24. KAPITEL

Oliver beobachtete Jane durch den Spalt in der Schranktür. Der Griff des Messers begann langsam unangenehm klebrig zu werden. Noahs Blut trocknete. Das Gefühl mochte er nicht. Er sehnte sich danach, es abzuwaschen, wollte seine Fingernägel schrubben. Aber er konnte hier nicht rausgehen, sonst entdeckte Jane ihn. Dazu war es zu früh. Er hatte noch nie vorher jemanden am helllichten Tag getötet, hatte noch nie so viel Zeit dafür gehabt. Außer dass er darüber nachdenken müsste, wie er auf seine Eltern und Wendy einwirken würde, war die ganze Sache viel zu einfach gewesen. Und … fast enttäuschend.

Bis er Jane die Haustür aufschließen hörte.

Würde sie großes Getue um ihren Liebhaber machen? Heulen?

Er kniff ein Auge zu und lehnte sich weiter zu dem Spalt in der Tür vor. Da stand sie, kreidebleich, als würde sie jeden Moment in Ohnmacht fallen.

Oliver musste grinsen, als er an die Überraschung dachte, die auf sie wartete …

Jane wusste nicht, was sie tun, wen sie anrufen sollte. Ihr brach der kalte Schweiß aus, sie bekam kaum noch Luft.

Sie wich vom Bett zurück, schloss die Augen und drehte sich zur Wand um. Aber das Bild hatte sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Noah … Er musste Oliver alles gestanden haben. Und Oliver hatte das getan.

Aber wie?

Jane ging mit zittrigen Knien zurück zum Bett, nahm die Decke, die sie eben schnell fallen gelassen hatte, mit spitzen Fingern wieder hoch und zog sie weiter herunter. Sie wollte nicht mit Noahs Blut in Berührung kommen. Sie fürchtete, dass es noch warm war. Das hier konnte erst vor Kurzem passiert sein. Alles sah noch so frisch aus, es roch sogar frisch.

Noah lag auf der Seite, mit dem Gesicht zu ihr. Es war ein Rätsel, wie Oliver seinen Bruder in das Bett bekommen hatte, da Noah viel größer war. Aber er lag in einer merkwürdig verdrehten Position. Oliver musste ihn irgendwie ins Schlafzimmer gelockt und dann, während er nichts ahnte, erstochen haben. Als Jane sich vorlehnte, konnte sie die Einstiche in seinem Rücken sehen. Es mussten mindestens fünfzehn oder zwanzig Wunden sein. Als wenn Oliver seinen Bruder gehasst hätte …

Sie stand eine Weile zitternd da. Dann sagte sie sich, sie müsste das Messer suchen. Von der Gerichtsverhandlung wusste sie noch, dass die Tatwaffe wichtig war. Aber sie konnte nicht hinsehen. Sie begann zu würgen. Zuerst war es nur ein trockener Brechreiz, aber dann stieg die gallenbittere Flüssigkeit in ihre Kehle, und sie musste ihren Magen auf dem Teppich entleeren.

Oliver hatte Noah ermordet. Genauso wie er diese Frauen am American River getötet hatte. Detective Willis hatte ihr von den Frauen erzählt. Sie waren vergewaltigt worden, bevor man sie umgebracht hatte. Ihnen war die Kehle durchgeschnitten worden, es waren keine Stiche im Rücken gewesen. Aber sie waren genauso durch Olivers Hand gestorben.

Diese Brutalität – die Realität – drehte ihr den Magen um.

“Mom? Was ist denn passiert?”

Kates Stimme kam aus dem vorderen Zimmer. Sie war aus dem Wagen gestiegen und hatte das Chaos entdeckt.

Jane stakste zur Wand, wo sie sich erst einmal abstützen musste. Dann holte sie ein paarmal tief Luft und wappnete sich, kämpfte gegen die Übelkeit an, die wieder in ihr hochstieg. Sie wollte nicht, dass ihre Tochter sah, was im Schlafzimmer passiert war. Sie wollte nicht, dass Kate erfuhr, wie brutal ihr Vater sein konnte.

“Bleib … bleib bitte da, wo du bist, Kate!” Ihre schwache Stimme verriet, wie zittrig sie sich fühlte. Aus ihrem ganzen Körper war sämtliche Kraft gewichen. Aber sie schaffte es, das Schlafzimmer zu verlassen und in die Diele zu gehen. “Ich komme.”

