18. KAPITEL
Skye blinzelte, als das helle Sonnenlicht durch ihre Fenster schien. Ihr erster Gedanke war, dass nun nach den Wochen mit Nebel die Sonne wieder schien. Irgendwie erschien ihr das bezeichnend. Als würde damit unterstrichen, dass die düstere Stimmung der vergangenen Tage vorbei sei. Als Zweites kam die Erinnerung daran, wie sie am Abend zuvor Sex mit David gehabt hatte. Das war wirklich ein einschneidendes Erlebnis, bedeutsamer als alles andere, aber auch irgendwie unwirklich. Vor allem wenn man bedachte, was sie riskiert hatten. So etwas war ihr bisher noch nie mit einem Mann passiert.
Wer hätte geahnt, dass sie und David nach mehr als drei Jahren der Zurückhaltung nun plötzlich dieser Anziehungskraft nachgaben?
Sie legte sich die Hand auf den Bauch und fragte sich, ob sie bereits ein Kind von ihm in sich trug. Eigentlich hätte sie erwartet, bei dieser Vorstellung in Panik zu verfallen. Er hielt zu seinem Sohn und war auch seiner Exfrau gegenüber loyal. Das bedeutete, dass sie eine alleinerziehende Mutter werden würde. Ganz bestimmt nicht das, was sie sich für die Zukunft wünschte. Doch sie würde nie versuchen, ihn aus Pflichtgefühl dem Baby gegenüber an sich zu binden. Entweder liebte er sie oder nicht. Und wenn er es nicht tat … Sie war schließlich kein junges Mädchen ohne Möglichkeiten! Sie war fast dreißig, hatte ein Haus und genug Erfahrung und Ausbildung, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Außerdem wollte sie ein Kind. Sie hatte es nicht zum höchsten Ziel in ihrem Leben gemacht, doch der Wunsch bestand bereits längere Zeit.
Aber würde sie ihre momentane Arbeit in der Form weiterführen können, wenn sie ein Baby bekam?
Sie rieb sich die Augen. Es war wohl ein bisschen zu früh, sich diese Frage jetzt schon zu stellen. Skye lenkte ihre Gedanken in eine andere Richtung. Sie wollte sich schnell fertig machen und ins Büro fahren. Es war Sonntagmorgen. Normalerweise blieb sie an diesem Tag zu Hause, putzte, las, surfte im Internet oder erledigte Papierkram. Doch nach dem Vorfall am Freitagabend wollte sie überhaupt nicht mehr hierbleiben. Der Frieden, der Trost und die Sicherheit ihrer Kindheit – all das, was dieses Haus immer für sie symbolisiert hatte, waren zerstört.
Denk nicht daran! Skye versuchte sich auf das Grundlegende zu konzentrieren – zu duschen, sich zu schminken und die Kleidung für den Tag herauszusuchen –, aber es half nichts. Immer wieder dachte sie an die aufregenden Momente, in denen sie Davids Hände an ihren intimsten Körperstellen gespürt hatte … und an die Möglichkeit, schwanger geworden zu sein.
Es gibt kein Baby. Doch sicher nicht von einem einzigen Mal. Da sie sich fast am Ende ihres Zyklus befand, war die Chance der Empfängnis sowieso gering.
Sie durfte sich nicht so lange mit dieser abwegigen Idee beschäftigen. Doch als sie auf dem Weg zur Arbeit an der Lebensmittelhandlung hielt, um Äpfel zu kaufen, ertappte sie sich dabei, einer Mutter mit Baby auf dem Arm hinterherzusehen. Beim Halt an der Ampel, nachdem sie den Lebensmittelladen verlassen hatte, starrte sie versonnen ein kleines Mädchen auf dem Rücksitz des Wagens neben sich an. Und in der Howe Avenue entdeckte sie zum allerersten Mal ein Geschäft mit Kindermöbeln, das sich dort offensichtlich schon seit Jahren befand.
“Starrst du Löcher in die Luft?”
