20. KAPITEL
“Ich habe eine Verbindung gefunden.”
Skye widerstand dem Impuls, ihren Bauch mit einer Hand zu bedecken, als David aufstand und ihr den Stuhl zurechtrückte. Er hatte sie kurz vor zwölf angerufen und sie gebeten, sich mit ihm im California Bistro am Arden Way zum Mittagessen zu treffen. Es gab Neuigkeiten.
Ihr war klar, dass sie ihm auch etwas mitteilen sollte. Aber sie hatte bereits für sich beschlossen, ihm nichts von dem Baby zu sagen. Sie wusste gerade mal seit etwas mehr als einem Tag davon – und war immer noch dabei, diesen Schock zu verarbeiten.
“Sag bloß nicht, es ist Jane.”
“Es ist Noah.”
Die Kellnerin erschien mit einem Glas Wasser und begrüßte Skye. Die bemühte sich um ein Lächeln, aber ihre ganze Aufmerksamkeit galt David. Noah? “Aber du bist doch zu dem Schluss gekommen, dass er es nicht sein kann.”
“Ich habe mich geirrt. Lorenzo hat mal auf einer Baustelle für ihn gearbeitet.”
“NSL Construction taucht aber in seiner Jobliste gar nicht auf.” Skye hatte die von David zusammengetragenen Informationen bereits durchgelesen, und das mehrere Male.
“Genauer gesagt, hat er fast ein Jahr für einen von Noahs Lieferanten gearbeitet. Aber auch das tauchte in der Liste nicht auf, weil es nicht offiziell war.”
“Sie haben ihn schwarz bezahlt?”
“Genau.”
“Wie hast du das herausgefunden?”
“Ich habe gewartet, bis Noah das Büro verlassen hatte, und ein Schwätzchen mit der Sekretärin gehalten.”
Skye erinnerte sich an die schmale, knochige junge Frau in Noahs Büro, als sie ihn wegen seiner Affäre aufgesucht hatte. “Sie erinnert sich an Lorenzo?”
“Nein, aber sie hat mir eine Liste der Lieferanten gegeben, mit denen sie im Laufe der vergangenen Jahre gearbeitet haben. Letzte Woche habe ich allen eine Kopie von Lorenzos Foto zugeschickt. Heute Morgen meldete sich einer der Arbeiter von C&L Concrete. Er hat das Bild von Lorenzo auf dem Schreibtisch seines Chefs gesehen. Nachdem er meine Bitte um Information darunter gelesen hatte, rief er mich an. Er meint, er hätte ein paarmal mit Lorenzo zusammengearbeitet.”
Skye stützte die Ellbogen auf den Tisch und lehnte sich vor. Sie wollte nicht, dass die anderen Gäste in der Nähe das Gespräch mitbekamen. Es herrschte selbst für einen Freitag ziemlich viel Betrieb. “Aber woher soll Noah einen Schwarzarbeiter eines Lieferanten gut genug kennen, um ihn für einen Mord zu engagieren? Lorenzo scheint mir nicht unbedingt der Typ, mit dem Noah sich anfreunden würde.”
“Es ist nicht ganz so unwahrscheinlich. Wenn man jemanden jeden Tag auf der Baustelle trifft, auch nur für eine Woche, kann man sich sehr gut kennenlernen.”
Skye schüttelte den Kopf. “Ich glaube trotzdem nicht, dass Noah ihn zu mir geschickt hat.”
Die Kellnerin kam, um die Bestellung aufzunehmen. Skye warf schnell einen Blick auf die Karte und orderte einen Hühnersalat. David entschied sich für einen Burger mit Speck.
“Ich weiß immer noch nicht, wie das alles zusammenhängt”, sagte er. “Aber das ist wenigstens ein Anfang.”
“Vielleicht könnte uns Jane mehr dazu sagen. Sie kennt Noah genauso gut wie Burke.”
“Jane erscheint mir ziemlich labil zurzeit. Ich fürchte, sie steht kurz vor einem Nervenzusammenbruch.”
“Geht es ihr so schlecht?”
“Ich bin gestern zum Salon gefahren, in dem sie arbeitet. Kaum hat sie mich reinkommen sehen, ist sie zur Toilette gerannt und hat sich da eingeschlossen. Sie wollte nicht mehr rauskommen.”
Skye war überrascht, wie sehr ihr die Frau leidtat. Immerhin hasste Jane sie! “Was ist mit Kate, ihrer kleinen Tochter?”