“Wo ist Daddy? Ist Daddy krank?”

“Nein, er … Ihm … geht es gut.” Jane stakste den Flur entlang und musste erst einmal nach Atem ringen. Sie konnte sich mit den weichen Knien kaum aufrecht halten. Aber sie wusste, sie musste etwas tun, und zwar sofort. Dabei konnte sie überhaupt keinen klaren Gedanken fassen. Erinnerungsfetzen schwirrten ihr durch den Kopf: Noah, der ihr sagte, dass er sie liebte; Olivers Anrufe aus dem Gefängnis; wie sie in Olivers Zimmer im Krankenhaus stand; das Gespräch mit Detective Willis vor dem Friseursalon; wie sie Skye im Fernsehen sah, die härtere Gesetze gegen Gewaltverbrecher forderte; das Blut auf dem Laken des Bettes, in dem sie mit dem Mann gelegen hatte, der jetzt tot war. Und mit dem Mann, der ihn getötet hatte …

“Mommy?” Kate kam auf sie zu gelaufen. “Ist dir schlecht?”

Jane brachte ein zittriges Lächeln zustande, dankbar für die kleine Unterstützung ihrer Tochter, als diese ihr die dünnen Ärmchen um die Taille schlang.

“Wo ist Daddy?”

“Weggegangen.” Zumindest der Mann, den sie kannte, war nicht mehr da. Vielleicht hatte er ja auch nie existiert. Womöglich war er lediglich eine Projektion dessen, was sie sich gewünscht hatte. Der wahre Oliver Burke hatte sich in dieser freundlichen, zurückhaltenden Schale verborgen. Er hatte auf diese Weise fast alle für dumm verkauft, er hatte sie jahrelang getäuscht.

Kate sah sie verwirrt an. “Aber sein Auto ist hier.”

“Er muss wohl Noahs Wagen genommen haben.” Die Erwähnung von Noah brachte ihr sofort wieder den Anblick in Erinnerung, der sich ihr gerade im Schlafzimmer geboten hatte. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht wieder zu würgen. Jane schluckte mühsam, presste die Lider zusammen und gab ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirn. Sie konzentrierte sich darauf, dass ihre Tochter gesund und am Leben war. “Wir müssen gehen.” Bevor dein Vater zurückkommt

“Aber wir sind doch gerade erst nach Hause gekommen! Ich will mit Lara spielen!”

Die Verwirrtheit und Angst in Kates Gesicht halfen Jane, sich zusammenzureißen. Sie wusste, sie war nicht die beste Mutter der Welt gewesen. Seit Kates zweitem Lebensjahr hatte sie sich von ihrem eigenen Kummer und dem ständigen Kampf, jeden neuen Tag zu überstehen, auffressen lassen. Doch wenn es ihr nur irgendwie möglich war, würde sie Kate vor diesem hier beschützen.

“Dein Onkel Noah hatte einen Unfall. Wir müssen Hilfe holen.”

“Lass sie zu Lara gehen. Ich glaube, da wird sie mehr Spaß haben als hier, nicht wahr?”

Oliver. Bei Jane richteten sich die Nackenhaare auf, als sie spürte, dass ihr Ehemann hinter ihr stand. Sie versteifte sich und ließ Kate los. Dann trat sie ein paar Schritte zurück, um sich zwischen Kate und ihren Vater zu stellen. Sie hatte schreckliche Angst, die Spitze des Messers zu spüren, mit dem er Noah getötet hatte. Aber noch größer war der Horror davor, dass er womöglich Kate damit etwas antat. Kate durfte nichts davon sehen. Niemand war ihm heilig, keiner vor ihm sicher. Das war Jane inzwischen klar.

“Daddy, du bist ja da?” Kate drehte sich um und lächelte ihn an. Der Anblick schnürte Jane die Kehle zu. Bitte, lieber Gott, nicht sie! Vielleicht habe ich es verdient, aber sie nicht!

“Natürlich bin ich hier, meine Kleine.” Er legte Jane eine Hand um die Taille, damit sie dort blieb, wo sie war. Jane war sich ziemlich sicher, dass er das Messer in der anderen Hand hielt. “Es ist alles in Ordnung”, sagte er zu Kate. “Ich werde Hilfe für Onkel Noah holen, und Mom kann schon mal anfangen aufzuräumen, okay? Und du geh ruhig spielen.”

