23. KAPITEL

“Grandma war aber heute Abend nicht besonders nett”, beschwerte sich Jeremy.

David blickte in den Rückspiegel. Es war schon nach Mitternacht, aber sein Sohn schien noch hellwach. Sie fuhren gerade von Skye nach Hause. “Ich fürchte, sie ist im Moment nicht besonders gut auf mich zu sprechen”, sagte er zu seinem Sohn.

“Sie meint, du wärst ein Schwein und Abschaum wie alle Männer.”

David hätte am liebsten eine Bemerkung dazu gemacht, was für eine alte Schreckschraube sie wäre. Aber er beherrschte sich. “Manchmal, wenn Leute böse sind, dann sagen sie etwas, was sie nicht so meinen”, entgegnete er. Für ein Schwein, dachte er bei sich, fiel diese Antwort ziemlich großzügig aus.

“Hat Mommy deshalb gesagt, du wärst schlimmer als Grandpa? Dass du einfach weglaufen wirst und uns allein lässt und dir sogar egal ist, ob sie stirbt?”

“Sie wird nicht sterben.” Das hoffte er zumindest. “Und ich werde euch auch nicht verlassen, das musst du mir glauben. Deine Mutter und Grandma sind einfach im Moment ein bisschen durcheinander.”

Schweigen folgte in den nächsten Sekunden, dann meldete sich Jeremy erneut. “Ich habe gehört, wie Mom zu Grandma gesagt hat, dass Skye die Beine für dich breit macht.”

David wurde zornig wie noch nie. Lynnette sollte wirklich vorsichtiger sein, was sie in Gegenwart ihres Sohnes sagte. “Was soll denn das heißen?”, fragte er scheinheilig.

Jeremy zog die Nase kraus. “Das wollte ich dich auch fragen.”

“Deine Mom sollte gar nicht über Skye reden. Sie kennt sie ja gar nicht und ist ihr noch nie begegnet.”

“Ich weiß. Skye ist nett. Ich mag sie.”

“Ich auch.” Sehr sogar. Der heutige Abend war völlig anders verlaufen als erwartet. Und es war für ihn und Jeremy im Augenblick genau das Richtige gewesen. Sie hatten zu dritt zu Abend gegessen und sich danach Cars angesehen, den sie unterwegs in der Videothek ausgeliehen hatten. Danach wollten sie eigentlich Eis essen, aber Jeremy erzählte Skye, dass sie seinen achten Geburtstag letzten Monat verpasst hatte. Und dann bestand sie darauf, ihm zum Eis einen Kuchen zu backen. Jeremy liebte all die Aufmerksamkeit, und er hatte sie auch verdient. David war in letzter Zeit zu sehr mit seiner Arbeit beschäftigt gewesen, und Lynnettes gesundheitliche Probleme hatten sie dermaßen überwältigt, dass sich alles nur um sie selbst drehte. David befürchtete, dass sie im Moment nicht gerade sehr sensibel mit ihrem Sohn umging. Was sich angesichts ihrer letzten Äußerung in seiner Gegenwart bestätigte.

“Hat dir der Film gefallen?”, fragte David, um das Thema zu wechseln. Er hoffte, das Gespräch, das er unbedingt mit seinem Sohn führen musste, auf morgen früh verschieben zu können.

“Jaaa!”

David und Skye hatten sich in Gegenwart Jeremys absichtlich nicht berührt. Deshalb fühlte David sich gerade ein bisschen aufgekratzt und unbefriedigt. Aber er hoffte, dass ihr freundschaftliches Verhalten seinen Sohn etwas beruhigt hatte.

“Werden wir Skye noch mal besuchen?”, wollte Jeremy wissen.

David umklammerte das Lenkrad fester. Fast fürchtete er sich davor, die Frage zu stellen, die ihm unwillkürlich auf den Lippen lag. “Möchtest du das gerne?”

Sein Sohn zögerte. “Kommst du dann nicht wieder zu uns nach Hause?”

Offensichtlich mussten sie das Gespräch doch noch heute Abend führen. David wollte erst an den Straßenrand fahren und anhalten, damit er seinem Sohn die ganze Aufmerksamkeit widmen konnte. Dann fürchtete er jedoch, dass diese Aktion alles dramatisieren und Jeremy erschrecken könnte. Deshalb fuhr er weiter.

“Jeremy, ich werde nicht wieder zu Hause einziehen. Aber das hat nichts mit Skye zu tun.”

Sein Sohn blickte ihn entsetzt an, dann traurig. “Warum nicht?”

“Du kannst dich doch noch erinnern, dass du mit Josh Palmer in der zweiten Klasse richtig eng befreundet warst, nicht?”

“Ja.”

“Aber inzwischen trefft ihr euch kaum noch, oder?”

“Nein.”

“Du hast mir doch erzählt, dass das daran liegt, dass ihr beide jetzt so viele unterschiedliche Dinge tut.”

“Das stimmt. Ich spiele Fußball in der Pause und er Schlagball.”

“Aber du magst ihn doch noch, oder?”

“Klar.”

“Genauso geht es mir mit Mom. Wir haben früher die gleichen Dinge gern gemacht, aber im Laufe der Jahre haben wir uns verändert. Inzwischen sind wir ziemlich verschieden, interessieren uns für unterschiedliche Sachen. Deshalb geht es nicht mehr so gut, wenn wir zusammen sind.”

“Aber sie sagt, du lässt sie allein … sterben.”

“Ich werde mich um sie kümmern, so gut es geht. Das verspreche ich.”

Jeremy schwieg.

“Verstehst du das?”, hakte David nach.

“Ich glaube ja.” Er starrte auf seine Füße. “Dann bleibt ihr geschieden, ja?”

Diese knappe Aussage ließ David zusammenzucken. Sie machte ihm so richtig bewusst, dass er versagt hatte. Aber er musste der Realität ins Auge sehen. Wenn er es verdrängte, würde er nur das Unausweichliche hinauszögern. “Das ist richtig. Aber das wäre auch so, wenn ich Skye nicht wiedersehen würde. Du brauchst ihr also nicht die Schuld dafür zu geben, sie hat damit nichts zu tun.” David wünschte, es gäbe einen einfacheren Weg, ihm das alles zu sagen, aber etwas anderes fiel ihm nicht ein. “Es tut mir leid, Kumpel. Deine Mom und ich haben lange versucht, dass es funktioniert – vor allem, weil du uns so viel bedeutest.”

“Das ändert sich doch nicht, oder?” Jeremy sah schließlich wieder hoch.

David fuhr nun doch an den Straßenrand und drehte sich zu seinem Sohn um. Jetzt war diese dramatische Geste durchaus angebracht. “Nein, das ändert sich nicht. Egal was passiert.”

