Juni 1900
Charlotte tauchte die Feder wieder
ins Tintenfass und las den angefangenen Satz noch einmal durch, um
ihn vernünftig zu Ende zu bringen. Sie hätte den Brief an die
Großmutter lieber in aller Ruhe geschrieben, aber die
Jagdgesellschaft wollte gleich nach Moshi aufbrechen, und Max hatte
versprochen, ihren Brief dort im Kaiserlichen Postamt abzugeben. Zu
allem Überfluss stand Schammi neben ihrem Schreibtisch, und
obgleich er bibi Charlotte nicht zu
stören wagte, wusste sie doch genau, dass er etwas auf dem Herzen
hatte.
»Was ist denn, Schammi?«
»Schammi ist traurig. Bwana Roden hat kein Vertrauen zu Schammi. Schammi hat immer getan, was bwana Roden gesagt hat, war niemals ungehorsam …«
Von draußen war ein Gewehrschuss zu hören, dann ein zweiter. Charlotte seufzte und schrieb weiter, während Schammi den hell gemusterten Fenstervorhang ein wenig beiseiteschob und mit sehnsüchtigen Augen hinausspähte. Ohne Zweifel war es Max, der das Gewehr des Baron von Bleiwitz drüben auf der Wiese ausprobierte. Er hatte die fabelhafte Waffe, eine Winchester 95, schon gestern Abend mit glänzenden Augen betrachtet und mit dem Baron lange darüber gefachsimpelt, ob sie auch für die Elefantenjagd geeignet sei.
»Wenn mein Mann es so angeordnet hat, Schammi, dann hat er seine Gründe dafür. Und ich bin ganz seiner Meinung. Du bist noch zu jung, es ist besser, wenn Juma die Gewehre trägt.«
Schammis Miene wurde kummervoll. Er war immerhin ein ganzes Stück größer als Juma, der außerdem als Hasenfuß bekannt war. Weshalb behandelte man ihn immer noch wie ein Kind? Er wusste genau, wie er mit einem Gewehr umgehen musste, schließlich hatte er seinen bwana Roden oft genug zur Jagd begleitet.
»Aber wenn simba unseren bwana angreift, kann Schammi ihn mit dem Gewehr …«
Energisches Protestgeschrei erhob sich draußen vor dem Fenster, gleich darauf hörte man Hamunas beruhigenden Singsang. Doch der kleine Schreihals schwieg nur einen kurzen Augenblick, weil er Luft holen musste, und begann gleich darauf von Neuem zu brüllen. Charlotte beendete eilig die Zeile, fügte gute Wünsche und herzlichste Grüße bei, dazu die Ankündigung, dass sie im nächsten Brief die erste Fotografie ihrer Tochter Elisabeth schicken würde.
»Ich vertraue dir den Brief an, Schammi«, sagte sie und steckte das Schreiben in einen Umschlag. »Erinnere bwana Roden daran, dass er ihn in Moshi zur Post bringt.«
Dieser ehrenvolle Auftrag tröstete Schammi zwar ein wenig, aber was war ein Brief – und mochte er noch so wichtig sein – gegen das Vorrecht, die Ersatzgewehre der Jagdgesellschaft tragen zu dürfen?
Draußen auf dem kleinen Wiesenplatz neben der Akazienallee schraubte die Baronin von Bleiwitz ihren Fotoapparat vom Stativ und packte die einzelnen Teile in eine Holzkiste. Hamuna trug die plärrende Elisabeth auf dem Arm, schaukelte sie, zeigte mit dem Finger in die Luft, wo gerade eine Schar Raben vorüberflog, sang ihr ein Kinderlied vor – nichts wollte fruchten. Als die Kleine Charlotte entdeckte, streckte sie die Arme nach der Mama aus und schluchzte noch ein Weilchen an ihrer Schulter.