Skye riss sich aus dem tranceähnlichen Zustand, in dem sie sich seit einigen Minuten befand. Jasmine stand in ihrer Bürotür. Soweit Skye das mitbekommen hatte, war sie nicht mehr auf dem Wohltätigkeitsball erschienen. Es war allerdings möglich, dass sie erst später gekommen war, nachdem Skye die Party schon verlassen hatte.
“Ich mache nur gerade eine Pause. Ich habe den ganzen Vormittag telefoniert und mit den Ehrenamtlichen gesprochen.”
“Was hast du rausgefunden?”
“Felicia Martinez meinte, dass ein Mann sie nach meiner Adresse gefragt hätte. Er müsste ein Paket bei mir abliefern. Es wäre ein Dankeschön von jemandem, dem ich geholfen habe.”
“Die Ehrenamtlichen haben deine Privatadresse doch nicht, oder?”
“Es wäre nicht allzu schwer, sie hier herauszufinden. Ich könnte irgendeinen alten Karton mit Adressaufkleber benutzt haben, um was zu transportieren. Oder jemanden gebeten haben, etwas …” Als Jasmine sie plötzlich verlegen ansah, verstummte Skye mitten im Satz. “Was ist?”
“Jetzt, wo du es sagst … Ich fürchte, deine Adresse könnte in meinem Rolodex stehen.”
“Na bitte. Es gibt immer eine Möglichkeit.”
“Und hat Felicia ihm denn die Adresse gegeben?”
“Sie behauptet, dass nicht – aber erst, als ich sie gezielt danach gefragt habe. Das finde ich bedenklich.”
“Wahrscheinlich dachte sie, es wäre nicht wichtig.”
“Genau das hat sie gedacht.”
“Hatte der Mann riesige Löcher im Ohrläppchen und einen Ziegenbart?”
“Nein. Sie hat ihn beschrieben, aber es war niemand, der mir bekannt vorkam.”
“Irgendjemand hat deine Adresse aber weitergegeben.”
“Und ich bin sicher, es war nicht böswillig. Lediglich, um jemandem weiterzuhelfen.”
“Aber woher wusste der Mann, wer immer das war, an wen er sich wenden soll? Hat er das Büro beobachtet?”
Skye warf einen Blick auf die Liste vor sich. Sie war den ehrenamtlichen Mitarbeitern wirklich dankbar. Eigentlich konnte sie sich nicht vorstellen, dass einer von ihnen sie hintergehen würde, ihr absichtlich schaden wollte. Sie waren ein Team, arbeiteten für die gleiche Sache. Sie vertrauten einander.
Und nun nutzte Burke oder jemand anders sie zu seinen Zwecken aus.
Sie legte die Liste beiseite, weil sie es nicht ertragen konnte, über diese Möglichkeit nachzudenken. “Wann bist du aus Fort Bragg zurückgekommen?”
“Vor wenigen Minuten.”
“Hast du dort übernachtet?” Wenn das der Fall war, hatte sie aber nicht viel Schlaf bekommen, so wie sie aussah. Trotz ihrer dunklen Hautfarbe konnte Skye die Schatten unter Jasmines Augen erkennen.
“Es ging nicht anders. Es war schon so spät, als ich alles mit der Polizei erledigt hatte.”
“Wie ist es gelaufen?”
Ihre Freundin warf einen Blick auf die Fotos an Skyes Wand, dann sah sie schnell wieder weg. Offensichtlich lösten die Gesichter der Mörder im Moment zu viele Emotionen bei ihr aus. “Die Polizei hat den Richtigen”, sagte sie.
“Hat er im Sägewerk gearbeitet?”
“Ja.”
“Und hat er das andere kleine Mädchen auch getötet?”
“Whitney Jones? Er streitet es natürlich ab. Aber ich bin sicher, dass er es war.”
“Wie kommst du darauf?”
Jasmine erschauerte bei der Erinnerung an die Begegnung mit dem Mann. “Er ist … krankhaft. Das habe ich schon allein gespürt, wenn ich mit ihm im selben Raum stand. Und …” Sie holte tief Atem. “Ich bin davon überzeugt, dass diese beiden kleinen Mädchen nicht seine einzigen Opfer waren.”