Skye fürchtete sich heute Nacht mehr als je zuvor, und diesmal ging es nicht um die unmittelbare körperliche Bedrohung. Sie war sich inzwischen ziemlich sicher, dass Lorenzo von jemand anders als Burke geschickt worden war. Jemand, der gut über sie Bescheid wusste und auch ihre Adresse hatte. Doch es fiel ihr schwer zu glauben, dass Noah derjenige war.

Wie auch immer: Sie war heute Abend viel zu aufgeregt, um das Rätsel zu lösen. Die Liste der Möglichkeiten war viel zu lang, und Hinweise gab es kaum. Im Moment beschäftigte sie eher etwas, das ihr noch viel bedrohlicher vorkam. Vier Jahre hatte sie nun wie besessen versucht, ihr Zuhause zu einer sicheren Festung zu machen. Sie benutzte ein Postfach statt ihrer Adresse. Sie hob Gewichte und trainierte fanatisch. Inzwischen hatte sie genug Schießübungen hinter sich, um eine Büchse aus fünfzig Metern Abstand zu treffen. Gefährliche Situationen konnte sie bereits sehr schnell erfassen und sich auch gut verteidigen. Doch eines hatte sie seit der Begegnung mit Burke nicht gelernt, nämlich das genaue Gegenteil: Jemandem zu vertrauen, sich zu öffnen, zu lieben und sich lieben zu lassen. Sich nach einer Beziehung mit David zu sehnen war, als würde sie eine potenzielle Gefahr erkennen und trotzdem unbewaffnet darauf zuzugehen. Und das widersprach vollkommen ihrem Instinkt, sich zu schützen.

Aber wenn sie diese Chance nicht ergriff und ihren Gefühlen nicht nachgab, würde sie womöglich etwas versäumen, was sich ihr nun in ihrem Leben bot, etwas wirklich Wunderbares.

Sie wünschte nur, es wäre nicht so schwierig, die Situation nicht so verfahren. David hatte ihr erzählt, dass bei Lynnette Multiple Sklerose diagnostiziert worden war. Aufgrund ihrer Krankheit hatte er Schuldgefühle, weil er sich von ihr trennte. Und Skye bekam ebenfalls ein schlechtes Gewissen, da sie zum Teil der Grund dafür war. Kein Wunder, dass Lynnette ihn so verzweifelt an sich zu binden versuchte.

Und dann das Baby. Was, wenn David zu früh erfuhr, dass sie schwanger war? Sie würden nie herausfinden, ob sie unabhängig davon eine Beziehung eingegangen wären.

Es blieben ihr ungefähr vier Monate, bevor man es sehen konnte. Würde das ausreichen?

Zum ersten Mal nach langer Zeit verspürte sie das Bedürfnis, mit Jennifer oder Brenna zu reden. Seitdem sie Jennifer von Burkes Entlassung erzählt hatte, waren ihre Anrufe bei den beiden nur reine Pflichtgespräche gewesen. Sie hatte auch kurz mit Joe telefoniert, doch dabei war sie nur unpersönlich höflich und freundlich geblieben. Jetzt würde sie gern auf sie zugehen, offener reden – zum Beispiel fragen, wie sie es schafften, trotz der Angst vor Verlust jemanden zu lieben. Etwas, wozu sie, Sheridan und Jasmine offensichtlich nicht mehr in der Lage waren. Sie hatten The Last Stand gegründet, um durch die Hilfe, die sie anderen zukommen ließen, ihr eigenes Leben wieder in den Griff zu bekommen. Doch in gewisser Weise hatten sie damit das Gegenteil erreicht. Die Schrecken, mit denen sie täglich konfrontiert wurden, rissen ihre eigenen Wunden immer wieder neu auf. Das wurde Skye jetzt klar, sosehr sie auch in ihrer Arbeit aufging. Die Fotos an der Wand ihres Büros erinnerten sie ständig daran, wie tief sich die Kluft zwischen ihrem jetzigen Leben und der Unschuld von früher zog.

Wurde es Zeit, endlich zu vergessen? Ihre Waffen wegzulegen und endlich zu leben?

David hatte Probleme, sie hatte Probleme und Lynnette ebenfalls. Vielleicht waren sie in der Lage, sie zu beheben, vielleicht auch nicht. Aber sie würde die Herausforderung annehmen. Ihre Liebe zu David war stark genug, um es zu versuchen.

Sie hoffte, dass er genauso fühlte.

Skye nahm den Hörer ab und wählte Jennifers Nummer, obwohl es schon nach Mitternacht war.

“Hallo?” Überraschenderweise meldete sich ihre Schwester nach dem ersten Klingeln. Sie klang hellwach.

“Ich bin’s.”

“Ist alles in Ordnung?”, fragte Jennifer sofort besorgt.

“Mir geht es gut, keine Panik.”

Jennifer atmete hörbar erleichtert aus. “Hast du herausgefunden, wer Lorenzo zu dir geschickt hat?”

“Nein. Aber ich rufe nicht an, um darüber mit dir zu sprechen.”

Es herrschte kurzes Schweigen. “Warum denn?”

Skye lächelte vor sich hin und legte sich die Hand auf den Bauch. Sie fragte sich, wie es sich anfühlen würde, wenn die Schwangerschaft weiter fortschritt. “Ich glaube, ich bin verliebt.”

“In den Detective, von dem du mir erzählt hast?”

“Ja.”

“Das ist doch gut, oder?”

“Außer, dass mir das noch mehr Angst einjagt als alles andere.”

Jennifer lachte leise. “Habt ihr euch denn inzwischen besser kennengelernt?”

“Er hat heute seinen Sohn mitgebracht, Jen. Es war das erste Mal, dass wir einen Abend zusammen mit Jeremy verbracht haben, und es war …”

“Was?”

Skye musste wieder lächeln. “Wundervoll.”

“Also magst du den Jungen?”

Skye schloss die Augen und sah wieder das Grinsen auf Jeremys Gesicht, als sie die Kerzen auf seinem Kuchen anzündete. “Ja. Er ist ein Schatz.”

“Meinst du, du könntest ihn lieben?”

“Da bin ich ganz sicher.”

“Wo liegt denn das Problem?”

“Was ist, wenn ich es zulasse und mich Hals über Kopf da reinstürze, und dann … funktioniert es nicht?” Was war, wenn sein schlechtes Gewissen ihn drängte, zu Lynnette zurückzukehren?

“Du wirst verletzt sein, so wie der Rest von uns auch auf Zurückweisung reagiert. Und dann wirst du dich wieder aufrappeln, den Staub abklopfen und neu anfangen. Liebeskummer gehört zum Leben dazu, Skye. Wenn du dich davor schützt, lebst du nicht richtig.”

Natürlich wusste sie das auch schon selbst. Noch vor dem Anruf bei Jennifer hatte sie sich das immer wieder gesagt. Doch es war wichtig, es noch einmal von jemand anderem zu hören. “Ich soll ihn also nicht anrufen und ihm sagen, dass ich ihn nie wiedersehen will?”