»Ich habe ganz entzückende Aufnahmen von Ihrer Tochter gemacht«, schwärmte die Baronin. »Was für ein zauberhaftes Kind!«
Agnes von Bleiwitz war eine Schönheit. Charlotte konnte sich gut vorstellen, wie sie im Reiterkleid durch märkische Wälder ritt, zierlich wie auf einem Scherenschnitt, einen wehenden Schleier hinter sich herziehend. Vor sieben Jahren hatte sie Alexander von Bleiwitz geheiratet, zwei Jahre später hatten die Ärzte ihr gesagt, sie könne niemals Kinder bekommen. Seitdem begleitete sie den Baron auf seinen Reisen und teilte seine Passion – die Großwildjagd.
»Ich fürchte, Hamuna hat ihr so viele Mangostückchen gegeben, dass sie Bauchweh bekommen wird«, meinte Charlotte lächelnd.
»Ja, es war die einzige Möglichkeit, sie zum Stillhalten zu bewegen.«
Elisabeth hatte sich inzwischen müde geweint und schlief in Charlottes Arm. Es war kein Wunder, dass das Kind völlig überdreht war, es fehlt ihm die gewohnte Ordnung. Gestern Abend, als sie mit den Gästen zusammensaßen, hatte Max seine Tochter auf dem Schoß gehalten, ihr Leckereien zugesteckt und sie auf den Klaviertasten herumhämmern lassen. Er war vollkommen vernarrt in Elisabeth und bedauerte nur hin und wieder, dass sie Charlotte leider gar nicht ähnlich sehe, sondern ganz und gar nach seiner Familie schlage. Die Kleine hatte blonde Löckchen, und ihre hellblauen Augen erinnerten Charlotte an ihren verstorbenen Großvater. Auch ihr Vater sollte solche Augen gehabt haben, doch das hatte sie Max nicht erzählt.
»Ich glaube, ich muss mich beeilen«, sagte Agnes. »Die Träger stehen schon bereit.«
Sie klappte das hölzerne Stativ zusammen und überließ es dann Schammi, die teure Ausrüstung in mehrere Futterale aus Wachstuch zu stecken und auf die Träger zu verteilen. Max und Alexander von Bleiwitz hatten jetzt ihre Schießübungen beendet und gingen durch die Akazienallee zum Haus hinüber. Sie schritten eilig voran, und Charlotte sah, wie Alexander auf die Baumwipfel deutete, die voller Knospen hingen. Wahrscheinlich erzählte Max gerade von dem Überfall der Heuschrecken im vergangenen Jahr, den die Akazien zu seiner Erleichterung gut überstanden hatten.
»Wir sind bereit, Gnädigste«, rief Max ihnen fröhlich entgegen. »Wenn wir heute bis Moshi und noch ein Stück weiter kommen wollen, müssen wir jetzt losziehen.«
Er nahm die schlafende Elisabeth aus Charlottes Arm, und als die Kleine zu quengeln begann, stemmte er sie hoch in die Luft und drehte sich mit ihr im Kreis, dass das weiße Kleidchen flatterte. Die Kleine jauchzte, streckte sich und ruderte mit den Armen.
»Flieg, mein Engelchen!«, rief Max lachend. »Das nächste Mal nehme ich dich mit auf Safari. Dann zeige ich dir simba und die langhalsige twiga, und du wirst tembo sehen, den grauen Riesen.«
»Damit wirst du wohl noch ein wenig warten müssen«, meinte Charlotte lächelnd. »Erst muss sie sprechen und laufen lernen, darauf bestehe ich.«
Max beendete den Engelsflug und drückte seiner Tochter zwei zärtliche Küsse auf die vom Mangosaft verklebten Wangen, dann reichte er die Kleine an Hamuna weiter und zog Charlotte an sich.