“Der geht es gut. Sie verbringt viel Zeit bei Burkes Mutter.” Er trank einen Schluck von seinem Eiswasser. “Ich habe vor, mit Noahs Frau Wendy zu sprechen. Sie war während der Gerichtsverhandlung ziemlich verschlossen. Aber auf mich machte sie den Eindruck, als würde sie das alles ziemlich objektiv verfolgen. Irgendwas sagt mir, dass sie was im Kopf hat. Vielleicht hört sie ja auf ein vernünftiges Argument.”
“Womöglich würde sie mir eher entgegenkommen.”
Er hob die Augenbrauen. “Machst du Witze? Du bist für Burkes Familie der leibhaftige Teufel.”
“Ich weiß, aber ich bin nicht so einschüchternd wie ein Cop. Und von der ganzen Familie war Wendy die Einzige, die mich während der Gerichtsverhandlung halbwegs freundlich angesehen hat.”
“Meinst du, sie hat dir geglaubt?”
“Nein, ich denke, sie glaubte ihm – dass ich auf Drogen war und ihn angegriffen habe. Aber sie ging wohl davon aus, dass ich von meiner Geschichte ehrlich überzeugt bin.”
David runzelte die Stirn. “Ich würde nicht wollen, dass Noah sieht, wie du mit ihr sprichst.”
“Das würde ich auch nicht wollen.”
“Und sie haben Kinder. Du kannst also nicht zu ihnen nach Hause gehen.”
Skye spielte mit ihrem Besteck und fragte sich, ob sie überhaupt etwas essen konnte. Die Möglichkeit, dass Noah mit dem Überfall zu tun hatte, und Janes schlechte Verfassung machten sie nervös. Und dann war da noch das Baby, das sie immer im Hinterkopf hatte. Ich trage dein Kind in mir. “Wo soll man sie sonst ansprechen?”, wollte sie wissen.
“Während der Arbeit, denke ich.”
“Wo arbeitet sie denn?” Sein Kinn war mit Bartstoppeln bedeckt, als hätte er sich heute Morgen nicht die Zeit zum Rasieren genommen. Und er hatte dunkle Ränder unter den Augen. Das fiel Skye unwillkürlich auf – und sie machte sich Sorgen um ihn.
“Sie ist Aushilfslehrerin.”
“Dann könnte es ziemlich schwierig werden, sie ausfindig zu machen.”
Die Kellnerin brachte ihre Bestellungen. “Mal sehen, was ich tun kann. Ich rufe dich an, wenn ich einen Ort und einen passenden Zeitpunkt gefunden habe.”
“Okay.” Skye griff im selben Moment nach dem Salz wie David. Als sich ihre Hände berührten, erwartete sie, dass er sich schnell zurückzog. Seit der Benefizgala hatte er sich ihr gegenüber immer sehr distanziert verhalten. Genauso wie früher. Offensichtlich wollte er verhindern, dass sich das, was im Hyatt passiert war, wiederholte. Doch er zog sich nicht zurück. Er verschränkte seine Finger mit ihren und strich ihr mit dem Daumen über die Handfläche. Die Berührung war sehr sanft und sehr erotisch.
Skye erschauerte, als sie die sexuelle Spannung spürte.
“Du bist so schön”, sagte er.
“Warst du nicht derjenige, der meinte, dass so was nicht weiterhilft?”, entgegnete sie. Sie versuchte, ihre Hand wegzuziehen, aber er hielt sie fest.
“Ich kann nicht mehr dagegen ankämpfen.”
Ihr Magen kribbelte bei der Vorahnung. “Was willst du damit sagen?”
“Ich möchte mehr Zeit mit dir verbringen.”
“Was ist mit Lynnette?”
“Ich habe es ihr bereits gesagt.”
Sie betrachtete ihre verschränkten Finger. Würde er sich die nächsten zwei Wochen mit ihr vergnügen und dann zu seiner Exfrau zurückgehen? “Ich weiß nicht, David.” Inzwischen stand so viel mehr auf dem Spiel! Skye wollte keine kurze Affäre. Sie wollte mit ihm zusammen leben. Sie wollte ihn heiraten.
Aber auch eine dauerhafte Beziehung musste doch irgendwo anfangen, nicht wahr?
“Soll das ein Nein sein?”
“Hast du Jeremy an diesem Wochenende?”
“An diesem nicht, nein.”
Sie begegnete seinem intensiven Blick. “Warum kommst du dann heute Abend nicht zum Dinner?”
Er schenkte ihr ein verführerisches Lächeln. “Wann?”
“Um sieben?”