“Nein!”, rief ihre Stiefschwester lachend. “Du solltest besser etwas Schlaf bekommen und sehen, was der Morgen bringt.”

“Richtig. Schlafen”, wiederholte Skye. Und zum ersten Mal nach Burke überprüfte sie die Türen und Fenster nicht immer wieder von Neuem, bevor sie ins Bett ging.

Es wurde Zeit, wie ein normaler Mensch zu leben. Auch wenn das bedeutete, sich auf etwas einzulassen, das so unbeständig und launisch war wie die Liebe.

Das Klingeln des Telefons drang unheilvoll in ihren Schlaf. Skye rührte sich nicht und versuchte den Ton zu ignorieren – bis ihr einfiel, dass es Sheridan oder Jasmine sein könnten. Wenn eine von ihnen sie um diese Zeit anrief, musste es wichtig sein.

Benommen rollte sie sich herum, um nach dem Hörer zu greifen, und hätte das Telefon dabei fast vom Nachttisch gestoßen. “Hallo?”

“Skye, hier ist David.”

Sie rieb sich die Augen und versuchte wach zu werden. “Ist was passiert?”

“Nichts, worüber du dir Sorgen machen solltest, nur mein Job. Ich bin gerade angerufen worden. Jemand ist auf einem leeren Parkplatz über eine Leiche gestolpert, und ich muss dorthin fahren. Wäre es möglich, dass du den Rest der Nacht hier verbringst? Damit jemand bei Jeremy ist?” Es war ihm offensichtlich peinlich, sie zu fragen. “Es tut mir leid, dich darum zu bitten”, sagte er leise. “Aber ich kann Lynnette einfach nicht erreichen. Ich habe keine Ahnung, ob sie noch durch die Gegend zieht und trinkt oder mit jemandem nach Hause gegangen ist oder …”

“Kein Problem. Ich werfe mir nur ein paar Sachen über und fahre sofort los.”

“Dann hast du gar nichts an?”

Sie lachte darüber, wie leicht er sich ablenken ließ. “Doch, etwas schon.”

“Trotzdem gefällt mir die Vorstellung.”

“Wir sehen uns gleich bei dir”, sagte sie lächelnd.

Das nächste Mal wurde Skye von den Geräuschen eines Zeichentrickfilms aus dem Wohnzimmer geweckt. War David schon zurück? Sie war sich nicht sicher, aber Jeremy schien ganz offensichtlich wach zu sein.

Mit einem unterdrückten Gähnen setzte sie sich auf und versuchte kurz, zu sich zu kommen. Dann schlüpfte sie aus dem Bett, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und putzte sich die Zähne. Sie wollte Jeremy nicht erschrecken, falls der hier nach seinem Vater suchte.

Aber Jeremy schien überhaupt nicht überrascht darüber, sie zu sehen. “Habe ich dich geweckt?”, fragte er ängstlich.

“Nein”, log sie. Es bestand kein Grund, ihm ein schlechtes Gewissen einzureden, weil er den Fernseher angeschaltet hatte.

“Gut. Mein Dad meint, ich soll dich nicht aufwecken.”

Sie setzte sich auf die Couchlehne. “Hast du heute Morgen schon mit ihm gesprochen?”

“Ja, er ist bei der Arbeit. Er sagt, du sollst ihn anrufen, wenn du aufgestanden bist.”

Sie konnte kaum glauben, dass sie das Telefon nicht gehört hatte. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie in den vergangenen vier Jahren dermaßen tief geschlafen hatte. “Er muss ganz schön müde sein, nachdem er die ganze Nacht auf war.”

“Es ist nicht leicht, ein Polizist zu sein”, sagte Jeremy, und Skye musste über seinen ernsten Tonfall grinsen.

Sie ließ ihn einen Moment mit seinem Trickfilm allein und ging in die Küche, um David anzurufen.

“Hallo, wie hast du geschlafen?”, erkundigte er sich zärtlich, und bei dem Klang seiner Stimme wurde ihr sofort warm.

“Richtig gut.” Es gefiel ihr, hier in seiner Wohnung zu sein, wo sie noch einen leichten Hauch von ihm in den Laken riechen konnte. Sie mochte ihn wegen ihrer Schwangerschaft nicht anlügen, aber sie fand, dass sie zurzeit genug Veränderungen durchmachten. Sich dem Risiko der Liebe zu öffnen war eine Sache. Die Beziehung gleich am Anfang zu gefährden war eine andere. “Wo bist du?”

“Immer noch am Tatort.”

“Was ist denn gestern Nacht passiert?”

Er antwortete nicht sofort.

“David?”

“Vielleicht solltest du dich erst mal hinsetzen.”

Sie umklammerte den Hörer fester. “Warum?”

“Du kennst das Opfer, Skye.”

“Ja?” Sie atmete einmal tief durch. “Wer ist es?”, fragte sie zittrig.

“Sean Regan.”

Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken. Armer Sean. Sie hatte versucht, es zu verhindern, aber es war umsonst gewesen … “Bist du sicher?”

“Er trug ein Armband, das auf seinen Diabetes hinwies”, sagte David.

“Ich wusste nicht, dass er zuckerkrank war.”

David schwieg einen Moment, damit sie die Nachricht verdauen konnte.

“Wer hat ihn gefunden?”, fragte sie.

“Ein Mann namens John Roberti. Die Leiche lag im Bach auf einem unbebauten Grundstück hinter einem Kiosk.”

“Wie ist er getötet worden?”

“Der Körper war schon zu verwest, um das jetzt sagen zu können. Jemand hat ihn in eine Tonne gestopft und ins Wasser geworfen. Offenbar hat er da eine Weile gelegen. Wenn Sommer wäre, hätten wir womöglich …”

Er ließ den Satz unbeendet, aber sie wusste, was er hatte sagen wollen: Dann hätten sie nur noch Knochen vorgefunden.

Sie schlug sich die Hand vor den Mund, um gegen die plötzliche Übelkeit anzukämpfen, die in ihr aufstieg. Das war der Mann, mit dem sie vor Weihnachten in ihrem Büro gesprochen hatte. “Gibt es irgendeinen Hinweis darauf, wer ihn getötet hat?”

“Wir suchen die Tonne natürlich nach Fingerabdrücken und anderem ab. Es hat aber so stark geregnet, dass wir keine Schuhabdrücke oder Reifenspuren finden werden. Der Pathologe wird womöglich etwas mehr sagen können, wenn er den Toten untersucht hat.”

“Es war seine Frau”, sagte Skye. Das hatte sie bereits von Anfang an vermutet. “Vielleicht zusammen mit ihrem Liebhaber.”

“Wir kriegen den, der das getan hat, Skye!” David versuchte, überzeugt zu klingen, aber Skye bezweifelte, dass er sehr optimistisch war. Er hörte sich müde an und mitgenommen.