“Es gibt noch mehr?”
“Vielleicht. Die Ermittlungsbeamten schließen sich mit anderen Departments kurz und lassen sie ihre Akten überprüfen.”
Skye musterte ihre Freundin eine Weile. Sie war besorgt, wie abgekämpft sie wirkte. “Ich hoffe, sie sind auch für deine Hilfe dankbar, Jaz. Diese Fälle strengen dich immer so an.”
“Es ist nicht nur dieser Fall, Skye, diesmal nicht. Ich meine, man muss schon ziemlich gefühllos sein, um in einer so herzzerreißenden Situation unberührt zu bleiben. Die Eltern dieser kleinen Mädchen … Das weckt alles so viele schreckliche Erinnerungen. Aber …”
“Aber was?”, drängte Skye. Jasmine war normalerweise nicht so zurückhaltend.
“Ich hatte gestern Nacht einen beängstigenden Traum. Natürlich weiß ich nicht, ob es überhaupt irgendetwas bedeutet, aber ich musste unbedingt mit dir reden.”
“Ein Traum?” Skye neckte ihre Freundin manchmal wegen ihrer übersinnlichen Fähigkeiten. Doch sie glaubte auch daran, selbst wenn sie nicht verstand, wie das funktionieren konnte. Jasmine gab der Polizei immer wertvolle Hinweise – wie zum Beispiel den Beamten aus Fort Bragg, denen sie gesagt hatte, dass der Täter im Sägewerk arbeitete. Sie ist am Leben und befindet sich in einer Art Warenlager. Es ist laut dort, starker Straßenverkehr, ein Autowrackplatz nebenan … Sie ist neben einer Zugschiene an einem Reisfeld begraben … Er hielt ihr Mund und Nase zu, drückte ihr Gesicht auf den Boden und fesselte ihre Hände auf dem Rücken …
Skye hatte erlebt, wie oft diese bruchstückhaften Informationen zutrafen. Doch irgendwie wünschte sie jetzt, lieber nicht an Jasmines Fähigkeiten zu glauben. “Wovon?”
“Von dir.”
Skye schüttelte nervös den Kopf. “Aber … so funktioniert das doch normalerweise nicht, oder? Ich meine, du hast noch nie von mir geträumt. Du hast einen Gegenstand von einer vermissten Person in die Hand genommen und gespürt, was mit ihnen passiert sein könnte oder wo sie sind.”
“Das war anders.” Jasmine fuhr sich mit den Fingern durch das lange schwarze Haar und ging auf Skye zu. “Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir deshalb Sorgen machen muss. Vielleicht war es ja nur ein Traum, so wie ihn eben jeder mal hat. Aber alles war so real, Skye, eher wie … wie eine Vision. Die Art von Visionen, die sich dann als wirklich herausstellen. Ich kann es deshalb einfach nicht vergessen.”
Nach allem, was am Freitagabend passiert war, fürchtete sich Skye davor, es auch nur zu hören. “Was ist in dem Traum passiert?”, fragte sie und verschränkte die Arme vor der Brust, um die Hände nicht zu Fäusten zu ballen.
“Da war eine Frau mit kurzen blondierten Haaren. Sie schrie, dass sie dich töten will, weil du ihr Leben ruiniert hast.”
“Ich kenne keine Frau mit kurzem blondierten Haar.”
“Nein?” Jasmine schien erleichtert.
“Sie hat nicht zufällig ihren Namen gesagt, oder?”, erkundigte sich Skye mit einem gequälten Lächeln.
Jasmine war zu sehr abgelenkt, um auf diesen lahmen Scherz einzugehen. “Ich habe keine Ahnung, wer sie war, aber sie roch nach Zigaretten. Und zwar so stark, dass ich das Gefühl hatte, den Rauch noch nach dem Aufwachen zu riechen.”