“Okay.” Er ließ ihre Hand los, und sie begannen zu essen. Skye hätte schwören können, dass sie im gleichen Moment einen flüchtigen Blick auf Lynnette erhascht hatte. Lynnette, die draußen am Fenster stand und sie durch die Scheibe anstarrte.
“Was ist denn?” David folgte ihrem Blick, aber die Frau war verschwunden, bevor Skye sie noch richtig erkennen konnte.
“Nichts”, sagte sie zurückhaltend und aß weiter.
Noah rief nicht an. Jane wartete. Er musste doch das Telefon letzte Nacht gehört haben und wie seine Frau mit ihr gesprochen hatte. Wahrscheinlich hatte er direkt neben Wendy im Bett gelegen. Wenn das zutraf, war es ihm offensichtlich egal. Jane wurde immer gereizter. Sie konnte sich kaum noch richtig auf ihre Arbeit konzentrieren. Wie konnte Noah seiner Frau von ihnen erzählen? Das war so unfair! Jane fühlte sich betrogen. Nun war er der reuige Sünder. Er konnte sich entschuldigen und alles wieder gutmachen. Und Jane war die Schlampe, die an allem schuld war. Die Sünderin, die nun von beiden gemieden wurde.
“Was ist denn mit dir heute los?”, schimpfte Danielle, als Jane ihre Schere schon wieder auf den Boden fallen ließ.
“Nichts”, murmelte sie. Danielle würde das nicht verstehen. Als Alleinerziehende, die ihre Mutter im vergangenen Jahr verloren hatte, war das Leben für sie nicht einfach. Doch niemand hatte solche Probleme wie Jane. Jane hatte ihre Mutter schon vor langer Zeit verloren, genauso ihre Tante, bei der sie aufgewachsen war. Ihren Vater hatte sie nie gekannt. Und das war, bevor sie Oliver geheiratet hatte.
Als Jane mit der Kundin fertig war, der sie die Haare geschnitten hatte, nahm Danielle sie beiseite. “Du musst dich beruhigen, sonst verletzt du dich noch mit deiner eigenen Schere.”
Jane sah bereits so aus, als hätte sie sich geschnitten. Sie hatte so sehr an ihrer Nagelhaut herumgekaut, dass sie fast an jedem Finger blutete. Bevor sie zur Arbeit gekommen war, hatte sie Pflaster darüber geklebt, um ihre Kundinnen nicht zu erschrecken.
“Ich … versuche es.” Sie sehnte sich nach einer Zigarette, obwohl sie erst vor zwanzig Minuten eine geraucht hatte.
Danielles Miene wurde weicher, als ihr Blick auf Janes zugepflasterte Fingerspitzen fiel. “Hör zu, warum gehst du heute nicht früher? Ich weiß sowieso nicht, wie du mit diesen Dingern an den Händen Haare schneiden kannst. Ich schaffe das schon allein.”
Jane wusste gar nicht, wie sie diese Freundlichkeit aufnehmen sollte. Hier in diesem Laden herrschte große Konkurrenz. Sie steckten alle zu sehr in ihren eigenen Schwierigkeiten, kämpften zu hart ums Überleben, um einen anderen großartig unterstützen zu können.
“Bist du sicher?”, fragte sie. Sie wusste, dass Danielle in diesem Fall länger bleiben musste. Dann blieb ihr weniger Zeit mit ihrem Sohn, der ihr Ein und Alles war. Aber Danielle nickte und schob Jane zu ihrem Platz.
“Ja, ich bin sicher. Hol deine Tasche und geh”, sagte sie in spielerisch strengem Ton.
Jane fühlte sich erleichtert und schöpfte wieder ein bisschen Hoffnung. Es war früh genug. Mit etwas Glück würde sie Noah noch in seinem Büro antreffen. Freitags arbeitete er meist bis sechs, um die Woche abzuschließen.
Sie nahm ihre Tasche und die Schlüssel und rannte fast aus dem Laden. Dann fuhr sie zu Noah ins Büro.
Als sie ankam, entdeckte sie seinen Truck in der Seitengasse; hier parkte er immer. Das war ihre Chance. Alles wird gut. Mach dir keine Sorgen. Beruhige dich.
Das Auto seiner Sekretärin stand nicht mehr draußen; Jane nahm an, dass Noah allein im Büro war. Es war die beste Gelegenheit, ihm von ihrem erniedrigenden Erlebnis zu berichten, von den Zweifeln, die sie mehr denn je plagten, von ihrer Angst.
Nur, dass sein Büro verschlossen war und er nicht an die Tür kam.