Kate schien zu bemerken, dass irgendetwas nicht stimmte. “Wo ist denn Onkel Noahs Auto?”

“Ich habe ihn abgeholt. Später werde ich ihn wieder nach Hause bringen.”

Leicht verwirrt sah ihn Kate mit ihren grauen Augen an. Aber Jane mischte sich schnell ein, bevor die Kleine darum bitten würde, zu Noah gehen zu dürfen. “Geh schon mal los. Wenn du zu lange wartest, kommst du zu spät. Und wenn ihr fertig mit Spielen seid, dann rufst du deine Grandma an, dass sie dich abholt.”

“Seid ihr dann nicht zu Hause?”

“Ich muss arbeiten”, antwortete Jane.

Kate zögerte nur einen kurzen Augenblick, als ihr nun die Möglichkeit geboten wurde, das zu tun, was sie schon die ganze Zeit wollte. Ein Lächeln erschien auf ihrem runden Gesicht, dann rannte sie aus dem Haus. “Tschüss!”, rief sie, bevor sie die Tür zuknallte.

“Auf Wiedersehen”, flüsterte Jane. Da umfasste Oliver sie fester und zog sie an sich.

“Du wirst alt und fett, weißt du das, Jane?”, hauchte er ihr ins Ohr. “Alt und fett, das ist nicht besonders anziehend.”

Sie schloss die Augen. Was kümmerte es sie, ob sie alt und fett wurde? Es war vorbei. Sie hatte einen Man geheiratet, der sie nach und nach zerstört hatte, von innen nach außen. Und nun beendete er, was er angefangen hatte.

“Und außerdem stinkst du”, fügte er hinzu. “Ich hasse Zigarettenrauch.”

Sie ignorierte seine Gehässigkeiten. “Warum?”, sagte sie leise.

“Warum ich dich töten werde?”

“Warum hast du mich überhaupt geheiratet?” Ganz sicher nicht, weil er sie liebte. Sie glaubte nicht, dass Oliver jemals in der Lage gewesen war, jemanden zu lieben, auch damals nicht. Der einzige Mensch, der ihm etwas bedeutete, war er selbst.

“Nachdem ich erfahren habe, was du hinter meinem Rücken mit Noah getrieben hast, musste ich mich das selbst auch fragen. Er wartet jetzt auf dich, musst du wissen. Im Schlafzimmer. Er will wieder Sauereien machen. Aber diesmal werde ich zusehen. Niemand macht mich mehr zum Gehörnten! Keine Lügen mehr. Mal sehen, wie sehr du dich jetzt nach ihm sehnst, Jane. Mal sehen, wie er ihn für dich hochkriegt.”

Jane erschauerte bei der Vorstellung, zu dieser grausigen Szene zurückzukehren. “Oliver, bitte nicht”, flehte sie. “Damit wirst du nicht davonkommen, das ist dir doch klar, oder? Detective Willis wird dich verfolgen. Er bringt dich wieder ins Gefängnis zurück.”

“Mach dir keine Sorgen, Jane. Ich habe schon alles vorbereitet. Das tu ich doch immer.”

“Das wird nicht helfen.”

“Oh ja, das wird es. Wenn du nicht richtig planst, scheiterst du.” Er hob die Hand und kniff ihr in die Brust – schmerzhaft, so wie gestern, als er sie gefesselt hatte. “Ich werde schon weg sein, bevor Detective Willis überhaupt merkt, dass du tot bist. Und Kate wird bei mir sein.”

Er hatte Blut an den Händen. Janes Blut.

Oliver benutzte die Bürste, die er unter dem Handwaschbecken im Badezimmer aufbewahrte, um seine Knöchel und Fingerspitzen zu schrubben. Aber es wollte nicht richtig sauber werden. Jedes Mal, wenn er den Wasserhahn abstellte und nach dem Handtuch griff, bemerkte er noch mehr Blut unter den Nägeln. Oder am Hals, auf den Armen.

Er sah in den Spiegel. Na bitte! Es klebte in seinem Haar. Als er sie erstochen hatte, war das Blut überallhin gespritzt.