»Du bist dumm, Liebling«, murmelte er, die Arme fest um sie geschlungen. »Elisabeth wird gut versorgt – wir könnten einige wundervolle Tage und Nächte in der Savanne verbringen. Weshalb sträubst du dich immer dagegen? Ich verspreche dir auch, kein einziges Tier zu schießen.«
»Das kann ich dir nicht zumuten, mein Schatz. Ich weiß doch, was für ein Nimrod du bist.«
»Aber es ist wirklich schade, gnädige Frau«, mischte sich Alexander von Bleiwitz ein. »Sie bringen sich um ein großartiges Erlebnis.«
»Ein andermal«, wich Charlotte aus. »Wir können die Plantage schließlich nicht einfach sich selbst überlassen. Wenn wir erst einen vernünftigen weißen Vorarbeiter gefunden haben, dann vielleicht …«
»Dann wirst du eine neue Ausrede finden«, seufzte Max und küsste sie zum Abschied auf die Stirn. Es war nur die Andeutung eines Kusses, eine flüchtige Berührung, die sie kaum spürte, ganz anders als sonst, wenn sie voneinander Abschied nahmen. Vermutlich störte ihn die Gegenwart des Ehepaars von Bleiwitz, das stets sehr distanziert miteinander umging.
Sie blieb bei Hamuna auf der Wiese stehen und sah zu, wie sich die Jagdgesellschaft zum Abmarsch bereit machte. Man hatte Maultiere für die drei Weißen gesattelt, auch einige Packtiere waren mit Zelten, Feldbetten, Kochtöpfen und anderen Dingen beladen worden, die schwarzen Begleiter gingen mit ihren Lasten zu Fuß. Ihnen würde später die Aufgabe zufallen, den Jägern das Wild zuzutreiben. Max wandte sich im Davonreiten noch einmal zu ihnen um, schwenkte ausgelassen den Arm, und Charlotte hob die Hand, um zurückzuwinken. Dann nahm Schammi ihre Aufmerksamkeit in Anspruch, der sich ganz am Ende des Zuges hielt, den Blick missmutig auf den vor ihm herlaufenden Juma gerichtet. Sie würde ihn sich einmal vorknöpfen müssen, diesen verwöhnten Burschen. Er wurde von Tag zu Tag schwieriger, ständig war er beleidigt, stritt sich mit den anderen Angestellten und erfand tausend Ausreden, einen ungeliebten Auftrag nicht ausführen zu müssen. Es war schade um ihn, denn er hatte gute Anlagen, eigentlich hätte er auf eine richtige Schule gehen müssen, aber Max hielt nichts davon. Schammi sollte auf der Plantage bleiben, er würde schon eine geeignete Aufgabe für ihn finden.
Elisabeth hatte noch eine Weile nach ihrem Papa geweint, jetzt war sie unter Hamunas leisem Zureden eingeschlafen und sah in den Armen der schwarzen Betreuerin wie ein rosiger, goldlockiger Weihnachtsengel aus. Hamuna hatte sich als verlässliche Kinderfrau erwiesen, auch wenn sie vieles auf ihre afrikanische Weise tat und nicht verstehen wollte, dass ein Kind einen regelmäßigen Tagesrhythmus brauchte. Sie hätte die Kleine am liebsten den ganzen Tag über mit sich herumgetragen, aber Charlotte und Max bestanden darauf, dass Elisabeth um die Mittagszeit für einige Stunden in ihr Bettchen gelegt wurde. Aus der Wiege, die Max für sie gebaut hatte, war sie längst herausgewachsen, und der Papa hatte mit Hingabe ein Kinderbett mit hölzernen Gittern angefertigt.
»Wollen kitoto in Gefängnis stecken«, hatte Hamnua kopfschüttelnd dazu bemerkt.
Es war noch früh am Morgen, aus den Pflanzungen stiegen zarte Nebelschleier und vereinigten sich mit dem Dunst, der die Felder der Dschagga und den Regenwald verhüllte. Seit Tagen hatten sich die Berggipfel nicht gezeigt, sie schienen dort hinter den Wolken zu warten, um sich irgendwann, völlig überraschend, wie ein phantastisches Geisterbild den Blicken zu offenbaren.
Charlotte riss sich von dem Anblick der davonziehenden Jagdgesellschaft los und wandte sich den anstehenden Arbeiten zu. Die Jäger würden eine gute Woche unterwegs sein, solange war sie Herrin der Plantage und für alles verantwortlich. Es gab allerdings außer den routinemäßigen Arbeiten nicht viel zu tun, die Kaffeebäume hatten zu blühen begonnen, und es musste nur hin und wieder Unkraut gejätet werden; die neuen Sisalpflanzen würde Max nach seiner Rückkehr in Angriff nehmen. Viel wichtiger war der große Gemüsegarten, der sich in diesem Jahr prächtig machte, nur das Apfelbäumchen hatte den Ansturm der Heuschrecken nicht überlebt, es war eingegangen.