“Noah? Noah, ich bin’s!” Sie klopfte. “Bitte mach auf!”
Keine Reaktion. Er erschien erst, als sie nicht aufhörte, wie verrückt gegen die Tür zu hämmern. Doch er öffnete die Tür lediglich einen Spalt und blieb davor stehen, als wollte er ihr den Zutritt versperren.
“Ich muss mit dir reden”, sagte sie aufgeregt und noch völlig außer Atem.
Er runzelte die Stirn. “Jane, ich kann dich nicht reinlassen. Ich habe Wendy versprochen, mich nicht mehr mit dir allein zu treffen, und ich werde mein Versprechen halten. Wenn du Hilfe brauchst, musst du dich an deinen Mann wenden.”
“Du hast es ihr erzählt”, flüsterte sie.
“Ich musste. Das war die einzige Möglichkeit, die Sache zu beenden und nicht wieder schwach zu werden.”
“Was wird aus mir?”
“Es ist für uns beide so am besten. Du musst lernen, dich auf deinen Mann zu verlassen und nicht immer zu mir zu kommen. Ich möchte nicht zwischen euch stehen. Wer gewinnt dabei? Niemand. Das wäre für unsere beiden Familien schlecht.”
“Aber … Oliver hat mir gestern Nacht wehgetan. Er ist nicht mehr derselbe. Er ist … gefährlich.” Jane wusste, dass sie viel zu schnell redete, dass sie hysterisch wirkte und deshalb nicht besonders überzeugend war. Aber sie wünschte sich so verzweifelt, dass er ihr glaubte.
Noah verdrehte die Augen. “Hör auf! Er hat eine schwere Zeit durchgemacht, so wie wir alle. Für ihn war es noch schlimmer als für uns. Er muss wieder vollkommen von vorn anfangen und hat keine Ahnung, wie er seine Familie ernähren soll.”
“Aber er hat es getan, Noah. Ich glaube, er hat wirklich diese Frauen umgebracht und wollte Skye vergewaltigen. Ich fürchte, er wird wieder was tun, wenn er die Gelegenheit bekommt. Es ist nur eine Frage der Zeit, dass …”
Er hob die Hand, um Jane zum Schweigen zu bringen. “Ich will nichts davon hören, du bist ja völlig überdreht! Er hat es nicht getan, hörst du? Er war es nicht!”
Sie blickte sich auf dem verlassenen Parkplatz um. Was sie ihm sagen wollte, war zu intim, um es vor aller Welt hinauszuposaunen. Aber Noah ließ ihr keine Wahl. Sie wusste, er würde sein Versprechen Wendy gegenüber einhalten und sie nicht hereinlassen. “Gestern Nacht hatten Oliver und ich zum ersten Mal Sex miteinander.”
Noah verzog das Gesicht. “Davon will ich auch nichts hören! Leb dein Leben und werde glücklich. Mach meinen Bruder glücklich!” Er wollte sich zurückziehen, aber sie umklammerte die Türkante und ließ nicht los.
“Noah, du musst mir unbedingt zuhören! Ich weiß nicht, mit wem ich sonst darüber reden kann. Ich weiß nicht, ob ich verrückt werde oder ob er wirklich gefährlich ist, aber er fühlt sich so an, als wäre er es. Gestern Nacht hat er darauf bestanden, dass ich mich fesseln lasse, mit dem Gesicht nach unten, und er hat mir die Augen verbunden. Es war ihm ganz egal, dass ich es nicht wollte. Er hat sich sogar noch daran aufgegeilt, als ich geheult und gebettelt habe, er soll mich losmachen. Er …”
“Hat er dir wehgetan?”
“Ja!”
“Wie?”
Sie musste nachdenken. Die körperlichen Verletzungen waren nicht so schlimm. Es war mehr die Art gewesen, wie er sie behandelt hatte. Dass es ihm vollkommen gleichgültig gewesen war, wie sie sich fühlte. Diese Verachtung, sein Egoismus. “Er … er hat mir in die Brüste gekniffen.”
“Er hat dir in die Brüste gekniffen”, wiederholte Noah ein bisschen verständnislos.
“Richtig heftig”, fügte sie dazu. “Er hat sie eigentlich richtig gequetscht.”
Er beugte sich zu ihr vor. “Das ist alles? Männer tun das nun mal gern.”
“Er hat mich auch gebissen.” Sie zog den Ausschnitt ihres Pullovers herunter, um ihm die Schulter zu zeigen, aber die Abdrücke waren nicht tief genug gewesen. Sie waren bereits wieder verschwunden.