Er erschauerte, wollte es so schnell wie möglich loswerden. Janes Tod war hässlich gewesen, nicht so reibungslos und schnell wie bei den anderen. Auch nicht besonders befriedigend, so wie bei diesem Schlägertypen, den er bestraft hatte, weil er ihn in der Schule dauernd angepöbelt hatte. Sie hatte gekämpft wie eine Löwin, hätte ihn einmal fast sogar überwältigt. Das hatte er nicht erwartet.

Er spürte immer noch die Panik, erinnerte sich an ihren kräftigen Griff. Beinahe hätte sie ihm das Messer entrissen. Davor hatte sie nach Willis und Skye Kellerman geschrien, als würden die sich um sie scheren. Als würden die sie retten. Dann hatten ihre Augen plötzlich wütend gefunkelt, und sie hatte gerufen: “Das ist für Kate!” Und bevor er es verhindern konnte, hatte sie ihm eine kräftige Wunde mit seinem eigenen Messer zugefügt.

Diese Sauerei gefiel ihm gar nicht, aber er hatte es verdient. Es war nicht gut geplant gewesen, nicht gut genug. Er hatte nicht erwartet, dass sie so hereinplatzte.

Er hatte gepfuscht. Und jetzt war er wütend und konnte sich nicht beruhigen. Er würde das aufschreiben müssen, um herauszufinden, wie er es besser machen könnte.

Das würde er tun. Es würde gehen. Er hatte genug Zeit, um alles in Ordnung zu bringen.

Aber diese Stichwunde in seiner Brust regte ihn auf. Sie blutete so stark, dass er nicht mehr wusste, welches Janes und welches sein Blut war. Und es tat weh. Alles drehte sich, ihm war übel – wahrscheinlich weil er immer noch nicht richtig zu Kräften gekommen war. Er hatte sich immer noch nicht ganz von dem erholt, was T.J. ihm angetan hatte.

Ich bringe dich um! Du hast mein Leben ruiniert! Janes Worte hallten noch in seinem Kopf wider. Sie hatte ihn gehasst, hätte ihre Drohung wahr gemacht, wenn sie gekonnt hätte. Diese Wut hatte ihn überrascht. Denn er hätte gedacht, sie wäre die Frau, die ihn ewig liebte, die immer zu ihm halten würde.

Hatte sie ihm die ganze Zeit etwas vorgemacht? So wie die anderen, die freundlich lächelten, wenn er vor ihnen stand, sich aber hinter seinem Rücken mit ihren Freunden über ihn lustig machten?

Er war sich nicht sicher. Alles schien so verzerrt. Er konnte die Realität nicht mehr von der Illusion unterscheiden. War sich nicht mal sicher, ob er sie überhaupt getötet hatte. So etwas würde er doch nicht tun, oder? Er würde doch Janey nicht töten! Dann hätte er ja niemanden, der sich um Kate kümmerte! Dann würde er das, was er verloren hatte, nicht mehr zurückgewinnen können.

Er hatte einen Fehler gemacht. Oder vielleicht war es nur ein böser Traum. Er hatte geträumt, dass er Noah auch getötet hätte. Er hatte seinen Bruder gebeten, mit ihm eine Runde zu fahren. Hatte ihn zu sich nach Hause eingeladen und dann ins Schlafzimmer gelockt. Angeblich hatte er die Diamantohrringe, die Noah Wendy zu Weihnachten geschenkt hatte, in Janes Schmuckkästchen gefunden. Und dann hatte er ihn von hinten erstochen. Noah war vollkommen überrumpelt gewesen. Er stöhnte auf, drehte sich um und sah Oliver an, bevor er umkippte. Das war alles.

Oliver ärgerte sich, dass es so einfach gewesen war. Dass sein großer Bruder einfach innerhalb von Sekunden sterben konnte. Noah, der immer so stark und selbstsicher gewesen war, immer im Vertrauen auf sich und andere. Da hatte er wieder und immer wieder auf ihn eingestochen und versucht, etwas Genugtuung daraus zu ziehen.

Jane war viel schwieriger gewesen. Das zeigte ihm, dass alles ein Traum gewesen sein musste. Jane war schließlich die Schwache.

Er blickte mit zusammengekniffenen Augen auf ein paar Tropfen auf dem Boden. Woher kam nur das ganze Blut?