Als Lorenzo in ihr Haus eingedrungen war, hatte Skye Zigarettenrauch wahrgenommen. Ob Jasmine irgendetwas durcheinanderbrachte? Inwieweit konnte sie das ernst nehmen? Waren das vielleicht nur Bilder eines gewöhnlichen Traums, Erzeugnisse des Unterbewusstseins, die jeder erlebte? Manchmal konnte Jasmine das selbst nicht unterscheiden.
“Haben wir miteinander gekämpft?”
“Ich glaube, ja. Sie hat gekreischt, geflucht, wild um sich geschlagen. Da war ein Messer und Blut. Ab und zu schrie sie nach einer Kate.”
Kate. Skyes Herz setzte einen Schlag aus. Sie hatte Jasmine und Sheridan erst nach Burkes Gerichtsverhandlung kennengelernt. Sie kannten nicht alle Details aus dem Jahr nach dem Überfall, nur, was Skye ihnen erzählt hatte. Und ihre Gespräche gingen hauptsächlich um das Trauma, das von der erlittenen Gewalt herrührte. Über die Gerichtsverhandlung wurde kaum gesprochen. Sheridan hatte in Sacramento gelebt, aber noch nicht lange genug, um Burke zu kennen und die Verhandlung mitzubekommen. Und Jasmine war gerade hergezogen, als sie sich kennenlernten. Handelte es sich also um einen Zufall, dass Jasmine den Namen von Burkes Tochter nannte? Das musste es sein, oder? Jane hatte lange dunkle Haare. Soweit Skye wusste, rauchte sie auch nicht.
“Du brauchst dir keine Sorgen zu machen”, sagte sie. “Ich kenne niemanden, auf den diese Beschreibung passen könnte.”
Jasmine blickte sie trotzdem besorgt an. “Auf jeden Fall musst du vorsichtig sein, okay?”
Skye war immer vorsichtig. Das war eines ihrer größten Probleme. Sie war zu misstrauisch, um sich anderen Menschen zu öffnen. Manchmal fühlte sie sich, als würde sie in einer dieser Schneekugeln leben und alle anderen befanden sich auf der anderen Seite der Glasscheibe.
“Das bin ich”, versprach sie. Sie beschloss, sich von Jasmines Traum nicht verunsichern zu lassen. Der Name Kate war weit verbreitet. Genauso gut konnte es sich bei der Kate aus Jasmines Traum auch um eine Erwachsene gehandelt haben. Außerdem war sich noch nicht einmal Jasmine selbst sicher, ob diese Bilder eine Bedeutung hatten oder nicht.
“Was glaubst du denn, hat diesen Albtraum ausgelöst?”, fragte sie.
Jasmine ließ sich auf den Stuhl ihr gegenüber sinken. “Sheridan hat mir von der Schießerei in deinem Haus erzählt. Vielleicht hat es damit zu tun.”
“Wahrscheinlich”, stimmte Skye zu. Sie versuchte, sich abzulenken, indem sie ihrer Freundin von der Benefizgala berichtete. Dass sie zwanzigtausend Dollar mehr eingenommen hatten als erhofft und sie zu einem Mittagessen mit Senator Denatorre und dem Bürgermeister eingeladen war.
“Das ist großartig!” Endlich lächelte Jasmine. “Und hast du dich mit Charlie amüsiert? Ist er nüchtern geblieben?”
“Ich glaube schon.”
“Du weißt es nicht?”
“Ich bin nach Hause gegangen, bevor die Party zu Ende war.”
“Also was die Romantik betrifft, war der Abend ein ziemlicher Reinfall, was?”
“Ziemlich”, murmelte Skye, ohne Jasmine anzusehen. Sie sah keinen Anlass, ihr von der Begegnung mit David zu erzählen. Dieses Zusammentreffen war so intim gewesen, hatte sie so tief berührt, dass sie dieses Geheimnis wohl mit ins Grab nehmen würde. Es sei denn, eine gewisse Gewichtszunahme in etwa sechs Wochen würde allen verraten, dass an dem Abend doch etwas vorgefallen sein musste.