Charlotte entschloss sich dennoch, einen Ritt durch die Pflanzungen zu unternehmen, sozusagen in Vertretung ihres Mannes, der jeden Morgen dort unterwegs war. Sie wollte vor allem nach den Sisal-Agaven schauen, an denen Max vor einigen Tagen gelbliche Flecken bemerkt hatte, deren Ursache er sich nicht erklären konnte. Hoffentlich war es kein Ungeziefer oder gar ein Pilzbefall, das hätte das Ende ihrer Hoffnungen bedeutet, schließlich sollte der Sisal in einigen Jahren zu ihrer einzigen Einnahmequelle werden.
Sie ließ sich von Sadalla und drei anderen schwarzen Angestellten begleiten und nahm ein Gewehr mit. Sie selbst hielt diesen Aufwand für überflüssig, aber Max hatte sie darum gebeten, nachdem einige Dschagga-Stämme im vergangenen Dezember Moshi angegriffen hatten. Die Nachricht war ein ziemlicher Schrecken für sie alle gewesen, schlimmer noch die darauf folgenden Strafexpeditionen der Schutztruppe. Von der Plantage aus hatten sie den Rauch der brennenden Hütten sehen können, auch hatte man die gerade erst wieder aufkeimenden Pflanzungen der Dschagga niedergetrampelt und abgebrannt. Max hatte diese Vorgänge zwar tief bedauert, aber letztlich für notwendig befunden. Rebellion arte stets in Mord und Gewalt aus, davor müssten die weißen Pflanzer, ihre Frauen und Kinder geschützt werden.
Charlotte schaute zuerst in der Arbeitersiedlung vorbei, besah sich ein durchgerostetes Wellblechdach und versprach, Abhilfe zu schaffen, dann bewunderte sie drei bunte Zicklein, die am Morgen auf die Welt gekommen waren. Vor allem redete sie den Frauen ins Gewissen, die ihren Nachwuchs so ungern in ihre Schule schickten, weil sie Lesen, Rechnen und Schreiben für überflüssige, ja sogar gefährliche Künste hielten, die nur für die Weißen gut waren, nicht aber für afrikanische Kinder. Sie erhielt zögerliche Versprechungen, die Frauen waren ihr wohlgesonnen, sie kamen inzwischen häufig mit ihren Kindern zum Wohnhaus, um sich mit Salben gegen Wunden und Geschwüre versorgen zu lassen. Aber Charlotte wusste aus Erfahrung, dass auf ihre Zusagen wenig Verlass war: Sie würden die Kinder für ein oder zwei Tage schicken, dann blieben sie wieder daheim.
Während sie langsam durch die Pflanzungen ritt, vergaß sie ihren Verdruss und genoss stattdessen den Anblick der aufblühenden Kaffeebäume, atmete ihren bittersüßen Duft und freute sich darüber, dass die Bananenstauden zwischen den Kaffeebäumchen wieder üppig emporschossen. Die große Regenzeit hatte in diesem Jahr ausgiebig Feuchtigkeit gebracht, was dem Kaffee gutgetan hatte, den Agaven allerdings weniger, sie liebten es eher heiß und trocken. Manchmal fragte sie sich, ob Max mit dem Sisal aufs richtige Pferd setzte, doch er war fest von der Richtigkeit seiner Entscheidung überzeugt. In diesem Jahr nun wollten sie endlich die erste Ernte einbringen – der Bedarf an Sisalfasern war groß, wenn sie gute Qualität liefern konnten, würde es mit ihren Finanzen bald besser aussehen. Max hatte im vergangenen Jahr Geld leihen müssen, um Mais, Saatfrüchte und Hirse einzukaufen, anders hätten sie die Arbeiter nicht ernähren können, die durch die Heuschreckenplage alle Feldfrüchte eingebüßt hatten. Auch viele Dschagga waren auf der Plantage erschienen und hatten um Arbeit und Essen gebeten; sie erzählten, dass ihre Frauen und Kinder hungerten, und so versuchte Max, so viele wie möglich von ihnen zu beschäftigen, doch ihre Vorräte konnten nicht für alle reichen.
