2. KAPITEL

“Was ist los?”

Sheridans Stimme klang blechern durchs Telefon. Skye presste sich den Hörer noch fester ans Ohr und lehnte sich gegen den Küchenblock. Sie hoffte, dass sie dadurch das Zittern besser in den Griff bekam. Zumindest hatte sie sich noch so lange zusammenreißen können, bis David gegangen war. Sie hätte nicht gewollt, dass er ihren Zusammenbruch mitbekam. Er hatte schon so das Gefühl, sie im Stich gelassen zu haben, obwohl er alles tat, was er konnte. “Sie … lassen ihn frei”, flüsterte sie.

“Wen lassen sie frei?”, fragte ihre Freundin verwirrt und gleichzeitig besorgt.

Seit der Gründung von The Last Stand hatten sie es mit so vielen Opfern von Gewaltverbrechen zu tun gehabt, dass Skye von einem guten Dutzend Männer hätte sprechen können.

“Burke.”

Das plötzliche schockierte Schweigen am anderen Ende der Leitung verriet, dass Sheridan sehr gut wusste, um wen es ging. “Wieso?”

“Die Polizei konnte ihm keinen der drei Morde nachweisen. Offensichtlich hat er dem Gefängnissystem einen großen Dienst erwiesen und in den vergangenen drei Jahren ehrenamtlich als Zahnarzt gearbeitet.”

“Aber sie haben ihm doch acht bis zehn Jahre gegeben! Die meisten Häftlinge in Kalifornien sitzen doch mindestens die Hälfte der Zeit ab.”

“Ist doch völlig egal. Er kommt eben nach drei Jahren raus. Auf Bewährung.”

“Unmöglich!”

“Doch.” Aber auch Skye konnte es immer noch nicht fassen. Der Typ hatte ihr ein Messer an die Kehle gehalten, während er ihr das T-Shirt und die Pyjamahose vom Leib gerissen hatte. Er hatte sie brutal und unsittlich berührt. Ihr wurde bei dem Gedanken daran immer noch übel.

“Aber was ist mit … diesen drei Morden?”, fuhr Sheridan fort. “Die jungen Frauen auf dem Campus?”

Skye rutschte hinunter auf den Boden. Der Nebel begann sich zu lichten, so wie meist um die Mittagszeit. Aber das durchs Küchenfenster flutende Licht gab ihr nur das Gefühl, jetzt den Blicken noch mehr ausgesetzt zu sein. “Burke hat seine Spuren vortrefflich verwischt, das weißt du doch. Unsere Nachforschungen haben auch nicht mehr ergeben, als das, was David bereits hatte.” Was David nicht schaffte, schafften andere auch nicht …

Normalerweise wäre Sheridan sofort aufgefallen, dass Skye unvorsichtigerweise Davids Vornamen benutzt hatte. Aber offensichtlich war sie zu schockiert, um darauf zu achten. “Burke ist gebildet und schlau.”

“Und gewissenlos”, fügte Skye dazu. “Man sieht ihm seinen wahren Charakter auf keinen Fall an. Ich hatte eine Mitbewohnerin damals. Er muss mich schon eine ganze Weile ausspioniert haben, meine Gewohnheiten, wo mein Schlafzimmer liegt, wann ich allein bin. Er hat mich gezielt ausgesucht; sein Überfall war gut geplant. Wenn ich das Stickzeug nicht auf meinem Nachttisch gehabt hätte, wäre ich jetzt genauso tot wie die anderen Mädchen – und ein ungelöster Fall.”

“Mein Gott!”, murmelte Sheridan.

Bei der Erinnerung daran, wie sie auf Burke eingestochen hatte, verkrampfte sich alles in Skye. Nie hätte sie sich vorstellen können, welche Kraft so etwas forderte. Sie hatte ein-, zwei-, dreimal zustoßen müssen, bevor ihr Angreifer so geschwächt gewesen war, dass er von ihr abließ. Und trotzdem hatte er noch flüchten können. Doch sein Blut hatte wie Feuer auf ihrer Haut gebrannt, und es war über das ganze Bett verspritzt …

“Was soll ich denn nur tun?”, flüsterte sie. “Ich habe gegen ihn ausgesagt. So wütend, wie er mich beim Verlesen des Urteils angesehen hat … Ich glaube kaum, dass er vergessen hat, warum er im Gefängnis war.”