David hatte gewusst, dass der Anruf kommen würde, aber Lynnette ließ sich länger Zeit als erwartet. Er war bereits mit Jeremy frühstücken gewesen und dann zum Einkaufszentrum hinübergegangen, um ihm ein Paar neue Basketballschuhe zu kaufen. Da klingelte sein Handy.
“Du hast Jeremy einem Babysitter überlassen, damit du mit Skye Kellerman zusammen sein kannst?”, wollte sie ohne Begrüßung wissen.
Die Stimme seiner Exfrau klang ätzend wie Säure. Da kam sie nun, seine Rechnung. Er versuchte, sich einzureden, dass das Foto in der Zeitung alles noch schlimmer gemacht hatte. Aber es waren die Bilder in seinem Kopf, die ihn schuldig sprachen.
“Es war ein Wohltätigkeitsball, Lynnette.” Er wollte schon sagen, es sei keine große Sache gewesen, aber das wäre Skye gegenüber zu respektlos. Für ihn war es gestern Abend eine sehr große Sache gewesen. Wenn er die Augen schloss, hörte er wieder, wie sie sehnsüchtig seinen Namen hauchte, fühlte, wie sie sich an ihn schmiegte …
“Ein Wohltätigkeitsball, zu dem du mit ihr gegangen bist, David. Versuch dich nicht rauszureden.”
“Du hast doch sicher von der Schießerei gehört”, sagte er in der Hoffnung, das Gespräch auf ein weniger brenzliges Thema zu lenken. Lynnette musste von dem Überfall auf Skye gehört haben. Sie schien eine Antenne dafür zu haben und alles aufzuschnappen, was mit Skye zu tun hatte. Und von der Schießerei hatten alle Zeitungen berichtet.
“Was hat das denn mit dir zu tun?”
“Ich versuche, sie zu beschützen.”
“Indem du mit ihr ins Bett gehst?”
Er schwieg.
“Glaubst du wirklich, Jeremy hätte nicht erwähnt, dass du eine Frau bei dir hattest? Dass sie aus deinem Bett kam? Ich bin bestimmt keine Heilige, David. Aber mein Sohn hat in meinem Bett ganz bestimmt noch keinen fremden Mann vorgefunden. Und ich habe dich auch nicht lächerlich gemacht, indem ich auf der Titelseite der Bee erscheine – mit jemand anderem im Arm und einem Blick, als würde ich ihm am liebsten die Kleider vom Leib reißen.”
David steuerte auf die Videoabteilung zu, um Jeremy abzulenken. Er wollte nicht, dass er das Gespräch mit anhörte. Er bedeckte das Mikrofon mit einer Hand und deutete mit dem Kopf auf eine brandneue Spielekonsole. “He, Kumpel, sieh doch mal, was sie dort haben! Sieh dir das doch mal näher an!”
Das musste er Jeremy nicht zweimal sagen. Der Junge rannte hinüber, ließ seine Tasche mit den neuen Schuhen fallen und begann zu spielen. David zog sich zwischen zwei Regale zurück. “Ich hatte keine Ahnung, dass Jeremy am Freitagmorgen kommen würde. Meine Mutter hat mich überraschend besucht und ihn mitgebracht.”
“Vielleicht wäre das nicht passiert, wenn du ehrlich zu mir gewesen wärst.”
“Ich habe dich nie angelogen, Lynnette.”
“Du hast gesagt, du willst zu mir zurückkommen.”
“Ich habe offen gestanden Probleme damit.” In letzter Zeit kam ihm die Vorstellung, zu ihr zurückzugehen, wie eine lebenslängliche Gefängnisstrafe vor.
“Was soll das heißen? Bist du jetzt mit ihr zusammen?”
“Ich weiß es nicht. Ich möchte gern mehr Zeit mit ihr verbringen. Mehr kann ich dazu nicht sagen.”
“Also hast du mit ihr geschlafen?”
David blickte zu Jeremy hinüber, der mit vollem Körpereinsatz die Konsole bediente. Bei dem Anblick seines Sohnes, der immer noch so klein und verletzlich war, regte sich sein schlechtes Gewissen. “Ich möchte darüber nicht reden.”