Er musste sich wieder umziehen. Dabei hatte er schon zweimal die Hemden gewechselt, aber er wurde nicht sauber. Einmal sah er hin, da war alles in Ordnung. Dann sah er noch mal hin, und schon wieder Blut!

Vielleicht sollte er noch einmal duschen …

“Mommy?”

Oliver erstarrte. Kate war zurück.

“Mommy?”, rief sie von der Tür her. “Laras Mom möchte sich die Haare machen lassen! Kann Lara solange bei uns bleiben und noch ein bisschen mit mir spielen?”

Oliver wartete, dass Jane ihr antwortete. Sag etwas, verdammt noch mal! Sag ihr, dass Lara bleiben kann. Das macht uns nichts aus. Wir sind freundliche Nachbarn, Leute, denen man ruhig vertrauen kann.

Aber Jane sagte nichts. Sie lag einfach nur neben Noah im Bett, sodass Lara und ihre Mutter das Schlimmste vermuten mussten.

“Mommy?”

Kate kam den Flur entlang Richtung Schlafzimmer. Er musste etwas tun, sonst würde Kate ihm noch Ärger machen.

“Daddy?”

Schließlich bewegte sich Oliver, um seiner Tochter entgegenzugehen, bevor sie noch hier hereinplatzte. Aber als er aus dem Zimmer kam, sah er, dass sie gar nicht mehr weitergelaufen war. Sie stand vollkommen still da und starrte auf den roten Fleck an der Wand.

Jane hatte so eine Unordnung gemacht! Sie war nie so ordentlich gewesen wie er. Seine Mutter pflegte zu sagen, er sei immer wie aus dem Ei gepellt.

“Hast du dir wehgetan?”, fragte Kate beunruhigt, als sie ihn sah.

“Meine Wunde hat wieder angefangen zu bluten.” Er zuckte gleichgültig die Schultern und sah auf den Blutfleck, den sie mit großen Augen anstarrte. “Nichts Schlimmes.”

“Ach so.” Sie seufzte erleichtert, sah aber immer noch besorgt aus. “Brauchst du einen Verband?”

“Ich habe schon einen.”

Sie lächelte breit. “Gut. Wo ist Mommy?”

“Sie schläft.”

“Ach so.” Sie schob sich die Brille auf ihrer kleinen Nase ein Stück höher. “Kann Lara eine Weile hier bei uns bleiben?”

Er wollte Ja sagen. Denn er war ja ein guter Nachbar. Aber da war dieses viele Blut. Und das könnte ein Problem werden. “Nein, heute nicht, mein Schatz.”

“Warum denn nicht?”

Weil er die Schweinerei beseitigen musste. Und Noah und Jane aus dem Haus schaffen. “Wir fahren weg.”

“Wo fahren wir denn hin?”

“Du wirst zu Grandma gehen. Ich habe ein paar Erledigungen zu machen.”

“Aber ich habe Hunger. Mommy hat mir heute Morgen nur einen Donut gekauft.”

“Wir werden dir unterwegs einen Hamburger besorgen.”

Als sie nichts sagte, fürchtete er schon, sie würde ihn anbetteln, hierbleiben zu können. Aber sie warf noch einen Blick auf das Blut an der Wand und ging dann nach draußen, um ihrer Freundin die Antwort mitzuteilen.

“Ich brauche Geld, um uns was zum Mittag kaufen zu können”, sagte er laut, um sich selbst daran zu erinnern, wie er weitermachen musste.

Er ging ins Schlafzimmer zurück, um seine Brieftasche zu holen. Und dort wurde es ihm mit einem Schlag bewusst. Es war kein Traum gewesen heute Vormittag. Jane und Noah waren wirklich tot. Und er hatte sie umgebracht. Er hatte ihre Leichen ins Bett geschleift. Das Messer lag immer noch auf dem Boden.