“Vielleicht solltest du untertauchen?”, schlug Sheridan vor.

Skye schüttelte den Kopf. “Und wie ist das mit der Angst, von der man sich nicht regieren lassen soll?”

“Nur für eine Weile. Bis wir sehen, wo er sich niederlässt und was er vorhat.”

“Er wird wahrscheinlich wieder zu seiner Familie ziehen.”

“Hat er denn noch eine?”

Seine Frau war es gewesen, die ihn an dem Morgen mit seinen Stichverletzungen zur Notaufnahme gebracht hatte. Die Ärzte hatten aufgrund seiner merkwürdigen Wunden gleich die Polizei informiert. Deshalb war Burke verhaftet worden und ins Gefängnis gekommen. Aber Jane hatte ihren Mann während der gesamten Verhandlung unterstützt. Skye konnte immer noch hören, wie sie vollkommen aufgelöst geheult hatte, als die Geschworenen das Urteil verkündeten. “Wahrscheinlich. Seine Frau hat beteuert, dass er unschuldig ist.”

“Ich will dich nicht verlieren, Skye, und du weißt, was Jasmine sagen würde. Wir sind im Moment ihre einzigen Vertrauten. Sie hat schon ihre Schwester verloren. Sie wird sicher nicht wollen, dass du ein Risiko eingehst.”

Skye rieb sich seufzend die Augen. Es war nicht richtig, Sheridan oder Jasmine da mit hineinzuziehen; sie mussten gegen ihre eigenen Dämonen kämpfen. Die drei Frauen hatten sich bei einer Gruppentherapie für Gewaltopfer kennengelernt, während sie versuchten, mit den traumatischen Erlebnissen fertig zu werden, die ihre Leben verändert hatten. Bei unzähligen Tassen Kaffee hatten sie dann Freundschaft geschlossen.

“Als wir The Last Stand gegründet haben, wollten wir keine Angst mehr haben, erinnerst du dich? Wir haben beschlossen, den Menschen, die uns wehgetan haben, keine Macht über uns zu geben.”

Vielleicht hatte sie das noch nicht vollkommen geschafft. Aber sie versuchte es. Sie konnte nicht einfach aufgeben.

“Aber der Mann, der mir den Schrecken meines Lebens eingejagt hat, wohnt wahrscheinlich am anderen Ende des Landes”, sprach Sheridan weiter. “Ich kann mir nicht mal vorstellen, wie man noch funktionieren soll, wenn man jederzeit zufällig über eine Person stolpern könnte, die einen töten wollte – irgendwo auf der Straße oder im Einkaufszentrum.”

Aber was blieb Skye anderes übrig?

Sie dachte kurz darüber nach, zu ihrem Stiefvater zu fahren. Sie könnte dort untertauchen und vielleicht wieder in seine Nähe ziehen. Andererseits: Wenn Burke wirklich entschlossen war, sie zu finden, dann würde es ihm früher oder später auch gelingen. Sie beabsichtigte nämlich keineswegs, alle Verbindungen zu den Menschen und den Orten zu kappen, die sie liebte. Sie würde sich von ihrem Peiniger nach dem Überfall nicht noch einmal wehtun lassen – nicht noch mehr, als er es sowieso schon getan hatte. Außerdem fühlte sie sich ihrem Stiefvater nicht so stark verbunden. Er war zu ihrer Mutter gezogen, als Skye neun gewesen war. Vier Jahre später hatte er sie schon wieder verlassen. Auch wenn Joe vielleicht damals in der Lage gewesen war, ihren Vater zu ersetzen, den sie mit zwei Jahren durch einen Skiunfall verloren hatte – sie hatte nur wenige Jahre mit ihm zusammengelebt.