Noah schüttelte den Kopf. “Du musst dich psychologisch beraten lassen.”
“Ich schwöre dir, er hat mich gebissen! Nicht so stark, dass es geblutet hat, aber …”
“Ich habe dich doch auch schon gebissen, Jane, und es hat dir gefallen.”
“Das war etwas anderes. Aber das gestern war nicht spielerisch oder liebevoll. Liebe hatte damit überhaupt nichts zu tun. Ich habe gespürt, dass er mich hasst, richtig hasst.”
“Jetzt hör aber auf! Oliver liebt dich! Er hat mir heute beim Mittagessen erzählt, ihr hättet gestern den besten Sex eures Lebens gehabt. Dass du alles wärst, was er sich jemals von einer Frau gewünscht hätte, und dass du ein richtiger Tiger im Bett bist.”
Das machte Jane sprachlos. Oliver wusste, dass sie gestern Nacht mit Wendy telefoniert hatte, und er hatte sich sofort um die Schadensbegrenzung gekümmert. Hatte dafür gesorgt, dass alles, was sie womöglich Noah und Wendy oder vielleicht auch seinen Eltern erzählte, nicht ernst genommen würde.
Oliver war wirklich clever. Er war schlau, und er war gefährlich.
“Wenn du mir nicht glaubst, muss ich zu euren Eltern gehen.” Sie wirbelte herum, um genau das zu tun. Aber er packte sie beim Arm.
“Wage es nicht!” Richtige Wut, so wie sie es von Noah überhaupt nicht kannte, blitzte in seinen Augen auf, als er sie zu sich herumriss. “Meine Eltern haben genug ertragen, hörst du? Was auch immer du durchmachst, du stehst es besser durch, ohne sie damit zu belasten. Sie haben die ganzen Jahre unter dem gelitten, was Oliver passiert ist. Sie sind fast bankrott gegangen, um euch beiden zu helfen. Und sie werden alt. Belaste sie nicht damit!”
“Aber ich muss ihnen sagen, was ich denke. Ich muss Kate beschützen, mich selbst auch.”
“Vor einem Ehemann, der dir an die Wäsche will? Du hast mich doch auch immer rangelassen, ohne dich zu beschweren.”
Sie zuckte bei diesem vor Abscheu triefenden Tonfall zusammen. “Du wolltest doch mit mir zusammen sein”, begehrte sie auf.
“Das stimmt, das gebe ich zu. Aber ich will es nicht mehr, und du kannst nicht loslassen. Verstehst du das nicht? Es ist vorbei!”
Sie konnte das Schluchzen nicht unterdrücken. Womit hatte sie das nur verdient? Die ganze Welt hatte sich gegen sie verschworen. “Aber er … hat mich richtig festgebunden, obwohl ich ihn gebeten habe, es nicht zu tun! Er hat mir auf den Hintern geschlagen und mir in die Schulter gebissen. Es war so schrecklich!”
Wenigstens entdeckte sie für einen Moment den alten Noah in seinen Augen. Den Noah, von dem sie einmal gedacht hatte, er würde sie lieben. “Hat er ein Seil benutzt?”, erkundigte er sich besorgt.
“Nein. Laken.”
Noah wartete nicht darauf, was sie sonst noch zu sagen hatte. Er winkte ab, als hätte er nie etwas Lächerlicheres gehört.
“Er hat sie richtig festgezogen!”, rief sie ihm zu. “Das waren keine normalen Sexspielchen. Du hast es ja nicht gesehen. Du hast ja nicht gesehen, wie er sich verhalten hat!”
Er drehte sich noch einmal um. Bevor die Tür zufallen konnte, hielt er sie fest. Dann zeigte er vorwurfsvoll mit dem Finger auf Jane. “Es liegt an dir, Jane, nicht an ihm! Du bist in letzter Zeit ziemlich mit den Nerven fertig. Du brauchst eine Therapie und wahrscheinlich eine ordentliche Dosis Prozac.” Dann schlug er die Tür zu und schob den Riegel vor.
Tränen rollten über Janes Wangen, während sie zusah, wie er sich von der Glastür entfernte. Diesen Rücken hatte sie massiert, hatte ihn gekratzt … Sie hatte mit diesem Mann geschlafen. Sie liebte ihn.
Aber Noah war nicht für sie da. Das war er nie gewesen, nicht wirklich. Stattdessen war sie mit einem Psychopathen verheiratet, der darauf wartete, dass sie nach Hause kam und ihm das Dinner servierte.