“Jonathan Stivers könnte dabei helfen. Er hat alle möglichen Indizien gegen Mrs. Regan gesammelt.”

“Das hat Mike Fitzer auch gesagt. Er wird ab jetzt die Sache übernehmen. Als wir den Leichnam identifiziert hatten, war mir klar, dass es nicht mehr mein Fall ist.”

“Wird Mike denn mit Jonathan zusammenarbeiten?”

“Inzwischen schon. Es gefällt ihm nicht, wenn er einen ungeklärten Mord auf seinem Schreibtisch hat. Außerdem weiß er, dass ich ihm über die Schulter sehe.”

“Wann kannst du nach Hause kommen?”

“Ich bin schon unterwegs.”

Als es an die Haustür klopfte, richtete Skye sich auf. “Da draußen vor der Wohnung ist jemand.”

“Oh Gott! Sag nicht, es ist Lynnette, um Jeremy abzuholen! Ich komme, so schnell ich kann.” Aber Skye wusste, dass es nicht schnell genug sein würde, um die Konfrontation mit seiner Exfrau zu verhindern. Jeremy war bereits zur Tür gerannt, um zu öffnen. Bevor Skye den Hörer aufgelegt hatte, stand Davids Exfrau in der Wohnung und musterte sie feindselig.

“Tut mir leid, aber David ist noch nicht hier.” Skye fühlte sich so befangen wie noch nie in ihrem Leben. Sie wusste, was jemandem mit MS bevorstehen konnte. Sie hatte eine gute Freundin, die innerhalb von zehn Jahren im Rollstuhl gelandet war.

Lynnette kniff die Augen zusammen, während sie Skyes Spaghettihemd und die Pyjamahose betrachtete. “Was bilden Sie sich ein, wer Sie sind?”

Das war eine dieser typischen rhetorischen Fragen, mit denen man Streit anfing. Oder eine Prügelei.

Skye hob beschwichtigend die Hand und trat einen Schritt zurück. “Hören Sie, das ist jetzt nicht der richtige Augenblick. Ich bin nur als Babysitter hier.”

“Wollen Sie behaupten, dass Sie nicht mit meinem Mann schlafen?”

“Er ist Ihr Exmann.” Skye warf einen bedeutungsvollen Blick auf Jeremy. “Ihr Sohn ist hier.”

“Das stimmt. Mein Sohn. Und ich will nicht, dass Sie in irgendeiner Form mit ihm zu tun haben.”

“Es ist unnötig, ihm noch mehr Kummer zu bereiten”, sagte Skye leise. Aber Lynnette schien im Moment nicht die erforderliche Sensibilität aufbringen zu können, um darauf Rücksicht zu nehmen. Nach den Stilettos, dem Minirock und der weit ausgeschnittenen Bluse zu urteilen, hatte sie eine lange Nacht hinter sich und war noch nicht zu Hause gewesen.

Sie sind die Hure, die ihm Kummer bereitet.” Sie blickte Jeremy mit gerunzelter Stirn an, der das Gespräch mit weit aufgerissenen Augen verfolgte. “Hol deine Sachen. Wir gehen.”

Jeremy, offensichtlich unangenehm berührt von dem ungehobelten Benehmen seiner Mutter, holte seinen Rucksack. Dann schlurfte er mit gesenktem Kopf an Skye vorbei. Als er fast an der Tür war, drehte er sich noch einmal um. “Mach dir keine Sorgen, Skye”, sagte er leise. “Meine Mom mag dich. Sonst hätte sie ja keine Fotos von dir gemacht.”

Obwohl er schnell und leise sprach, hatte Lynnette ihn offensichtlich verstanden. “Ich habe keine Fotos von Ihnen gemacht”, sagte sie schnell. “Er weiß ja gar nicht, wovon er spricht.” Aber angesichts des hinterhältigen Glitzerns in ihren Augen lief es Skye eiskalt über den Rücken.

“Ich lüge nicht!” Jetzt, wo seine Mutter seine Ehrlichkeit anzweifelte, fühlte er sich angestachelt, sich zu verteidigen. “Du hast doch Fotos von ihr auf deinem Handy …”

“Halt die Klappe!”

“Und du hast sie dem Mann mit den großen Löchern im Ohr gezeigt, weißt du das nicht mehr? Da war ein Foto von Skye in einem Auto, und wie sie aus …”

Lynnette griff nach seiner Hand und riss ihn so heftig mit sich, dass er sie überrascht anstarrte.

Skye war versucht, Jeremy wieder ins Apartment zurückzuholen und die Tür zu verriegeln. Es widerstrebte ihr, dass diese Frau den Jungen mitnahm, auch wenn sie seine Mutter war. Aber sie wollte Jeremy nicht das Dilemma zumuten, zwischen ihnen zu stehen. “Lorenzo Bishop”, sagte sie.

“Kenne ich nicht”, entgegnete Lynnette. Dann lief sie schnell los und zerrte Jeremy hinter sich her.

Lynnettes Wagen stand nicht auf dem Parkplatz, als David ankam. Trotzdem beeilte er sich und nahm zwei Stufen auf einmal. Er hoffte, die Begegnung der beiden Frauen war glimpflich abgelaufen.

Skye saß allein am Küchentisch und starrte in die Luft.

“Was ist los?”, fragte er besorgt, als er ihren benommenen Gesichtsausdruck sah.

Sie hob den Kopf. “Deine Exfrau war es. Sie hat mir Lorenzo Bishop geschickt.” Skye klang, als würde sie selbst nicht glauben, was sie da sagte. Deshalb wusste er nicht, was er davon halten sollte.

“Das ist ein Scherz, oder?” Er wusste, dass Lynnette sehr schwierig sein konnte. In letzter Zeit war sie nicht mehr sie selbst gewesen, immer wieder hin- und hergerissen zwischen Hassgefühlen und Verlustängsten, Enttäuschung und Sehnsüchten. Man brauchte manchmal besondere Geduld im Umgang mit ihr. Aber sie würde doch nie im Leben jemanden umbringen wollen. Mit solchen Dingen hatte er vielleicht während seiner Arbeit zu tun – aber so etwas passierte doch anderen Leuten.

“Ich mache keine Scherze”, sagte Skye.

Ihr fester Blick überzeugte ihn schließlich, dass sie es ernst meinte. Trotzdem konnte er es nicht glauben. “Lynnette ist eifersüchtig auf dich, da gibt es keinen Zweifel. Sie hasst dich, weil ich mich die ganze Zeit schon zu dir hingezogen fühle. Als wir versuchten, unsere Ehe wieder zu kitten, war ich in Gedanken immer bei dir. Ich bin sicher, dass sie das gemerkt hat. Deshalb wird sie wahrscheinlich eher dir …”

“Sie hat Lorenzo Bishop Fotos von mir gegeben”, unterbrach Skye ihn. “Ich weiß nicht, woher sie ihn kennt. Aber offensichtlich hat sie mich verfolgt und die Fotos heimlich aufgenommen. Jeremy meinte, sie hätte eins von mir in meinem Auto. Als er erzählen wollte, was es noch für Aufnahmen gibt, hat sie ihm den Mund verboten.”

David fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und suchte krampfhaft nach einer anderen Erklärung dafür. Nach so einer harten Nacht war das starker Tobak. “Das kann einfach nicht wahr sein. Bestimmt hast du dich bezüglich Lorenzo geirrt. Vielleicht war sie es nicht, die dich verfolgt hat. Womöglich hat sie jemanden beauftragt, um herauszufinden, ob wir uns heimlich treffen. Und nach allem, was geschehen ist, denkst du jetzt …”

“Nein. Jeremy hat ganz deutlich gesagt, dass sie die Fotos einem Mann mit riesigen Ohrlöchern gezeigt hat.”

David fühlte sich immer schlechter. Dieses auffallende Piercing in den Ohrläppchen besaßen nicht viele Typen. “Hast du sie zur Rede gestellt?”

“Als ich Bishops Namen nannte, ist sie blass geworden. Sie konnte mir nicht mehr in die Augen sehen. Als sie in die Wohnung kam, war sie total auf Krawall gebürstet, aber danach hat sie sich nur noch Jeremy geschnappt und ist weggerannt.”

David hätte am liebsten weiterhin abgestritten, dass Lynnette zu so etwas fähig war. Doch Eifersucht konnte starke Gefühle provozieren, die manchmal zu Kurzschlusshandlungen führten. Das hatte er schon zu oft erlebt. War er jetzt etwa auch in so eine Geschichte verwickelt wie die dieser Astronautin, die quer durchs ganze Land fuhr, um ihre Rivalin zu töten? Das hatte ihr auch niemand zugetraut.

“Wir haben eine Verbindung zwischen Bishop und Noah Burke gefunden”, sagte er.

Skye schüttelte den Kopf. “Das war im besten Fall eine ziemlich weit hergeholte Verbindung. Jedenfalls nichts wirklich Belastendes.”

Da konnte er nicht widersprechen. Skye hatte recht. Und Lynnette hatte von Oliver Burkes Entlassung gewusst. Ihr waren auch sonst viele Informationen zu dem Fall zu Ohren gekommen – zumindest all das, worüber er sprechen konnte. Niemand sonst wäre sich so sicher gewesen, dass David den Drohanruf und die Initialen “O.B.” auf diesem Zettel sofort mit Oliver Burke in Verbindung bringen würde. Lynnette hatte ihn manipuliert. Er sollte Burke verdächtigen. Wenn Bishops Anschlag auf Skyes Leben geglückt wäre, hätte er sofort in diese Richtung ermittelt. Das war ziemlich clever.

Und ziemlich übel …

“Hat sie Zugang zu deinen Kontaktdaten?”, fragte Skye.

Natürlich. Er hatte in den vergangenen drei Jahren hin und wieder mit Lynnette zusammengewohnt. Sie hätte Skyes Telefonnummer und Adresse leicht auf seinem Handy finden können. Er lud es über Nacht immer auf dem Nachttisch auf. Sie hätte die Einträge durchsuchen können, während er unter der Dusche stand oder in der Küche war oder auf dem Festnetz telefonierte. Möglichkeiten gab es viele …

Er ließ sich auf einen Stuhl sinken und massierte seine Schläfen. Die Verbindung zu Lynnette war einfach zu logisch, um nicht daran zu glauben. Aber er betete um Jeremys willen, dass es noch eine andere Erklärung dafür gab.

Nichts lag ihm ferner, als seine Exfrau wegen versuchten Mordes zu verfolgen. Aber wenn sie tatsächlich getan hatte, was Skye vermutete, dann würde ihm nichts anderes übrig bleiben.

Als Jane die Augen aufschlug, sah sie erleichtert, dass Kate noch schlief. In dem heruntergekommenen Motelzimmer roch es nach Schimmel und wer weiß noch was. Bei der Erinnerung daran, welche Frauen gestern Abend bei ihrer Ankunft hier herumgelungert hatten, wollte sie lieber nicht darüber nachdenken, woher diese Gerüche stammten. Aber wenigstens hatten sie ein Dach über dem Kopf, während sie sich überlegen konnte, was sie als Nächstes tun sollte. Es war ihr gelungen, das Haus ihrer Schwiegereltern mit Kate zu verlassen, bevor es jemand gemerkt hatte. Aber jetzt, am helllichten Tag, begann sie langsam daran zu zweifeln, ob ihr Verdacht und die Panik, die sie angetrieben hatten, tatsächlich gerechtfertigt waren.

Sie hatte im Supermarkt ein paar notwendige Dinge mit ihrer Kreditkarte eingekauft. Dann hatte sie sich sechshundert Dollar Bargeld von der Bank geholt. Damit war ihr Konto überzogen.

Mit sechshundert Dollar würde sie nicht weit kommen. Und sie begann sich zu fragen, ob das, was sie tat, fair war. Oliver würde jetzt ohne einen Pfennig dastehen. Sie wusste nicht, ob ihm überhaupt etwas zustand. Sie war ja diejenige gewesen, die dafür gearbeitet hatte. Aber früher hatte er ihr ganzes Einkommen verdient, und sie hatte es selbstverständlich gern ausgegeben. Wenn sie sich irrte und er tatsächlich wie behauptet unschuldig war, dann hatte sie ihn allein zurückgelassen – ohne Frau, Tochter und ohne Geld. Das würde es ihm noch viel schwerer machen, wieder auf die Füße zu kommen.

War sie womöglich zu hart zu ihm gewesen? Manchmal hatte sie schon das Gefühl. Vor allem, wenn sie sich ihre eigenen Fehler vor Augen hielt. Immerhin hatte sie ihn betrogen. Mit seinem eigenen Bruder! Vielleicht versuchte sie ja unbewusst, mit ihrer eigenen Schuld klarzukommen, indem sie sich vorstellte, dass er noch viel Schlimmeres getan hatte. Das erschien ihr ziemlich plausibel, wenn sie bedachte, wie durcheinander und verletzt sie sich durch Noahs Verhalten fühlte.

Sie hatte keinerlei Beweise dafür, dass Oliver ein Mörder war. Als sie das Haus durchsucht hatte, war ihr nichts Belastendes aufgefallen. Sicher, sie hatte sein Notizbuch. Doch davon wusste sie bereits lange, noch bevor sie beschlossen hatte wegzulaufen. Oliver hatte schon immer Tagebuch geführt. Er benutzte noch immer denselben Geheimcode wie am Anfang. Als jemand, der viel für sich behielt, wollte er sichergehen, dass es niemand lesen konnte. Das hieß jedoch nicht, dass er wirklich getan hatte, wessen Detective Willis ihn beschuldigte. Oliver war sehr sensibel. Etwas aufzuschreiben half ihm, es zu verarbeiten. Und so merkwürdig war es doch auch nicht, dass er ein Foto von Skye Kellerman aufbewahrte. Sie hassten diese Frau doch beide, oder? Sie beide waren wütend darüber, dass sie die Situation zu ihren Gunsten hatte auslegen können.