Die Sonne brannte jetzt heiß vom Himmel, und sie war froh über den leichten Wind, der ihr die Schläfen kühlte. An schattigen Plätzen sah man noch die letzten Tautropfen auf den Blättern der Kaffeebäume; wenn ein Sonnenstrahl sie traf, funkelten sie in den bunten Farben des Regenbogens. Charlotte beschirmte die Augen mit der Hand und blickte über die sanft ansteigenden Anlagen, die sich bis hinauf zum Regenwald erstreckten. Auch das Land, das Max an die Dschagga hatte abgeben müssen, gehörte jetzt wieder zur Plantage, sie hatten es im Zuge der Strafexpeditionen gegen die Eingeborenen zurückerhalten. Früher hatte sie Max’ Besitzerstolz ein wenig belächelt, jetzt verspürte sie selbst eine ungeheure Freude beim Anblick dieses Landes, das ihnen beiden gehörte und das eines Tages ihre Kinder erben würden. Die viereckigen Kaffeefelder glichen lichten Hainen, in denen sich die hellgrün und gelb gefärbten Bananenstauden mit dem dunkleren Grün der Kaffeebäumchen mischten, an einigen Stellen waren ihre Äste schon mit weißem Blütenschaum überzogen. Ein Stück weiter hinten reckten silbrig glänzende Agaven ihre dornenbewehrten Blätter steil zum Himmel – ein fremdartiger Zauberwald, Refugium für graue Echsen und schuppenbewehrte Drachen. Wie seltsam, dass gerade diese unschönen Pflanzen, die man nicht einmal essen konnte, ihr Auskommen sichern, vielleicht sogar künftigen Wohlstand bringen würden.
Sie ritt bis an den Rand der Pflanzung und stieg ab, um die Blätter näher zu betrachten. Obgleich sie die Agaven von allen Seiten sorgfältig untersuchte, fand sie zunächst nichts bis auf ein paar braune Außenblätter, die flach am Boden verdorrten und wohl im Mai der Feuchtigkeit zum Opfer gefallen waren.
»Schau, bibi Roden! Uchawi, der böse Zauberer, ein Geist, hat Zeichen gemacht auf Blätter!«
Da waren sie! Gelbliche und hellbraune Flecke, einige sehr klein, andere liefen auseinander und schienen sich miteinander zu vereinigen. Die Oberfläche des Blattes war an diesen Stellen trocken wie Leder und fühlte sich rau an.
»Ein Geist war das sicher nicht, Sadalla. Aber vielleicht irgendein Schädling. Schneide dieses Blatt ab, wir nehmen es mit.«
Vielleicht war es auch die Sonne im Verein mit den Tautropfen, die noch an den Blättern gehaftet hatten? Aber der Tau lief eigentlich sehr schnell von den fleischigen Blättern ab, und außerdem hatten sie seit der Regenzeit erst einen guten Monat lang Sonne gehabt. Charlotte seufzte. Sie hätten so glücklich sein können, sie liebten einander, sie hatten ein bezauberndes Töchterlein, das prächtig gedieh. Aber die Sorge um die Existenz schien nicht aufhören zu wollen.
Während sie zum Wohnhaus zurückritt, schalt sie sich schon eine Närrin und nahm sich vor, Max auf keinen Fall mit solchen vermutlich vollkommen unbegründeten Ängsten zu belasten. Wer sagte denn, dass diese gelben Flecke sich ausbreiten würden? Sie waren ja nur vereinzelt zu sehen und auch nur an den äußeren Blättern. Wahrscheinlich war das Ganze völlig unerheblich, der harten Faser im Inneren des Blattes konnten sie nichts anhaben.
Die Akazienallee war in der Sonne aufgeblüht und erschien aus der Ferne wie ein Reihe bauschiger, karminroter Wölkchen. Max würde sich bei seiner Rückkehr wie ein Schneekönig freuen, er liebte seine Akazien und hatte sie schon gepflanzt, bevor er daranging, das Wohnhaus des Arabers umzubauen.