David konnte sich kaum auf irgendetwas anderes konzentrieren, seit er sich für diesen Abend mit Skye verabredet hatte. So viele Zweifel überfielen ihn – und vor allem diese nagenden Schuldgefühle Lynnette und Jeremy gegenüber. Aber er wüsste nicht, wie das Zusammenleben mit Lynnette funktionieren sollte. Er konnte unmöglich wieder zu ihr ziehen. Weil er überhaupt nicht mit ihr zusammen sein wollte. Trotz allem Mitgefühl, das er wegen ihrer schweren Krankheit mit ihr hatte. Er konnte sie nicht einmal berühren; er verspürte absolut kein Verlangen danach.
Andererseits hatte er keine Ahnung, was er von einer Beziehung mit Skye erwartete, und er versuchte, gar nicht erst so weit zu denken. Dazu müsste er nämlich auch darüber nachdenken, dass sein Sohn eine Stiefmutter bekommen würde. Und ob er noch mehr Kinder haben wollte. Ihm war klar, dass es dann mit Lynnette noch schwieriger werden würde, auch wenn er sie als Freund unterstützte. Außerdem fragte er sich immer wieder, ob er es ertragen könnte, dass Skye sich durch ihre Arbeit ständig in Gefahr brachte.
Er fühlte sich überfordert. Am liebsten hätte er die Zeit wieder zurückgedreht – zurück zu dem Punkt, als er beschlossen hatte, sich wieder mit Lynnette zu versöhnen. Doch das brachte dieses verwirrende Rad der Ereignisse nur von Neuem ins Kreiseln. Am besten wäre es, nicht an die Zukunft zu denken. Er würde einen Tag nach dem anderen hinter sich bringen. Und dieser Abend würde verdammt gut werden. Nach seinem letzten Termin würde er nämlich zum Delta-Haus fahren und bei Skye zu Abend essen. Es war fast sechs Uhr.
Er trat auf die Bremse und fuhr langsam die Straße hinunter, um die Nummern zu lesen und Noah Burkes Haus zu finden. Vor beinahe vier Jahren hatte er Burkes Bruder vor der Gerichtsverhandlung befragt, aber das Gespräch hatte auf dem Polizeirevier stattgefunden.
Er runzelte die Stirn, als er sich diese zwanzig Minuten mit Noah Burke ins Gedächtnis rief. Es war reine Zeitverschwendung gewesen. Er hatte die gleiche Geschichte erzählt wie der Rest der Familie: dass sein Bruder immer nett und freundlich war, niemals Ärger machte, keine psychischen Probleme hatte und niemals versuchen würde, jemanden zu vergewaltigen. Heute aber wollte David nicht über Oliver Burke sprechen.
Er entdeckte die Hausnummer, die er gesucht hatte. Die Messingzahlen glänzten auf dem Briefkasten, der auf einem kunstvollen mit Efeu überwachsenen Steinpodest stand. Dem Haus nach zu urteilen, schienen Noahs Geschäfte ziemlich gut zu laufen. Das riesige zweigeschossige Gebäude im New-England-Stil fügte sich perfekt in die elegante Nachbarschaft ein. Allein schon das Grundstück, das schätzungsweise zweitausend Quadratmeter betrug, war sicher fünfhunderttausend Dollar wert. Auch wenn Noah und seine Familie nicht direkt am Fluss wohnten, wo sich die großen Villen befanden, so musste er doch ein ziemliches Sümmchen für diesen Besitz ausgegeben haben.
David bog in die mit Säulen gesäumte Auffahrt ein und parkte seinen Wagen hinter einem Minivan, dessen Türen offen standen. Ein kurzer Blick sagte ihm, dass niemand darin saß. Als er auf das Haus zuging, bemerkte er, was es damit auf sich hatte: Noahs Frau wollte gerade wegfahren.
“Entschuldigen Sie!”, rief sie, als sie ihn auf der Veranda am Eingang fast umrempelte. “Ich habe die Klingel gar nicht gehört.”
David war noch gar nicht dazu gekommen, zu klingeln. Gerade hatte er den gefütterten Umschlag durchgesehen, den er mitgebracht hatte. Bishops Foto steckten darin. “Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe. Ich suche Ihren Ehemann. Ist er zu Hause?”
Zunächst erkannte sie ihn nicht; sie war zu abgelenkt von ihrem Beinahe-Zusammenstoß. Doch als sie ihn schließlich einordnete, verdüsterte sich ihre Miene. “Sie sind der Detective, der bei Olivers Gerichtsverhandlung war.”