Hatte Jane ihn vielleicht falsch eingeschätzt? Noah schien jedenfalls dieser Meinung zu sein.

Jane schlug sich die Hand vor den Mund, um ein Schluchzen zu unterdrücken. Wie Noah sie behandelt hatte! Er hätte ihr doch sagen müssen, was er vorhatte! Stattdessen hatte er ein schreckliches Chaos angerichtet und allen wehgetan.

Aber sie hatte sich auch nicht gerade vorbildlich verhalten. Vielleicht gab er sich wirklich Mühe, alles richtig zu machen – nicht anders als sie. Sie verhielt sich in letzter Zeit tatsächlich ein bisschen verrückt. Seit sie von Olivers Entlassung aus dem Gefängnis erfahren hatte, befand sie sich auf einer emotionalen Achterbahnfahrt.

Konnte sie sich auf ihre Gefühle verlassen? Auf ihre Vermutungen?

Oliver hatte sich kühl und distanziert beim Sex verhalten. Aber er war nicht direkt brutal oder gewalttätig gewesen. Nicht wirklich. Natürlich musste es merkwürdig sein, nach drei Jahren das erste Mal wieder mit ihm zu schlafen. Vielleicht war sie ja weggelaufen, bevor sie ihrer Ehe nach seinem Gefängnisaufenthalt überhaupt eine Chance geben konnte? Sie hatten doch immerhin etwas Besonderes zusammen gehabt, eine gute Beziehung, einen starken Familienzusammenhalt – so etwas wie den amerikanischen Traum. Das wollte er so gern wieder aufbauen. Wünschte sie sich das nicht auch?

Sie starrte auf den Wasserfleck in der Ecke der Zimmerdecke. Oder war ihr das hier lieber?

“Vor der Sache mit Skye Kellerman war alles in Ordnung”, flüsterte sie. Danach hatte es nur Ärger und Leid gegeben. Dann war doch Skye Kellerman an allem schuld, nicht Oliver, oder?

Noah war jedenfalls dieser Meinung, Betty und Maurice ebenfalls. Und das waren die Menschen, denen sie immer hatte vertrauen können. Jetzt noch hörte sie deren Worte im Geist: Du verhältst dich ziemlich verrückt … Er ist unschuldig …

Sie bekam Kopfschmerzen von diesem vielen Grübeln. Am liebsten wäre sie aufgestanden und im Zimmer umhergelaufen. Aber sie rührte sich nicht, aus Angst, Kate aufzuwecken. Dann hätte sie sich auch noch zusätzlich mit den Fragen ihrer Tochter beschäftigen müssen. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollten, wohin sie gehen und wem sie vertrauen konnten.

Doch irgendetwas musste sie unternehmen. Hier konnten sie nicht ewig bleiben. Es war schon fast elf Uhr. Um zwölf müssten sie das Zimmer verlassen.

So leise wie möglich kroch sie aus dem Bett, zog ihr Adressbuch aus der Handtasche und blätterte es durch. Sie musste irgendjemanden kennen, bei dem sie ein paar Tage unterkommen konnten, während sie sich ihre weiteren Schritte überlegte. Oder nicht?

Nein, stellte sie frustriert fest und ließ die Schultern hängen, eigentlich nicht. Die meisten Leute in ihrem Adressbuch waren aus ihrem früheren Freundeskreis. Jane wusste überhaupt nicht, warum sie diese Adressen noch aufbewahrte. Um sich zu beweisen, dass sie einst mit den Reichen und Mächtigen zu tun gehabt hatte? Wahrscheinlich. Denn die einzige Person, der sie genug vertraute, um sie anzurufen, hatte sie vergangenes Jahr kennengelernt. Jemand, dem es finanziell genauso schlecht ging wie ihr. Danielle.

Aber Danielle war jetzt nicht zu Hause. Sicher war sie gerade unterwegs zur Arbeit. Es war Samstag. Jane hätte heute eigentlich auch Dienst. Wenn sie dort nicht erschien, würde sie den Job verlieren …

“Mommy?”

Jane hielt die Luft an, als sie Kates erwartungsvolle Stimme hörte. “Ja?”

“Ich mag das Zimmer nicht”, sagte die Kleine. “Können wir nicht nach Hause fahren?”

Jane gefiel es hier auch nicht. Aber noch mehr ängstigte sie die Tatsache, dass alles noch viel schlimmer kommen könnte.

“Warte … lass mich mal sehen.” Ihr Handyakku war leer, und sie hatte das Ladegerät nicht mitgenommen. Deshalb nahm sie den Hörer des Zimmertelefons ab, atmete tief durch und wählte ihre Nummer zu Hause. Vielleicht bat Oliver sie ja, zu ihm zurückzukommen. Versprach ihr, dass alles wieder gut würde. Sie wollte es so gern glauben, sehnte sich so verzweifelt danach, es glauben zu können …

Sie drehte das Kabel des altmodischen Apparats nervös zwischen den Fingern, während sie es einmal, zweimal, dreimal klingeln ließ.

Der Anrufbeantworter sprang an. “Hier ist der Anschluss von Jane und Kate Burke. Zurzeit sind wir nicht zu erreichen …”

Sie hatte die Ansage immer noch nicht geändert. War das ein Beweis dafür, dass sie Oliver eigentlich gar nicht zurückhaben wollte? War sie selbst die Ursache für alle Probleme? Weil sie zweifelte und skeptisch war, ihn nicht akzeptierte, weil sie sich eigentlich nach Noah sehnte?

“Oliver”, sagte sie. “Wenn du da bist, geh bitte ans Telefon. Es … tut mir leid. Ich … bin so durcheinander. Es … geht mir schrecklich. Bitte, nimm ab.”

Nichts. Wo war er denn? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er gerade Fahrrad fuhr. Eher glaubte sie, dass er noch schlief, nachdem er die ganze Nacht nach ihnen gesucht hatte.

Bei der Vorstellung, wie er auf der Suche nach ihnen hektisch durch die ganze Stadt fuhr, hätte sie am liebsten laut aufgestöhnt. “Oliver?”

Immer noch keine Antwort. Schließlich legte sie wieder auf und drehte sich zu ihrer Tochter um.

“Ich habe Hunger”, sagte Kate.