Auf keinen Fall konnte sie Sheridan und Jasmine die Arbeit bei The Last Stand allein überlassen. Sie waren nur eine kleine Truppe, die sich für die Opfer von Gewaltverbrechen einsetzte. Das war die einzige Möglichkeit, einen Sinn aus dem zu ziehen, was ihnen passiert war.

“Es wird schon gehen.” Sie richtete sich gerade auf. “Es hat mich nur … kurzzeitig umgehauen.” Was hatte sie denn erwartet? Den Luxus, zusammenzubrechen, konnte sie sich nicht leisten. Vielleicht hatten sie es nicht geschafft, Burke diese Morde nachzuweisen. Aber sie mussten es weiterhin probieren, vor allem jetzt – bevor er noch jemanden überfiel. Womöglich konnte sie damit auch ihr eigenes Leben retten.

“Dann verkauf wenigstens das Haus und nimm dir eine Wohnung mit Sicherheitsdienst hier in der Stadt”, riet ihr Sheridan. Sie drängte Skye schon seit Langem, das zu tun. Aber Skye brachte es einfach nicht über sich, das Haus im Delta aufzugeben. Sie war nach dem Überfall zu ihrer Mutter zurückgezogen und hatte die vergangenen Jahre dort bei ihr gewohnt. Sie war ihre einzige Familie und alles, was Skye aus ihrer Kindheit noch blieb – aus dieser Zeit der Unschuld, in der sie noch nicht geahnt hatte, welche Gefahren es auf dieser Welt gab. Nicht, dass ein Apartment vollkommen sicher wäre. Zur Zeit des Überfalls hatte sie zusammen mit einer Bekannten in einer Wohnung nahe dem American River Drive gewohnt. Ihre Mitbewohnerin war danach in eine kleine Stadt in Utah gezogen.

“Das wäre ein zu großes Zugeständnis. Ich werde so leben, wie ich es will, und mich nicht nach ihm richten.” Jedenfalls soweit sie es schaffte, immer einen Tag nach dem anderen.

“Ich verstehe schon, aber trotzdem …”

“Trotzdem machst du dir Sorgen. Das sollst du aber nicht. Wenn Burke sich noch einmal an mich ranmachen sollte, wird er es nicht mehr nur mit einer Schere in seinem Bauch zu tun haben.”

Sie hörte, wie Sheridan seufzte. “Kommst du heute? Ein Journalist vom River City Magazine will mit einer von uns sprechen. Er will einen Artikel über The Last Stand schreiben. Ich dachte, wir könnten die Gelegenheit nutzen, um Reklame für unser Sommer-Barbecue zu machen, damit wir mehr Tickets verkaufen. Die Zeitschrift soll im Mai erscheinen.”

“Kann sich Jasmine nicht darum kümmern?” Skye hatte heute eine neue Klasse für den Schießkurs. Den Termin hatte sie auf später verschoben, weil sie ein paar Flyer zur Sacramento State bringen wollte. Auf diese Weise wollte sie noch einige freiwillige Helfer rekrutieren. Doch nach Davids Besuch war sie sich nicht sicher, ob sie sich überhaupt auf etwas konzentrieren konnte.

“Jasmine wird in den nächsten Tagen nicht abkömmlich sein.”

“Warum?”

“Sie hat einen Anruf aus Fort Bragg bekommen. Ein kleines Mädchen wird dort vermisst. Sie hoffen, dass man ihnen bei der Suche hilft.”

“Wer? Die Eltern?” Skye war erstaunt, dass man Jasmine sogar in der etwa vier Stunden entfernten Küstenstadt kannte.

“Nein, das FBI.”

“Das ist ein Scherz, oder? Welcher Detective kommt denn auf die Idee, ein Medium anzuheuern?” Selbst David schien nicht so ganz davon überzeugt zu sein, dass Jasmine außergewöhnliche Fähigkeiten besaß.

