschen hier haben schon viele Eroberer kommen und gehen sehen. Sansibar wird bleiben.«

Sie sah ihn zweifelnd an, und er spürte, dass sie ihm nicht so recht glaubte. Vielleicht sollte er das Thema später noch einmal anschneiden.

Inzwischen war eine Flut von schwarzen Händlern dem Dampfer entgegengerudert. Auf ihren kleinen Einbäumen transportierten sie Orangen, Ananas und Kokosnüsse, bunte Papageien oder auch kleine Affen, die sie den Passagieren lauthals anpriesen. Sie folgten ihnen auch, als sie an Land gingen, und George hatte seine liebe Not, die aufdringlichen Burschen loszuwerden. Charlotte hatte es nicht eilig, die Hafengegend zu verlassen, immer wieder blieb sie stehen, sah aufs Meer hinaus, betrachtete neugierig die großen Segler und Dampfschiffe am Kai, bestaunte die schwarzen Träger, die Warenballen aus dem lang gesteckten Zollschuppen über schwankende Bretter in den Bauch der Schiffe schleppten. Als er sie endlich in eine der engen, mit Strohmatten und Tüchern überdachten Händlergassen geschleust hatte, verwandelte sie sich augenblicklich in die tatkräftige junge Frau, die er in ihrem Laden in Daressalam bewundert hatte. Kein Geschäft war ihr zu klein, kein Loch zu duster, sie musste alles bestaunen, betasten, nach Herkunft, Qualität und Preisen fragen. Sie sah den Metallarbeitern zu, die mit kurzen, sicheren Hammerschlägen gold- und silberfarbige Knöpfe herstellten, die man an Spazierstöcke aus Rohr stecken konnte. Sie befühlte Antilopengehörne und Leopardenfelle, starrte fasziniert in die aufgerissenen Mäuler ausgestopfter Flusspferde, steckte ihre Nase in jedes Pülverchen, schnüffelte an jedem Gewürz, prüfte die gelbe Schminke aus Kurkuma und das schwarze Antimon mit den Fingern, unterhielt sich mit dem Händler und fragte ihn neugierig aus. Woher? Wie teuer? Wie lange bleibt es frisch? Wer kauft es? Welche Speisen werden damit gewürzt? Schnell zeigte sich, dass sie bereits über gute Kenntnisse verfügte und sich nichts vormachen ließ; sie rechnete blitzschnell mit Rupien und Pesa und kam auch mit dem englischen Pfund und dem amerikanischen Dollar zurecht.

Er sah dem Schauspiel amüsiert zu und musste daran denken, dass Marie sich stur geweigert hatte, auch nur ein einziges arabisches Wort in den Mund zu nehmen. Charlotte plapperte Suaheli, gemischt mit arabischen und indischen Brocken, wechselte aber auch mühelos ins Englische, und wenn sie gar nicht weiterkam, zeigte sie mit Mimik und Gesten, worauf sie hinauswollte.

Er ließ ihr Zeit, blieb geduldig neben ihr stehen und wartete, bis sie ihre Verhandlungen abgeschlossen hatte, dann folgte er ihr zum nächsten Laden, wo das Ganze von vorn begann. Manches, wie die schön geformten Antilopenhörner, die kunstvoll geschnitzten, durchbrochenen Kugeln aus Elfenbein oder die halbmondförmigen Silberohrringe, schien ihr ganz besonders zu gefallen, doch sie kaufte kein einziges Stück. War sie geizig? Oder verdiente sie mit ihrem Laden nur gerade so viel, um sich und ihre Cousine ernähren zu können? Während sie mit einem arabischen Händler radebrechte, erstand er ein Paar teure, silberne Ohrringe, die zu ihrem schwarzen Haar großartig aussehen würden. Er steckte sie in seine Jackentasche, unsicher, ob sie dieses Geschenk von ihm annehmen würde. Dann sah er auf die Uhr und stellte fest, dass es schon gegen zwei ging.

»Ich werde in der Klinik gebraucht«, gestand er ihr. »Es wird ein paar Stunden dauern, aber ich werde dich vorher zu meinem Haus bringen, damit du dich ein wenig ausruhen kannst.«

Doch sie dachte gar nicht ans Ausruhen und wollte ihn auf jeden Fall begleiten, schon deshalb, weil sie gern sehen wollte, wie und wo er arbeitete. George blockte ab. Er müsse sich um seine Patienten kümmern, behauptete er, sie würde dort nur herumsitzen und sich langweilen. In Wirklichkeit hatte er Ärger mit seinem französischen Kollegen, der viele seiner Ansichten, die schwarze Bevölkerung betreffend, nicht teilte, und wollte nicht, dass Charlotte die gespannte Atmosphäre in der Klinik zu spüren bekam.

»Ich gebe zu, dass ich einen boshaften Hintergedanken hege«, gestand er daher grinsend. »Ich habe inzwischen an meinem Buch weitergeschrieben und hoffte darauf, du würdest die Zeit damit ausfüllen, ein wenig in meinen Manuskripten zu schmökern.«

Ihre Enttäuschung verflog, sie lachte und erkundigte sich verschmitzt, ob es in seinem Haus eine Dachterrasse gäbe. Und ob er einen Rotstift habe, denn wenn sie schon lesen müsse, dann wolle sie auch ihre Meinung dazu kundtun.