Er hörte, wie sie am anderen Ende nach Luft schnappte. “Du hast mit ihr geschlafen!”
Betreten lehnte er den Ellbogen auf das Verkaufsregal zu seiner Rechten. Er war einfach nicht fähig, sich zu opfern, um das zu tun, was er hätte tun müssen. Trotz all seiner Bemühungen ließ er sie letztendlich im Stich.
“David?”
“Nicht jetzt, Lynnette.”
“Ich war ehrlich zu dir!”
Er zögerte, suchte nach Worten, um es zu erklären. Da wurde ihre Stimme plötzlich leiser, und sie begann zu weinen. “Liebst du sie?”, fragte sie schluchzend.
Verdammt. Wie hatte er es bloß geschafft, so ein Chaos anzurichten? Er rieb sich die Stirn und überlegte, wie er es ihr am schonendsten beibringen sollte. “Lynnette, ich brauche etwas Zeit. Ich … muss herausfinden, wer sie bedroht. Ob es was mit Burke zu tun hat, ob Burke sich ein neues Opfer gesucht hat. Das ist im Moment am wichtigsten. Danach kann ich darüber nachdenken, was ich empfinde. Im Moment passiert einfach viel zu viel.”
“Ich habe nicht nach Burke gefragt!”
“Aber wie ich schon sagte, ich muss mich jetzt damit beschäftigen. Das andere …”
“Dad, sieh doch mal! Sind die Computerbilder nicht cool?”
David brachte ein schwaches Lächeln zustande, als er seinem Sohn ein Zeichen machte, um ihm zuzustimmen. “… müssen wir später besprechen, okay?”
“Wieder einmal geht dein Job vor. Aber ich kann nicht einfach mein Leben anhalten, bis du wieder Zeit hast!”
“Hier geht es um Leben und Tod.”
“Und meine Gefühle zählen gar nicht? Du brauchst mich nicht mehr. Ich bin fehlerhafte Ware, du willst dich mit mir nicht belasten. Vor allem, wo du jetzt eine so schöne Frau ficken kannst, während du deinen Job erledigst. Wie kann ich denn mit so einer einmaligen Gelegenheit konkurrieren?”, tobte sie und legte auf.
David unterdrückte ein Stöhnen, während er das Gespräch beendete. Fast sofort danach klingelte es erneut. Auf dem Display erschien die Nummer seiner Mutter.
Auf keinen Fall würde er dieses Telefonat jetzt annehmen.
“Dad?”
David schaltete sein Handy auf stumm und schob es in seine Hosentasche. “Was denn?”
“Bekomme ich eine?”
“Nein, Kumpel. Nicht heute.”
“Bihiiiiitte …?”
Es war nicht so einfach, sich so weit zu konzentrieren, dass er vernünftige Antworten geben konnte. Er war einfach zu aufgewühlt. “Vielleicht zu deinem Geburtstag.”
“Der ist doch erst wieder in einem Jahr! Kann ich nicht das Geld dafür verdienen?” Jeremy blickte ihn mit großen hoffnungsvollen Augen an. “Ich könnte dein Auto waschen und … den Müll raustragen und …”
“Du hast doch schon eine Konsole”, unterbrach David seinen Sohn, bevor die Liste der Dienstleistungen noch länger wurde. “Und du hast drei neue Spiele zu Weihnachten bekommen.”
“Aber sie ist immer bei dir, in deiner Wohnung.”
“Das soll sie ja auch. Bei deiner Mom kannst du draußen tausend Dinge tun und mit den Kids aus der Nachbarschaft spielen, nicht wie in meinem Apartmentblock.”
“Du sagst immer, du kommst zurück, und dann machst du’s doch nicht. Wenn meine Freunde zu mir kommen, habe ich keine Konsole da. Es wäre doch in Ordnung, wenn ich ab und zu mal damit spielen würde, oder?”