“Ich nehme mal an, sie wissen nicht weiter und sind so weit, alles zu versuchen. Sie haben bei dem Anruf allerdings nichts von ihrer übersinnlichen Wahrnehmung erwähnt. Sie wollen nur das Profil eines Kidnappers erstellen.”

“Das FBI hat seine eigenen Profiler – das haben sie ihr doch ständig erzählt. Wie oft ist sie abgewiesen worden?”

“Nachdem sie geholfen hat, den Ubaldi-Fall zu lösen, hat sich eine Menge geändert. Ich denke, das FBI hat inzwischen gemerkt, dass sie genauso viel kann wie deren Leute, wenn nicht noch mehr.”

“Das hätten wir ihnen gleich sagen können. Was ist denn passiert mit diesem vermissten Kind?”

“Keine Ahnung. Bis vor mehr als einer Stunde hat Jasmine niemanden in Fort Bragg erreicht.” Es entstand eine kurze Pause. “Kannst du dich um den Journalisten kümmern, Skye?”

Skye warf einen Blick auf die Uhr. Sie war immer noch wie vor den Kopf gestoßen; sie traute sich kaum, einen Fuß vor die Tür zu setzen. Andererseits war sie entschlossen, zu verhindern, dass Burke noch jemanden verletzte. Sie musste die Gelegenheit nutzen und die Unterstützung der Presse für die Opfer von Gewaltverbrechen gewinnen. “Natürlich. Ich werde den Kurs auf nächsten Montag oder Dienstag verschieben und bin so bald wie möglich da.”

Mit seinen vielen natürlichen und kultivierten Flussarmen schien das Delta eine ganz andere Welt zu sein; dabei lag Skyes Haus gerade mal eine gute Stunde Fahrt südwestlich von Sacramento entfernt. Etwa genauso lang dauerte die Fahrt von Sherman Island zum San Quentin State Prison, einem der bekanntesten Gefängnisse der Welt. Es bildete einen geradezu schockierenden Kontrast zu den malerischen Stränden der San Francisco Bay und der wohlhabenden Wohngegend, die sich dort entwickelt hatte.

Oliver Burke war dort mit mehr als fünftausend anderen Männern eingesperrt, hinter Steinmauern, die über anderthalb Jahrhunderte alt waren. Dieses berüchtigte Gefängnis mit seiner bedrohlichen Erscheinung und der grünen Gaskammer beherbergte die Schlimmsten der Schlimmsten. David wusste, dass sich das Haus seinen schlechten Ruf verdient hatte. Selbst der Todestrakt war überfüllt. In San Quentin befanden sich sechshundert zum Tode verurteilte Insassen. Der Rest der Belegschaft bestand aus Lebenslänglichen und eine geringe Prozentzahl aus Männern wie Burke, die wegen kleinerer Vergehen eine niedrigere Strafe absaßen.

Der Wagen ruckelte über eine weitere Zugbrücke, und David verzog bei dem Gedanken an das Wiedersehen mit Burke das Gesicht. Er hatte sich in der Vergangenheit mit ziemlich kniffligen Fällen beschäftigt, doch meist war es ihm irgendwie gelungen, die größeren zu knacken. Manchmal hatte er einfach Glück gehabt, und das richtige Verbindungsstück war ihm in die Hände gefallen. Bei anderen war es reine Hartnäckigkeit gewesen, harte Arbeit und seine Entschlossenheit, bei der Suche jeden einzelnen Stein umzudrehen. Manches Mal war es Intuition gewesen. Doch nichts davon hatte ihm die Antworten geliefert, die er in den Fällen der drei jungen Frauen brauchte. Alle drei waren in ihren Wohnungen in der Nähe des American River ermordet worden. Die Frustration darüber höhlte ihn langsam aus. Vor allem jetzt, wo Burke entlassen wurde.