Sie betrachtete das schelmische Gesichtchen ihrer Tochter, ihr langes blondes Haar, das genau denselben Farbton hatte wie das ihres Vaters, und lächelte gequält. “Wir gehen auf dem Weg nach Hause irgendwo frühstücken.”

David stand an der Tür des Hauses, in dem er einmal gewohnt hatte. Er starrte seine Exfrau an. Sie sah fürchterlich aus. Sie trug ihren alten Bademantel und hatte immer noch das Make-up von ihrem Nachtausflug im Gesicht. Ihr Haar war zerzaust, die Mascara verschmiert. Er empfand schon lange nichts mehr für Lynnette, doch jetzt wirkte sie fast abstoßend auf ihn. Er war sich ziemlich sicher, dass dies auch mit seinem Verdacht zu tun hatte.

Nachdem Skye vor ein paar Minuten gegangen war, hatte er sich eigentlich vorgenommen, zuerst aufs Revier zu fahren und zu recherchieren, bevor er seine Frau des versuchten Mordes beschuldigte. Es bestand immer noch die Chance, dass er keine Verbindung zwischen Bishop und ihr fand. Dann könnte er sich immer noch einreden, dass es jemand anders gewesen war, zum Beispiel Burke.

Doch je mehr er über die Umstände und den Zeitpunkt nachdachte, desto überzeugter wurde er davon, dass Lynnette hinter Lorenzo Bishops Besuch in Skyes Haus steckte. Er hatte keine Ahnung, woher sie Bishop kannte und wie sie das alles organisiert hatte – aber er wusste, warum sie es getan hatte. Und er fühlte sich zum Teil dafür mitverantwortlich.

“Sag mir, dass du es nicht getan hast.” Er zog Lynnette nach draußen und schloss die Tür, damit Jeremy von ihrem Gespräch nichts mitbekam.

Sie lachte nervös, aber sie wurde nicht wütend. So hätte sie reagiert, wenn sie unschuldig gewesen wäre. “Ich weiß gar nicht, wovon du redest.”

David biss die Zähne zusammen. “Doch, das weißt du.”

“Hör zu, ich bin müde. Wir werden unser Gespräch auf später verschieben müssen.” Sie drehte sich um und wollte wieder ins Haus gehen, doch er packte sie am Arm.

“Lynnette, was ist bloß los mit dir?”

“Was mit mir los ist?”, giftete sie ihn plötzlich an. “Du bist es.”

Er betrachtete ihren feindseligen Blick, versuchte sich zu sagen, dass er mitschuldig war, dass er einen Anteil daran trug. Das hatte er noch einen Moment vorher gedacht. Aber er war nicht dafür verantwortlich. Nicht dafür. “Ich hatte damit nichts zu tun”, sagte er.

“Wenn sie nicht wäre, wärst du zu mir zurückgekommen”, entgegnete sie. “Wenn sie nicht wäre, hättest du mich nicht zum zweiten Mal verlassen. Wir wären immer noch eine Familie, so wie du es versprochen hast.”

“Als wir zusammen waren, hast du dich genauso unwohl gefühlt wie ich mich. Es ist unsere Schuld, dass unsere Ehe nicht funktioniert hat, nicht Skyes.”

“Das stimmt nicht”, widersprach sie. “Ohne sie wäre alles in Ordnung.”

“Deshalb bist du ihr gefolgt und hast Fotos von ihr gemacht? Deshalb hast du versucht, sie loszuwerden?” Selbst jetzt noch hatte er Schwierigkeiten, das zu glauben.

Aber Lynnette stritt es nicht ab, so wie er es sich gewünscht hätte. “Sie hätte schon längst tot sein sollen”, flüsterte sie. Tränen rollten über ihre Wangen, hinterließen neue Spuren von Mascara. “Wenn sie diese Schere nicht gehabt hätte, hätte Burke sie schon vor vier Jahren umgebracht.”

David war einfach sprachlos, ihm wurde übel. Und er war unfähig, sich zu rühren. Das war die Mutter seines Kindes …

Nun begann sie richtig zu weinen und streckte die Arme nach ihm aus. Aber allein bei der Vorstellung, sie zu berühren, lief David eine Gänsehaut über den Rücken. Erwartete sie von ihm, dass er sie bedauerte, weil Skye noch immer lebte? “Wie kannst du glauben, dass ich Mitleid mit dir habe?”, fragte er. “Du hast eine Frau verfolgt und versucht sie umzubringen!” Die Frau, die ich liebe

Sie verzog die Lippen. “Ich war es nicht. Du bist schuld. Ich musste ihr folgen. Ich musste es wissen. Du hast mich betrogen, die ganze Zeit hast du mich betrogen, oder etwa nicht?”

“Du weißt genau, dass das nicht stimmt.”

Die Tür wurde geöffnet, und Jeremy steckte seinen Kopf heraus. “Daddy?” Er sah zu Lynnette. “Warum weint Mommy denn?”

David war, als würde ihm das Herz brechen, als er in das beunruhigte Gesicht seines Sohnes blickte. “Weil sie etwas Schlimmes gemacht hat, Jeremy. Und sie weiß, dass sie deshalb eine Weile weggehen muss.”

“Nein!” Lynnette riss die Augen auf. “Das würdest du nicht wagen! David, ich bin es doch! Ich … wollte es gar nicht. Ich war … so verzweifelt. Das ist meine Krankheit! Die lässt mich manchmal verrückte Dinge tun. Du weißt, wie schwer es ist, damit fertigzuwerden. Ich halte es nicht aus, wenn ich daran denke, was aus mir wird!”

David dachte an die Fotos, die Jeremy auf ihrem Handy gesehen hatte. “Das war zu gut vorbereitet, um deine Krankheit dafür verantwortlich zu machen, Lynn. Wo hast du denn Bishop kennengelernt?”

“Er kam in die Klinik, um sich Blut abnehmen zu lassen. Er … er hat mich dazu überredet. Ich habe ihm nur von dir erzählt und was du mir antust. Er meinte, das könnte er in Ordnung bringen.”

“Sag bloß nicht, er ist der Typ, mit dem …” Er überlegte sich eine Umschreibung, da Jeremy neben ihnen stand. “Den du an dem Abend besucht hast, als du nach dem Kurs nicht nach Hause kamst.”

Sie errötete und verriet David damit, dass er richtig vermutet hatte. “Wahrscheinlich musstest du ihn danach nicht mal bezahlen”, sagte er angewidert.

“Es hat als ein Streich angefangen”, sagte sie. “Das schwöre ich. Wir wollten ihr nur einen Schreck einjagen. Wir dachten, es wäre lustig, bei ihr anzurufen.”

Lustig”, wiederholte er. Das Wort schmeckte wie bittere Galle.

“Es ist alles außer Kontrolle geraten. Aber … aber Bishop hat ihr ja letztendlich nichts getan. Also … ist es doch egal. Ihr geht es gut! Belassen wir es doch dabei.”