Oliver hob es auf und säuberte es sehr sorgfältig. Sein Bruder und seine Frau waren nicht mehr da, aber es war nicht seine Schuld. Das hätte er niemals getan, wenn sie ihn nicht hintergangen hätten. Und wenn Skye nicht gewesen wäre, hätten sie ihn nie betrogen. Skye trug an allem die Schuld. Sie erschien in seinem Tagebuch öfter als jeder andere, oder nicht? Sie war es, nur sie …

Er nahm das Stück Papier mit ihrer Adresse aus der Tasche der Hose, die er schon in den Wäschekorb gelegt hatte. Dann faltete er es sorgfältig zusammen und steckte es in seine Brieftasche. Sie hatte ihn gezwungen, die Menschen zu töten, die als Einzige zu ihm gehalten hatten. Wie böse und destruktiv das war! Sie verdiente es, zu sterben. Das hatte er schon immer gewusst.

Warum war sie dann noch immer am Leben?

Zu dumm, dass sein altes Messer auf dem Grund des American River lag. Es wäre so befriedigend gewesen, es jetzt zu haben! Es wäre ausgleichende Gerechtigkeit gewesen.

Es wurde Zeit, es ihr heimzuzahlen – alles, was sie angerichtet hatte.

Skye saß im Büro, als David sich endlich meldete. Sie hatte eigentlich arbeiten wollen. Nachdem sie Jonathan von der Entdeckung Sean Regans Leiche berichtet hatte, versicherte er ihr, Tasha Regans Schuld und die Mittäterschaft ihres Liebhabers beweisen zu können. Doch seit sie Davids Wohnung verlassen hatte, wartete sie nervös auf seinen Anruf.

“Was ist passiert?”, fragte sie.

“Ich bringe Jeremy nach San José. Er wird ein paar Tage bei seinen Großeltern bleiben, bis wir … alles geregelt haben.”

Da Jeremy in seinem Wagen saß, konnte David nicht offen sprechen. Skye spürte, dass er sich zurückhielt, um nicht zu viel zu verraten. Doch was er gesagt hatte, war genug. Wenn er Jeremy an einen sicheren Ort brachte, weg von Lynnette, musste sich Skyes Verdacht wohl bestätigt haben.

In Anbetracht der Konsequenzen würden die nächsten Tage nicht einfach werden. “Hat sie gestanden?”

“Mehr oder weniger.”

Egal, was David für seine Exfrau empfand, es musste ihm Jeremys wegen das Herz brechen. “Es tut mir ehrlich leid.”

“Ich weiß.” Er senkte die Stimme. “Und das ist einer der Gründe, warum ich dich liebe.”

Skye hielt den Atem an. Diese Worte waren so unerwartet gekommen, so plötzlich. Aber er meinte sie ernst, das spürte sie. “Trotz all dem?”

“Vorher, währenddessen und danach. Sie muss es wohl gewusst haben, bevor es mir klar wurde.”

“Sie wollte mich loswerden.”

“Sie kann nun nichts mehr anrichten. Tiny … Detective Wyman”, korrigierte er sich. “… hat sie in Gewahrsam.”

“Er hat sie schon verhaftet?”

“Ja. Und er bleibt bei ihr und hilft ihr während der ganzen Prozedur.”

Skye lehnte sich zurück und stützte den Kopf gegen die Rückenlehne. “Wie kann ich helfen?”

“Sieh einfach zu, dass dir nichts passiert, solange ich weg bin.”

“Mir geht es gut. Mach dir keine Sorgen.” Sie dachte an das Baby und verspürte zum ersten Mal ein unbändiges Bedürfnis, es ihm zu sagen. Irgendwie schien es jetzt richtig zu sein. Vielleicht weil es inmitten all der Verwirrungen und des Kummers so etwas wie Hoffnung darstellte.

“David?”

“Ja?”

Sie presste die Fingernägel in ihre Handflächen. “Du hattest mich doch gefragt, ob ich sicher weiß, dass ich nicht schwanger bin?”

“Jaaa”, sagte er lang gezogen.

Jetzt war es zu spät, einen Rückzieher zu machen. Aber die Angst, dass er über das Baby gar nicht glücklich sein könnte, stieg erneut in ihr auf. “Ich war nicht wirklich sicher. Jetzt habe ich … einen Test gemacht.”

“Was willst du damit sagen?”, fragte er vorsichtig. “Besteht immer noch die Möglichkeit?”

Skye holte tief Luft und presste sich die Hand gegen die Brust, wo ihr Herz heftig klopfte. “Also … mehr als das.”

Schweigen.

“David?”

“Ich bin noch dran.”