Er hatte vorher angerufen, um einen Besuchstermin zu vereinbaren. Er wusste nicht genau, warum er das dringende Bedürfnis verspürte, Burke von Angesicht zu Angesicht zu sprechen; er hatte ihn seit der Gerichtsverhandlung nicht gesehen. David ging nicht davon aus, dass Skyes Angreifer ihm etwas Neues erzählen würde. In den vergangenen Jahren hatte er mehr als einmal versucht, mit dem Mann ins Gespräch zu kommen. Burke hatte sich seinem Besuch immer wieder verweigert, allerdings ein paar Mal mit ihm telefoniert. Immer hatte er den Unschuldigen gespielt. Als könnte er David genauso für dumm verkaufen wie all die anderen.

Aber auch wenn es sinnlos erschien: David konnte nicht einfach zusehen, wie Burke in die Gesellschaft entlassen wurde, ohne einen letzten Versuch zu starten. Vielleicht bekam er ja doch irgendeine Information aus ihm raus. Vielleicht half ihm das Gespräch, endlich die Fälle zu lösen, die schon so lange auf Eis lagen.

Für Skye. Für die anderen.

David trat auf die Bremse und konnte gerade noch verhindern, dass sein Kaffeebecher umstürzte. Er war fast gegen die Stoßstange des Wagens vor ihm gefahren, als der Verkehr auf der San Rafael Bridge plötzlich stockte. Die Bay Area war fast immer verstopft. Er bevorzugte die langsamere Gangart in Sacramento. Auch wenn seine Eltern und seine ältere Schwester – die sich gerade erst wieder hatte scheiden lassen und zu ihnen zurückgezogen war – noch immer in San José wohnten. David hatte die Stadt nach seinem Abschluss in Kriminaltechnik an der San José State University verlassen. Ursprünglich wollte er als Wissenschaftler arbeiten, aber nachdem er eineinhalb Jahre lang Fasern analysiert hatte, war ihm der Job doch zu öde gewesen. Er änderte seine Pläne und wurde stattdessen Polizist. David brauchte eine Arbeit, die es ihm erlaubte, sich ständig zu bewegen. Er wollte nicht jeden Tag dasselbe tun, sondern brauchte Abwechslung, musste mit Leuten reden – und ihm gefiel diese ständige Herausforderung.

Als er die andere Seite der Brücke erreichte, hatte sich der Nebel so weit gelichtet, dass er das Gefängnis sehen konnte. Von diesem Blickwinkel aus wirkte es zuerst so harmlos wie ein Universitätsgelände.

Doch die elektrischen Zäune mit dem Stacheldraht am oberen Ende und die abschreckenden Wachttürme mit Maschinenpistolenschützen zeigten beim Näherkommen die wahre Bestimmung des Geländes. Die düstere Atmosphäre durchdrang diesen Ort noch viel mehr, als es der dickste Nebel vermocht hätte. Das spürte David, während er zum Besucherparkplatz fuhr, parkte und ausstieg.

San Quentin verströmte eine eigenartige Hoffnungslosigkeit. In dem Gefängnis befand sich die einzige Gaskammer des Staates, und es gab hier doppelt so viele Insassen wie für die Räumlichkeiten vorgesehen. Dann war da die Gegenwart so vieler eiskalter Killer: Kevin Cooper, zum Tode verurteilt, weil er die Ryen-Familie mit Beil und Messer massakriert hatte. Richard Allen Davis, der Polly Klaas entführt und getötet hatte. Charles Ng, der elf Menschen gefoltert und umgebracht hatte. Richard Ramirez, der “Night Stalker”. Cary Stayner, Brandon Wilson, Scott Peterson. Die Liste war lang, die diesen Ort so anders machte als andere auf dieser Welt. Das San Quentin State Prison war mit seinen über tausendfünfhundert Quadratkilometern wie eine Stadt der Verdammten – mit eigener Postleitzahl: Kalifornien 94964. Die Hölle, sagen die, die dort waren.

Während er die äußeren und die inneren Tore und die Sicherheitschecks passierte, überlegte David, wie sich der Aufenthalt an einem solchen Ort wohl auf einen Mann wie Oliver Burke auswirkte. Zweifellos würde er empört sein und wütend. Er hatte gedacht, er wäre zu gut, um sich schnappen zu lassen. Und als er eingesperrt und dem Richter vorgeführt worden war, glaubte er, das System ausstechen zu können und nicht für seine Verbrechen zahlen zu müssen.