David wünschte sich einerseits wirklich, er könnte das. Doch aufgrund von Lynnettes Aktion war ein Mann ums Leben gekommen. Skye hätte getötet werden können. “Du musst ein Geständnis ablegen und professionelle Hilfe bekommen. Wenn du kooperierst, wird es für dich glimpflich ablaufen”, sagte er leise. Wer hätte gedacht, dass er mal so ein Gespräch mit seiner Exfrau führen würde? “Ich werde alles tun, was ich kann.”

Sie sah ihn mit offenem Mund an. “Du meinst es ernst”, flüsterte sie. “Du wirst mich ins Gefängnis bringen, obwohl du weißt, dass ich krank bin. Obwohl du weißt, dass ich nichts dafür kann.”

“Du kannst aber etwas dafür.” Er kniete sich hin und zog seinen Sohn in die Arme. “Du musst dir keine Sorgen machen, Kumpel”, versicherte er ihm und drückte ihn an sich. “Du wohnst bei mir, bis deine Mom wieder nach Hause kommt, okay? Es wird alles gut werden.”

Jeremy ließ den Blick unsicher zwischen ihnen hin und her wandern. “Wie lange wird Mommy weg sein?”

“Das weiß ich noch nicht.”

“Dann hast du ja alles, nicht wahr!”, schrie Lynnette. “Du hast meinen Sohn und die Hure, die du die ganze Zeit schon wolltest!” Sie stürzte ins Haus zurück, schlug die Tür hinter sich zu und schloss ab. Er hatte einen Schlüssel. Aber er würde jetzt nicht in Gegenwart seines Sohnes hinter Lynnette herjagen und sie zwingen, mit ihm zu gehen. Dieses Trauma wollte er Jeremy ersparen.

Er musste den Jungen hier wegbringen und einen Kollegen herbestellen, falls Lynnette sich etwas antun wollte.

David zog das Handy aus der Tasche und rief Tiny an.

Jane brauchte dringend eine Zigarette. Die letzte hatte sie gegen vier Uhr nachts geraucht, während sie aus dem schmierigen Motelfenster sah. Sie hätte gestern Abend auf ihrem Weg nach Hause eine Packung kaufen sollen, aber sie hatte es nicht gewagt, die letzten fünf Dollar auszugeben. Nun musste sie mit dem Nikotinentzug fertig werden – genauso wie mit der Angst vor dem, was sie in dem Haus erwartete, das sie auf der Suche nach Beweisen auf den Kopf gestellt hatte. Beweise dafür, dass ihr Ehemann ein Mörder war.

“Bleib im Auto sitzen”, sagte sie zu Kate, nachdem sie an der Auffahrt geparkt hatte. Da der Truck hier stand, ging sie davon aus, Oliver zu Hause anzutreffen. Sie wollte nicht, dass ihre Tochter Zeugin dieser ersten Begegnung wurde. Sie hatte keine Ahnung, wie Oliver reagieren würde. Bisher hatte sie ihn noch nie richtig wütend erlebt – normalerweise machte er nur eine düstere Miene und zog sich zurück, bis er alles verarbeitet hatte. Doch bisher hatten sie sich auch noch nie dermaßen entfremdet.

Kates Hand lag bereits auf dem Türgriff. “Warum denn? Ich will mir was anderes anziehen und mir die Zähne putzen. Heute ist Samstag. Da spiele ich immer mit Lara.”

Lara war das Mädchen am anderen Ende der Straße.

Im Rückspiegel entdeckte Jane die Beule, die sie ins Auto der Nachbarn gefahren hatte, und fühlte sich noch dümmer. Was hatte sie sich gestern nur gedacht? Sie war einfach … ausgerastet. Alles nur, weil ihr der erste Sex mit ihrem Mann seit seiner Entlassung nicht gefallen hatte. Inzwischen war sie zumindest halbwegs davon überzeigt, dass es ihre eigene Schuld war. Sie hatte sich nicht richtig auf ihn eingelassen.

“Ich muss nur kurz mit Daddy etwas besprechen. Dann komme ich wieder und hole dich.”

Kate zog eine Schnute, ließ aber den Türgriff los und warf sich zurück in den Sitz. “Aber mach schnell, Mommy.”

“Das tue ich.” Jane schluckte nervös und stieg aus. Sie hoffte, die Nachbarn, deren Auto sie eingedellt hatte, würden sie erst entdecken, nachdem sie mit Oliver gesprochen hatte. Als niemand über die Straße gelaufen kam, fühlte sie sich etwas ermutigt.

Noch einmal holte sie tief Luft, bevor sie nach der Tür langte.

Es war abgeschlossen.

Sie suchte in ihrer Tasche nach dem Hausschlüssel und schloss auf. Dann sah sie das Chaos. Es war schlimmer als vorher. Oliver hatte den ganzen Inhalt ihres Koffers herausgerissen und im Wohnzimmer verstreut. Ihr Familienfoto lag zerbrochen auf dem Boden. Jemand hatte das Küchenfenster zertrümmert. Die Glassplitter glitzerten auf dem Linoleumbelag. Ein Stuhl vom Esstisch lag umgekippt auf der Seite.

Offensichtlich war er nach dem Vorfall von gestern Amok gelaufen.

Jane fühlte sich nun noch schuldiger und ging leise nach hinten zum Schlafzimmer. Sie musste ihm etwas bedeuten, wenn er so wütend darauf reagierte, dass sie ihn verlassen hatte. Sicher konnte sie das, was sie einmal für ihn empfunden hatte, wieder neu beleben. Sie würden ganz von vorn anfangen. Und selbst wenn Noah oder seine Eltern ihm von ihrer Affäre erzählt hatten … dann würde sie sich eben bei ihm entschuldigen, so wie er sich bei ihr nach dem Vorfall mit Skye entschuldigt hatte. Sie würden über das alles hinwegkommen. Sicher wäre sie eine ganze Weile nicht in der Lage, Noah zu sehen. Sie wusste, dass sie Jahre brauchen würde, um über das hinwegzukommen, was er ihr angetan hatte. Doch sie musste an Kate denken. An die Zukunft. Sie musste eine neue Richtung einschlagen, die richtige.

Das Schlafzimmer war geschlossen. Sie erwartete, Oliver schlafend im Bett vorzufinden, und zog die Tür weit auf.

Oliver lag im Bett. Die Jalousie war heruntergelassen, und er hatte sich die Decke bis über die Stirn gezogen.

Jane ging auf ihn zu. “Oliver?”, sagte sie leise. “Oliver, ich bin’s. Es tut mir so leid.” Als er sich nicht rührte, wurde sie lauter. “Oliver?”

Wieder kam keine Antwort. Deshalb zog sie die Decke hoch – und im gleichen Augenblick drehte sich ihr der Magen um. Nicht ihr Ehemann lag dort im Bett. Sondern Noah.

Und er war tot.