Wohlgerüche verschiedenster Art umfingen sie, als sie die Stufen zum Vorbau hinaufstieg. Der Duft der Akazien war überwältigend, zart, voll wilder Süße, und zugleich strömte auch aus der Küche ein aufregendes Aroma von Zimt, Vanille und Muskatblüte. Der Koch hatte die Anweisung erhalten, während der Abwesenheit des bwana kein Fleisch zu braten, denn wenn Max mit dem Ehepaar von Bleiwitz zurückkehrte, würde noch so manches Schweinchen und Zicklein dran glauben müssen. Also wurden Samosas mit Gemüsefüllung serviert und dazu allerlei köstlich gewürzte Soßen, die der indische Koch immer auf andere Art und doch jedes Mal wundervoll zubereitete. Man hatte auch den Wohnraum wieder in Ordnung gebracht, wo Agnes heute früh einige fotografische Aufnahmen versucht hatte, die leider aus Mangel an Licht nichts geworden waren. Später hatte sie Charlotte und Max unter dem Vordach des Hauses aufnehmen wollen, doch Max war viel zu ungeduldig gewesen und davongelaufen, um die Träger zusammenzurufen. So hatte sie nur Charlotte fotografiert, die ihre Tochter Elisabeth auf dem Arm hielt, und außerdem mehrere Fotos von der Kleinen mit ihrer Kinderfrau Hamuna geschossen.
Den Rest des Tages verbrachte Charlotte in rastloser Tätigkeit. Sie hielt ihre Schulstunden ab, grub im Garten, spielte mit Elisabeth auf der Wiese, besah die Fortschritte am Bau des neuen Gästehauses, das auch als Wohnung für einen weißen Vorarbeiter dienen sollte, erstellte eine Liste der Dinge, die bei nächster Gelegenheit in Moshi eingekauft werden mussten, außerdem schrieb sie einen Brief an Klara und bat sie, in Daressalam Erkundigungen über die Erfahrungen der dortigen Agavenpflanzer einzuziehen. Am Abend fühlte sie sich zwar erschöpft, aber keineswegs müde, wie sie gehofft hatte, und sie begriff, dass sie nur deshalb so rastlos war, weil sie Max schon jetzt unendlich vermisste. Es war lächerlich, aber es ging ihr jedes Mal so, wenn er die Plantage für einige Tage verließ. Sie hatte es ihm einmal gestanden, wofür er sie leidenschaftlich umarmt und zugleich fürchterlich ausgelacht hatte. Er selbst schien unter der Trennung weniger zu leiden, angeblich fühle er sich ihr nah; ganz gleich, wo er sich befand, in seinen Gedanken sei er immer bei ihr.
Aus dem Badezimmer ertönten Geplantsche und Gejauchze – Hamuna badete Elisabeth, dann musste die Mama ein Stück auf dem Klavier vorspielen, das die Kleine schweigend und mit großem Interesse anhörte. In ihr Bettchen wollte sie nicht, was Hamuna sehr wohl verstehen konnte, also durfte sie auf einer weichen Decke vor dem Kamin herumkrabbeln und schlief dort nach einer Weile ein.
Charlotte war ruhelos, saß in ihrem Zimmer am Schreibtisch und plante die kommenden Tage, an denen sie allerlei Arbeiten erledigen würde, die Max normalerweise störten. Die hölzernen Dielen mit rauen Steinen blank scheuern, die Vorhänge waschen, seine Jagdtrophäen von der Wand nehmen und entstauben. Sie zog ein Büchlein aus der Schublade hervor, in das sie seit Elisabeths Geburt täglich allerlei Begebenheiten eintrug und dem sie auch Zeichnungen von ihrer Tochter, eine Haarlocke und ein paar gepresste Blüten beigefügt hatte. Max wusste nichts davon, sie würde die Zeit nutzen, um die Buchdeckel hübsch mit buntem Stoff einzubinden, denn sie wollte ihm das Büchlein im November zum Geburtstag schenken. Die heutige Eintragung geriet nicht nach ihrem Gefallen, und sie ärgerte sich, dass sich ihre schlechte Stimmung auf die Seiten übertrug, die doch ein heiterer Rückblick auf das erste Jahr ihres Kindes sein sollten.