Nachdem David sich ausgewiesen und den Grund seines Besuches angegeben hatte, führte ihn eine Wärterin zu einer kleinen Besucherzelle. “Einen Moment, bitte”, sagte sie und verschwand.

David setzte sich auf den harten Metallstuhl in dem kalten, fensterlosen Raum und wartete. Er fragte sich kurz, ob Burke sich womöglich weigern würde, mit ihm zu sprechen – aber das glaubte er eigentlich nicht. Burke würde sich den Triumph bestimmt nicht entgehen lassen, David zu zeigen, dass er durchs Netz geschlüpft war.

Tatsächlich öffnete sich auf der anderen Seite des Raumes hinter dem dicken Trennglas eine Tür, und Burke kam herein. Er war mit seinen schätzungsweise eins fünfundsiebzig von mittlerer Statur und hatte mittelblondes Haar. Er sah schlanker, aber muskulöser aus als das letzte Mal, als David ihn im Gerichtssaal gesehen hatte. Er trug weder Handschellen noch Fußfesseln. Da es nur noch sechs Tage bis zu seiner Entlassung dauerte, wäre er ein Idiot, wenn er irgendwelche Dummheiten beginge. Jeder wusste, dass etwas in der Art äußerst unwahrscheinlich war.

Nicht hier drinnen würde sich Burke danebenbenehmen – sondern draußen. Nachdem er sich seine Verkleidung als normaler Bürger angelegt hatte, um seine krankhaften Neigungen zu verbergen.

Mit einem höflichen Nicken setzte er sich und griff nach dem Telefon, das ihnen erlaubte, sich zu unterhalten. “Ich nehme an, Sie haben die guten Nachrichten erhalten, was?”

Er zeigte hämische Freude, genau wie David es erwartet hatte. “Das habe ich allerdings”, erwiderte er.

“So ist das, wenn man die Regeln einhält.”

“Oder wenn man einen Kumpel verpfeift”, sagte David ruhig. Burkes ebene Gesichtszüge verfinsterten sich. Mit seinen eisblauen Augen und dem fast femininen Aussehen erschien er jünger als sechsunddreißig, mehr wie ein harmloser Yuppie als ein Strafgefangener. Sein harmloses Äußeres verschaffte ihm einige Vorteile. Zumindest war das so bei den Geschworenen gewesen. Sie hatten sich Stunden beraten, bevor sie ihr Urteil fällten. Sogar mit einer profunden DNA-Analyse, die bestätigte, dass Burkes Blut auf Skyes Laken war, wollte seine Familie – die ganze Gemeinde – nicht wahrhaben, dass ein erfolgreicher Zahnarzt mit einer liebenden Ehefrau und Kind und Hunderten von ergebenen Patienten zu einer solch abscheulichen Tat fähig wäre.

“Johnny ist nicht mein Freund”, erklärte Burke, um das Verhältnis zu besagtem “Kumpel” und Mithäftling klarzustellen. “Ich mochte ihn nicht mal.”

“Wusste er das auch?”

Burke reagierte nicht auf Davids Frage. “Die Polizei von San Francisco brauchte meine Unterstützung. Sie waren dafür sehr dankbar.”

“Eine Unterstützung, die sich natürlich in Anbetracht Ihrer Anhörung als äußerst hilfreich herausstellte. Gratuliere zu diesem perfekten Timing.”

David erwartete, dass Burke mit einem leichten Lächeln oder Ähnlichem reagierte. Doch der arbeitete weiter an dem Image, das er den anderen gern verkaufen wollte. “Sie wissen, dass ich nicht so einer bin wie der Rest hier.”

Verärgert ließ sich David dazu hinreißen, ihn noch ein bisschen mehr zu provozieren. “Meinen Sie, die Familienangehörigen der Frauen, die Sie umgebracht haben, finden auch, dass Sie anders sind?”