David wusste, dass sein Sohn keine zweite Spielekonsole brauchte. Aber wenn er bedachte, was aus dem Vorsatz wurde, wieder mit Jeremys Mutter zusammenzukommen … Irgendwie hatte er das Gefühl, dass er ihm etwas schuldete.
“Na gut”, sagte er und warf seine Kreditkarte auf den Tresen.
Bei dem plötzlichen Sieg fiel Jeremy der Kiefer herunter. “Danke, Dad! Du bist der Beste!” Er warf ihm die Arme um die Taille und drückte ihn. Aber irgendwie fühlte sich David dadurch nicht besser. Statt Jeremy die wirklich wichtigen Dinge zu geben – einen Vater, der zu Hause war, eine Familie –, versuchte er ihn mit Konsumgütern abzuspeisen.
Er legte genau das Verhalten an den Tag, das er unbedingt hatte vermeiden wollen …
“Ich will dich sehen.”
Jane hielt den Atem an, während sie auf Noahs Antwort wartete. Sie stand hinter dem Haus, also neben dem stinkenden Müllcontainer. Aber der Rauch ihrer Zigarette half das Schlimmste zu überdecken. Außerdem war sie viel zu besorgt, um sich von kleineren Ärgernissen ablenken zu lassen. In der vergangenen Woche hatte sich Noah zu merkwürdig verhalten – seit Oliver aus dem Krankenhaus gekommen war. Als wenn er sich persönlich für dessen Stichverletzung verantwortlich fühlte. Er kam oft zu Besuch, brachte meist etwas zu essen oder ein Video mit, um seinen Bruder zu unterhalten, während der sich erholte. Doch wenn er da war, sah er Jane kaum an. Die beiden Männer redeten und lachten, als wären sie nicht drei Jahre getrennt gewesen.
Jane hatte sich noch nie einsamer gefühlt.
“Das können wir nicht machen, das weißt du doch genau”, sagte Noah.
“Heißt das, du willst mich überhaupt nicht mehr?”
“Ich will damit sagen …” Er schien nach Worten zu suchen. “Seit Skye Kellerman bei mir im Büro aufgetaucht ist, hat sich irgendwie … alles verändert.”
Skye? Schon wieder? “Inwiefern?”, fragte sie und dachte mit aufsteigender Panik daran, dass sie nun ihre einzige Unterstützung verlor. Das Leben war schwer genug. Sie schaffte das alles nicht ohne Noah, nicht jetzt. Sie musste erst wieder auf die Beine kommen. “Sie hat es niemandem erzählt. Oliver weiß es nicht. Er hat nicht einmal einen Verdacht.”
“Jane … bitte versteh mich! Ich will dich nicht verletzen! Ich weiß, dass du eine Menge durchgemacht hast. Es ist einfach nur, dass … Als sie hierherkam und mich darauf ansprach, habe ich mich wie Abschaum gefühlt, und das möchte ich nicht. Ich … ich habe eine gute Ehefrau, Jane. Es ist ein Wunder, dass Wendy immer noch bei mir ist, nachdem ich so … distanziert war. Ich will meine Familie nicht verlieren – Wendy und die Kinder oder Oliver und meine Eltern.”
“Dann kannst du deine Gefühle für mich einfach abstellen? Einfach so?” Ihre Zigarette war bereits gefährlich weit heruntergebrannt. Aber sie beobachtete einfach nur, wie die Glut weiter an dem weißen Papier fraß.
“Es ist nicht leicht, aber ich sehe keinen besseren Weg, um das wiedergutzumachen, was wir getan haben. Durch eine Beichte würde die Situation sicher nicht besser werden.”
Er hatte also darüber nachgedacht, Wendy alles zu sagen. Sonst hätte er das jetzt nicht erwähnt. Jane hatte immer gewusst, dass seine Schuldgefühle zum Problem werden würden. Doch sie hatte gedacht, dass seine Gefühle für sie stärker wären. “Ich trage dieses kleine Minikleid, das dir so gefällt. Und … und ich habe was mit meinen Haaren gemacht. Sie sind jetzt kurz und blond.” Sie bemühte sich, ihrer Stimme einen vollen Klang zu geben, um sexy und nicht verzweifelt zu klingen. “Ich könnte ins Büro kommen, wenn alle weg sind. Wir könnten es auf dem Schreibtisch machen, so wie vor ein paar Wochen. Das hat dir doch gefallen, oder?”