“Ich habe es dir nicht gesagt, weil ich nicht wollte, dass du dich verpflichtet fühlst. Es ist einfach nur … so aufregend”, gestand sie. “Ich will dieses Kind wirklich, auch wenn du es nicht willst. Dann ziehe ich es alleine groß.”

“Und wo bleibe ich dann?”

“Wo immer du sein willst. Es ändert überhaupt nichts.”

Keine Antwort. Sie biss sich auf die Lippe, bis es wehtat. Plötzlich bereute sie, es ihm gesagt zu haben. “Bist du wütend?”

“Nein … ich … Es kommt so überraschend, das ist alles. Aber ich bin nicht unglücklich deshalb. Es war ja sowieso nur eine Frage der Zeit.”

“Es ist zu früh?”

Er lachte. “Es ist zu früh, aber das ist schon in Ordnung. Nur ein Problem gibt es dabei.”

Sie schluckte. “Und das wäre?”

“Ich wünschte mir schon …” Er senkte die Stimme. “Du weißt schon … dass es meinen Namen trägt.”

Sie wusste, worauf er hinaus wollte, und musste unwillkürlich lächeln. “Das würde ja bedeuten, dass ich deinen Namen auch tragen müsste.”

“Genau. Gibt es diesbezüglich irgendwelche Beschwerden?”

Sprachen sie tatsächlich vom Heiraten? Nachdem sie ihre Gefühle so lange verdrängt hatten? “Ich weiß nicht. Ich würde diese Art von Verbindung nicht nur wegen des Babys eingehen wollen.”

“Offensichtlich ist dir nicht klar, was ich für dich empfinde.”

Und das ist einer der Gründe, warum ich dich liebe … “Was ist mit Jeremy?”

“Das würde einige Veränderungen mit sich bringen.”

“Ich weiß. Deshalb fühle ich mich nicht gut dabei.”

“Glücklicherweise denke ich, dass es eine willkommene Ablenkung für ihn wäre. Es ist nichts gegen ein paar mehr Leute einzuwenden, die man lieben kann.”

Alles, was er sagte, war so richtig! Sie konnte nur hoffen, dass er es auch ehrlich meinte. “Wann wirst du es ihm sagen?”

“Das machen wir zusammen, in ein oder zwei Monaten. Wenn wir uns alle erst mal besser kennengelernt haben und die Situation … geklärt ist.”

Skye wollte es kaum glauben. Nachdem sie niemandem mehr vertraut hatte, war sie von einem Moment auf den anderen bereit, den größten Schritt ihres Lebens zu tun. Was bedeutete, dass sie wirklich jemandem vertraute. Sie vertraute ihm.

Das Einzige, was ihr zu denken gab, war ihr Job. Sie sah sich im Büro um, hörte Sheridan nebenan telefonieren und musste sich eingestehen, dass sie The Last Stand ebenfalls liebte. Sie würde ihre Arbeit gern fortführen, zumindest in gewisser Form. Allerdings war sie sich sicher, dass David die damit verbundenen Gefahren überhaupt nicht gefielen. Auf jeden Fall hatten sie im Moment genug Probleme, um die sie sich kümmern mussten. Das hier konnten sie später besprechen.

“Wenn ich alles erledigt habe, komme ich zu dir”, sagte er.

“Kannst du über Nacht bleiben?”

“Was denkst du denn?”

Ihr Lächeln wurde breiter. “Ich werde das Licht anlassen.”

“Skye …”

“Ja?”

“Wir werden das alles zusammen durchstehen.”

“Das wollte ich jetzt hören. Bestell Jeremy, dass ich ihm eine schöne Zeit bei seinen Großeltern wünsche.”

“Das tu ich.”

Skye lächelte immer noch, als sie den Hörer auflegte. Jetzt, nachdem sie David davon erzählt hatte, fühlte sich das Baby noch realer an. Obwohl es erst zwei Uhr nachmittags war, legte sie die Arbeit beiseite. Sie ging ins Internet und begann, Kindermöbel einzukaufen.

Sie heiratete, bekam ein Baby – und ließ Burke endlich hinter sich. Bei dem Glück, das sie bei diesem Gedanken empfand, fühlte sie sich wie ein neuer Mensch.

Sie stand auf, ging um ihren Schreibtisch und nahm alle Fotos von der Wand.