“Detective Willis.” Er streckte die Hand aus, und Wendy Burke ergriff sie, wenn auch etwas zögernd. “Ist Ihr Mann zu Hause?”, fragte er noch einmal.
Bevor sie antworten konnte, kam ein etwa zehnjähriger Junge aus dem Haus gerannt. Er hüpfte um sie herum, während er seinen Baseball auf dem Boden auftippte, und flitzte zum Wagen hinüber.
“Noah ist gerade von der Arbeit nach Hause gekommen. Er zieht sich um, und ich bin …”
“Gerade am Gehen, das sehe ich. Wenn Sie vielleicht Ihrem Mann nur sagen könnten, dass ich gern eine Minute mit ihm sprechen möchte. Ich warte hier solange.”
Sie zögerte, doch dann beschloss sie, höflich zu sein. “Sie können sich auch ins Wohnzimmer setzen, wenn Sie möchten.”
“Danke, ist schon okay.”
Sie senkte die Stimme. “Oliver hat doch nicht wieder etwas angestellt, oder?”, erkundigte sie sich vorsichtig.
“Wieder?”, sagte David.
Als sie sich nicht sofort korrigierte, bekam David den Eindruck, als sei sie inzwischen nicht mehr so ganz von der Unschuld ihres Schwagers überzeugt. Vielleicht hatte sie die ganze Geschichte auch nur satt.
“Ich bin nicht seinetwegen hier.” Er öffnete die Mappe ein zweites Mal und zog das Foto heraus. “Haben Sie diesen Mann schon einmal gesehen?”
Ihr Gesicht zeigte keine Reaktion. “Nein. Wer ist das?”
“Lorenzo Bishop. Er hat für einen Lieferanten Ihres Mannes gearbeitet.”
Sie sah ihn neugierig an. “Hat er irgendwas angestellt?”
“Ja.”
“Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen, aber …” Sie zuckte die Schultern und gab ihm das Foto zurück. “Ich habe den Mann noch nie gesehen.”
“Mom! Jetzt komm doch!”, rief der Junge aus dem Wagen. “Wenn ich zu spät komme, lässt Coach Green das ganze Team um den Platz laufen!”
Wendy Burkes Schlüssel klimperte, als sie sich die Handtasche über die Schulter schob und ins Haus zurückging. “Noah!”, rief sie. Als sie keine Antwort bekam, rief sie noch lauter: “Noah!”
“Was ist denn?”
“Detective Willis möchte dich sprechen.”
Daraufhin herrschte erst mal Stille. David nahm an, dass Noah leise vor sich hin fluchte. David war in dieser Familie nicht gerade beliebt.
“Hast du mich gehört?”, rief sie. “Er hat ein paar Fragen zu einem Mann, der für dich gearbeitet hat. Ich muss jetzt los, sonst kommt Brian zu spät zum Baseballtraining.”
“Geh schon, ich bin gleich unten.”
Ein gezwungenes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. “Es wird nicht lange dauern.”
David bedankte sich bei ihr und beobachtete, wie sie losfuhr. Dann blickte er sich um. Das war eine hübsche Gegend hier – kein Vergleich mit seinem so praktischnützlichen Apartmentkomplex.
“Weshalb sind Sie hier?”
David drehte sich zu Noah um, der jetzt an der Tür stand. Er trug ein Paar saubere Jeans, Mokassins und ein Sweatshirt. Sein Haar war noch nass vom Duschen.
“Ich bin auf einen alten Bekannten von Ihnen gestoßen.”
“Von mir?”, wiederholte Noah zweifelnd. “Ich glaube kaum, dass wir in denselben Kreisen verkehren.”
“Weshalb es sich ja wirklich um einen … Zufall handeln muss, dass ich eine Verbindung zwischen Ihnen und diesem Mann gefunden habe, nicht wahr?” David zeigte Noah das Foto und wartete auf seine Reaktion. Die genauso unschuldig wirkte wie die seiner Frau.
“Das ist Lorenzo Soundso”, sagte er.
“Bishop”, half David aus.
“Genau. Er hat für einen meiner Lieferanten gearbeitet.”
“Wissen Sie, wo er jetzt ist?”
“Nein. Ich habe ihn schon seit Jahren nicht mehr gesehen.”
“Seit wie vielen Jahren?”
Jetzt, wo David ihn nicht über ein Familienmitglied ausfragte, erschien Noah äußerst hilfsbereit. “Vielleicht … vier? Ich habe das Dach vom McCurdy-Haus gebaut, während er die neue Ausfahrt asphaltiert hat. Das muss mindestens schon vier Jahre her sein. Warum fragen Sie?”