“Ja.” Aber seine Stimme klang flach.
“Was meinst du? Wir könnten es ganz schnell tun, damit du nicht zu spät zum Abendessen kommst.”
Zumindest zögerte er, bevor er sie abwies. “Nein, Jane. Es ist aus. Ich möchte nicht mehr betrügen und lügen. Ich möchte mich selbst respektieren.”
Bei der Vorstellung, dass sie nach Hause gehen musste, ohne dieses stärkende Gefühl, von Noah noch begehrt zu werden, überkam Jane Verzweiflung. Hilflosigkeit. Oliver war noch nicht gesund genug, um Sex haben zu wollen, aber er wurde von Tag zu Tag kräftiger. Heute hatte er sie angerufen, um ihr zu sagen, dass er eine Fahrradtour machen würde. Er holte sogar Kate von der Schule ab, statt es seiner Mutter zu überlassen. Jetzt, wo er langsam wieder beweglicher wurde, konnte es nicht mehr lange dauern, bis er wieder Sex haben wollte.
Aber sie war nicht daran interessiert. Er war so übellaunig. Es hatte immer Phasen gegeben, in denen er mürrisch gewesen war und in sich gekehrt. Sie hatte mit der Zeit gelernt, zu warten, bis er es überstanden hatte. Doch seit seinem Gefängnisaufenthalt wechselte seine Stimmung drastisch. Manchmal redete er kaum mit ihr. Wann immer sie ihn fragte, ob es ihm gut ginge, erklärte er ihr, er müsse allein sein; dann schloss er sich mit seinem Notizbuch im Schlafzimmer ein. Oder er saß einfach im Dunkeln und tat gar nichts. Und dann wieder war er so freundlich und gesellig wie nie. Redete sogar davon, einen Grillabend für ihre alten Freunde zu veranstalten, um alle wiederzusehen.
Offensichtlich verstand er nicht, dass die meisten ihrer früheren Freunde nicht am Umgang mit einem verurteilten Sexualstraftäter interessiert waren. Dass er von ihnen genauso ignoriert werden würde wie Jane. Natürlich hatte sie ihm das gesagt, mehrere Male. Aber er schien es nicht zu begreifen. Genauso wenig, wie ihm klar war, dass sie finanziell gerade mal so überlebten. Wie konnten sie es sich leisten, eine Party zu geben? Und warum sollten sie diesen Leuten, die mit ihren großen Häusern, ihren Autos und Jachten protzten, zeigen, in welchem Müllhaufen sie jetzt lebten?
“Das war es also?”, sagte Jane. “Du willst mich nicht mehr sehen?”
“Ich möchte niemanden betrügen. Verstehst du das, Jane?”
Sie verstand es. Eigentlich bewunderte sie ihn sogar dafür. Sie wusste nur nicht, wie sie seine Zurückweisung aushalten sollte.
Die Zigarettenglut verbrannte ihr die Finger, und sie warf schließlich den Stummel weg. Ihre Hand tat weh, aber das war gar nichts gegen den Schmerz in ihrem Inneren.
Ein Piepton zeigte ihr an, dass jemand versuchte, sie zu erreichen.
“Ich lege dann auf”, sagte Noah.
Jane antwortete nicht. Sie sah auf das Display. Oliver rief sie an.
“Jane?”
Wieder sagte sie nichts, erwähnte auch den zweiten Anrufer nicht. Sie hoffte, er würde nicht auflegen. Aber er beendete das Gespräch trotzdem. “Es tut mir leid.” Dann kam ein Klicken.
Wie benommen stand Jane in dem kühlen Wind und betrachtete die glimmende Kippe auf dem Asphalt. Oliver wollte mit ihr reden. Und er war alles, was sie noch hatte.