Hamuna trug die schlafende Elisabeth ins Bettchen und ging dann hinüber in ihre Unterkunft; auch Charlotte beschloss, schlafen zu gehen. Sie verriegelte die Türen, zog die Vorhänge zu und machte sich nachtfertig, wohl ahnend, dass sie nur schwer Schlaf finden würde. Draußen war es mondhell, Zikaden sangen ihr schrilles, eintöniges Lied, unten am Teich quakten die Frösche. Eine Weile jagte sie einigen lästigen Insekten nach, erwischte jedoch nur einen unschuldigen Nachtfalter, dann gab sie es auf und nahm sich die Deutsch-Ostafrikanische Zeitung vor, die vor einigen Tagen mit der Post gekommen war. Doch die Buchstaben schwammen vor ihren Augen, so dass sie das Blatt schließlich fortlegte und die Lampe löschte.
Sie spürte ihr Herz klopfen, hörte die raschen unruhigen Schläge im Kopfkissen, ganz gleich, ob sie auf der Seite oder auf dem Rücken lag. Als ihr die Augen endlich zufielen, sah sie einen Zug dunkler Gestalten, Menschen, Tiere und auch andere Wesen, die weder das eine noch das andere waren, einige trugen gezackte Flügel, andere hatten zarte Beinchen wie große Spinnen, die sie ruckartig in genau festgelegter Reihenfolge bewegten, immer eins nach dem anderen.
Später sagte man ihr, es sei unmöglich gewesen, die Reiter waren noch viel zu weit entfernt. Doch Charlotte war sich sicher, vom Schnauben eines Pferdes aufgewacht zu sein. Sie wusste nicht, weshalb sie schweißgebadet aus den Kissen fuhr und die Vorhänge aufriss, es gab keinen Grund dafür außer dem wilden, verzweifelten Flattern ihres Herzens. Es war früher Morgen, die Nebel, die den Berg verbargen, glühten rosig, eine Schar grauer Vögel erhob sich aus den Eukalyptusbäumen, als habe sie dort etwas aufgeschreckt.
Auf bloßen Füßen eilte sie zur Eingangstür, schob mit zitternden Händen den Riegel zurück und öffnete die Tür. Der Duft der Akazien schlug ihr entgegen, schwer und betäubend wie süßer Honig, die Blüten leuchteten hellrot, als stünde die Allee in Flammen. Am Ende des Weges warteten zwei Männer, die eine Last zwischen sich trugen, neben ihnen das Ehepaar von Bleiwitz.
Wie in Trance stieg Charlotte die Stufen hinab, zunächst langsam, setzte tastend Fuß vor Fuß, glaubte noch, einen bösen Traum zu erleben. Dann begann sie zu rennen, barfuß, mit aufgelöstem Haar, im flatternden, weißen Nachthemd.
»Wir haben gehofft, dass er es noch schafft«, hörte sie Alexander von Bleiwitz stammeln. »Er wollte auf seiner Plantage sterben.«
Max’ Körper war unversehrt, nur sein Gesicht hatte einen harten Zug, den es im Leben niemals gehabt hatte.
»Eine schwarze Mamba. Lag im hohen Gras, er ist direkt auf sie getreten. Ich habe das Biest mit drei Schüssen erledigt, aber da war es schon zu spät …«
Sie hörte sich schreien, wild und fremd, es waren Töne, die noch nie zuvor aus ihrer Kehle gedrungen waren. Sie spürte das starre, schon erkaltete Gesicht ihres Mannes unter ihren tastenden Händen, küsste seine toten Lippen, fuhr mit den Fingern durch sein Haar. Als die Männer versuchten, sie von dem Toten zu trennen, schlug sie um sich wie eine Furie.
»Liebste, Sie dürfen sich nicht so gehen lassen«, sagte Frau von Bleiwitz. »Denken Sie doch an Ihr Kind.«