“Er wurde getötet.”
Noah runzelte misstrauisch die Stirn. “Sie glauben doch nicht etwa, dass Oliver ihn umgebracht hat, oder?”
“Nein, sicher nicht. Ich weiß, dass es jemand anders war.”
“Wer denn?”
Offensichtlich hatte Noah die Nachrichten nicht verfolgt. Natürlich war in den vergangenen Wochen eine Menge passiert: Sein Bruder war aus dem Gefängnis entlassen worden, nachdem ihm jemand ein Messer in den Rücken gestoßen hatte, sodass er zuerst ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Schließlich musste er sich zu Hause mit seiner Frau Jane und der Tochter Kate, die ihn drei Jahre nicht gesehen hatten, wieder einleben. Die Familie Burke war sicher zu sehr mit ihren eigenen Hoffnungen und Ängsten und der Umgewöhnung beschäftigt gewesen, um sich noch um andere Leute Sorgen zu machen.
“Skye Kellerman”, sagte David.
Noah riss die Augen auf. “Sie hat Lorenzo getötet? Das sollte Ihnen zu Denken geben! Es war nicht mein Bruder, der …”
David unterbrach ihn. “Er hat ihre Telefonleitung gekappt, ist in ihr Haus eingebrochen und wollte sie töten. Sie hat ihn in Notwehr erschossen.”
Noah schüttelte den Kopf. “Das soll wohl ein Witz sein.”
“Nein.”
“Was hatte er denn gegen Miss Kellerman?”
“Ich habe gehofft, Sie könnten mir das sagen.”
“Ich habe keine Ahnung.”
“Sie haben ihn nicht dafür bezahlt, dass er es tut?”
Sein Gesicht wurde vor Schock und Ärger knallrot. “Wollen Sie sich über mich lustig machen? Jetzt glauben Sie, ich wäre ein Killer?”
“Skye weiß von Ihrer Affäre mit Jane.”
Noah lehnte sich zu ihm vor und betonte jede Silbe. “Und meine Frau weiß es auch. Ich habe mit Jane Schluss gemacht und ihr alles gestanden.” Er machte eine hilflose Handbewegung. “Ich bin mit diesem Schuldgefühl nicht mehr klargekommen. Es wäre furchtbar, wenn meine Eltern und mein Bruder erfahren, was ich getan habe … aber vielleicht sollte ich es ihnen auch sagen. Das ist wahrscheinlich der einzige Weg, um wirklich reinen Tisch zu machen.”
David war zu überrascht, um gleich darauf zu antworten.
“Wenn Sie mir nicht glauben, können Sie Wendy fragen. Wollen Sie reinkommen und sie auf ihrem Handy anrufen?”
David betrachtete ihn eingehend. “Nein, nicht nötig”, sagte er dann und wandte sich zum Gehen um.
“Ich werde es ihnen sagen”, rief ihm Noah hinterher. “Die ganze Familie soll es erfahren!”
David drehte sich um, bevor er sein Auto erreicht hatte. “Tun Sie das nicht!”
“Warum nicht? Ich halte diese Geheimniskrämerei nicht länger aus! Es wird Zeit, mit der Vergangenheit zu brechen und neu anzufangen.”
“Sie bringen Jane in Gefahr, wenn Sie das tun!”, warnte ihn David, aber er erntete nur eine wegwerfende Handbewegung. “Ich meine es ernst!”
“Mein Bruder ist unschuldig!” Noah verschwand im Haus und knallte die Tür zu.
David fuhr nicht sofort los. Er blieb noch einen Moment in seinem Wagen sitzen. Sollte er noch einmal zurückgehen? Versuchen, Noah zu überzeugen? Ihm klarmachen, dass er Jane wirklich in Gefahr brachte? Er wäre wieder ausgestiegen – aber er wusste, dass es keinen Zweck hatte. Er bezweifelte, dass Noah ihm überhaupt noch einmal öffnen würde. Er glaubte einfach nicht, dass sein Bruder Jane oder ihm etwas antun würde, dass er überhaupt zu einer solchen Grausamkeit fähig wäre. Nichts, was David sagte, würde das ändern.
David beschloss, wenigstens Jane zu warnen. Nur für den Fall, dass Noah ihr diesen Gefallen nicht tat. Aber sie war nicht mehr im Laden, und bei ihr zu Hause meldete sich nur der Anrufbeantworter. David wollte keine Nachricht hinterlassen, die Burke ebenfalls hören konnte. Deshalb legte er auf und nahm sich vor, es später noch einmal zu versuchen.