»Darauf hoffe ich! Deine Korrekturen haben mir immer sehr geholfen, Charlotte.«

Dieses Lob kam von Herzen, und doch hatte er nicht alles gesagt. Nicht nur ihre Anmerkungen – die sie bisher übrigens noch nie mit Rotstift, sondern nur mit Bleistift eingefügt hatte – waren ihm wichtig. Dieser schriftliche Austausch war ein Bindeglied zwischen ihnen gewesen, eine unverfängliche Art, dem anderen Gedanken und Empfindungen mitzuteilen, und er wollte sich diese Möglichkeit erhalten. Ihr Ehemann würde einen intimen Briefwechsel gewiss nicht dulden. Wenn sie jedoch Manuskripte korrigierte – was er ihr gern auch vergüten würde –, gab es für Christian Ohlsen keinen Grund, eifersüchtig zu sein.

Sie waren in südlicher Richtung gegangen und hatten jetzt die Basare und die schmalen, verwinkelten Gassen der Kernstadt hinter sich gelassen. Das Ausländerviertel begann jenseits eines alten Bollwerks aus dicken Mauern und zinnenbesetzten Rundtürmen, das einst die Portugiesen errichtet hatten. Da es heute nicht länger von militärischer Bedeutung war, teilte es das Schicksal so vieler Gebäude der Stadt: Es verfiel langsam. Die Deutschen und Briten hatten geräumige Wohnhäuser, Militärunterkünfte und repräsentative Kolonialbauten errichtet, in Sichtweite der alten Türme befand sich das lang gezogene Gebäude der britischen Kommandantur, davor lag ein offener Platz für die Abnahme der Truppenparaden.

»Die Stadtteile, in denen sich die Kolonialherren ansiedeln, ähneln einander, egal, wohin man kommt«, bemerkte er. »Immer findet man sie in den angenehmsten Gegenden, es gibt eine Postzentrale, ein Hotel und mehrere Bars, die nur von Europäern frequentiert werden, und man erkennt die offiziellen Gebäude schon aus der Entfernung an den wehenden Fahnen. Bald wird es hier auch eine große Kathedrale geben: Die französischen Missionare haben im Juli, kurz vor Ausbruch der Revolte, den Grundstein gelegt.«

»Es erinnert tatsächlich ein wenig an das deutsche Viertel in Daressalam«, stellte Charlotte fest. » Ich glaube, es ist sehr angenehm, hier zu leben, aber mir gefällt die wimmelnde Betriebsamkeit der Basare unten in der Kernstadt besser.«

Er musste schmunzeln; sie schien sich kein Bild davon zu machen, wie gefährlich es für einen Europäer war, sich in diesen düsteren Gassen zu verirren. Die Gewalt, die zu nächtlicher Stunde in solchen Gegenden vorherrschte, war für Charlotte vermutlich kaum vorstellbar. Doch er wollte ihr zumindest heute nichts davon berichten, da er sich wünschte, dass sie diesen Aufenthalt in angenehmer Erinnerung behielt.

Das einstöckige Gebäude, das man ihm als Unterkunft zugewiesen hatte, war ein schmuckloser, rasch hochgezogener Bau mit einem Spitzdach, der ebenso gut in der Schweiz oder in Deutschland hätte stehen können. Angenehm waren nur die Begrünung ringsum und die Palmen, die das Bauwerk beschatteten, und natürlich die unmittelbare Nähe zum Meer.

»Ich werde bis etwa fünf Uhr zu tun haben – wenn du willst, kannst du mich in der Klinik abholen«, schlug er vor. »Du kannst sie nicht verfehlen, du musst nur zum Meer gehen, die Klinik liegt südlich von hier direkt am Strand. Du kannst dir den Weg aber auch von Jim zeigen lassen.«

Der Vorschlag schien ihr zu gefallen, ganz wie er vermutet hatte. Langsam löste sich seine Besorgnis auf, die Balance zwischen Nähe und Abstand war lange nicht so schwer einzuhalten, wie er befürchtet hatte. Er würde ihr einige seiner Manuskripte heraussuchen, nur einen kleinen Teil natürlich, damit noch genügend Vorrat für später blieb. Am Abend würden sie gemeinsam essen, ein Glas Wein trinken und sich dabei unterhalten. Über die Sahara und den Nil, die Pyramiden und die Kunst, ein Kamel zu reiten. Vielleicht auch über die Familie daheim in Europa, über die kleine Stadt in Ostfriesland, seinen Besuch damals … Falls sie die Sprache auf ihren Mann bringen würde, hatte er sich vorgenommen, wortlos zuzuhören, auch von Marie wollte er nur das Notwendigste berichten. Wenn er sich gut im Griff behielt, war die Chance, einen Fehler zu begehen, relativ gering.

Morgen würde er sie dann zum Hafen begleiten und ihr zum Abschied vom Kai aus zuwinken. Keine Liebschaft. Nicht mit Charlotte. Es hätte alles zerstört, was zwischen ihnen war. Sie würden miteinander in Verbindung bleiben, Manuskripte hin- und herschicken, auch später, wenn er wieder in England war, würde er Briefe empfangen, die ihre Handschrift trugen – die Buchstaben ordentlich gesetzt, nur hin und wieder ein weit ausholender Schwung, ein Schnörkel, ein energischer Strich unter einem Wort, das ihr wichtig war.

Er würde diese Briefe bitter nötig haben, denn im Grunde wusste er nicht, wie er weitermachen sollte.

Himmel über dem Kilimandscharo
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