Schweigen. Dann begann Burke zu lachen, als hätte er fast Mitleid mit David. “Ich werde Sie wohl nie überzeugen können, was?”

“Sie erwarten von mir, dass ich Ihnen den Blödsinn abkaufe, den Sie den Geschworenen aufgetischt haben?”

“Es ist die Wahrheit.”

“Nein, ist es nicht.” Aber Burke war ein so überzeugender Lügner, dass manche Mitglieder der Jury die handfesten Beweise angezweifelt hatten. David war auch davon überzeugt, dass sich selbst die Polizei in San Francisco von diesem gerissenen Typen über den Tisch hatte ziehen lassen. Sonst hätten sie ihn wohl nicht für einen Hafterlass vorgeschlagen – egal, wie viele Mithäftlinge er verriet.

“Glauben Sie, was Sie wollen.” Burke wedelte mit der Hand. “Es ist vorbei, und es ist mir deshalb völlig egal.”

“Mir ist es nicht egal.” David klemmte sich den Hörer zwischen Kinn und Schulter, zog die mitgebrachten Fotos aus der Tasche und hielt sie gegen die Glasscheibe. Sie zeigten Meredith Connelly, Amber Farello und Patty Poindexter – die Leichen der drei jungen Frauen am American River. “Und zwar deshalb.”

Während Burke den Blick über die drei Fotos schweifen ließ, bemerkte David darin ein Aufflackern. Er erkannte sie wieder, aber er zeigte keine Reue. “Ich habe es Ihnen bereits gesagt: Diesen Mädchen bin ich noch nie begegnet. Sie gehören nicht zu meinen Patientinnen oder so etwas.”

Weil er dafür zu intelligent war. Er hatte sich unauffällige Opfer ausgesucht. Opfer, die nicht in seiner Nähe wohnten und in keiner erkennbaren Verbindung zu ihm standen. Er glaubte, er sei schlauer als die Polizei. Und es machte David krank, dass er bisher darin bestätigt wurde.

“Ich werde nicht aufgeben”, sagte David. “Niemals.”

Burke hielt den Hörer lässig in der Hand und spielte am Bund seiner Häftlingsjeans herum. “Dann verschwenden Sie Ihre Zeit.”

David steckte die Fotos wieder in seine Hemdtasche. “Was werden Sie denn nach Ihrer Entlassung tun?” Die Zahnärztevereinigung hatte Burke nach seiner Verurteilung die Lizenz entzogen. Er würde also in Kalifornien keine neue Praxis eröffnen können. Und selbst, wenn er es woanders versuchte, würde man schnell von seiner Vorstrafe erfahren.

Einen kurzen Augenblick verschwand die freundliche Maske, und David erblickte den wahren Oliver Burke. Verbittert. Voller Selbstmitleid. “Dank Ihnen kann ich meinen Beruf nicht mehr ausüben! Ich habe sechs Jahre Ausbildung investiert und ein paar weitere Jahre, um die Praxis aufzubauen. Aber dank Ihnen musste meine Frau sie für einen Bruchteil ihres Werts verkaufen, um zu überleben.”

“Dank mir?”, wiederholte David. “Ich bin doch nicht derjenige, der eine Frau mit dem Messer angegriffen hat!”

Ihre Blicke trafen sich. “Sie hat mich angegriffen.”

“Sie haben die Frau mit dem Messer verletzt.”

“Das war Selbstverteidigung.”

David verspürte das überwältigende Bedürfnis, dem Mann die Hände um den Hals zu legen und die Wahrheit aus ihm herauszuwürgen, aber er musste seinen Ärger und die Frustration im Zaum halten. Er durfte sich nicht von diesen negativen Gefühlen leiten lassen und die Beherrschung verlieren. “Die Beweise sprechen gegen Ihre Version.”

“Sie bestätigen aber auch Ihre Geschichte nicht. Wenn ich ihr ein Messer an die Kehle gehalten habe, wo ist es dann geblieben?”

Bei dem herausfordernden Tonfall Burkes umklammerte David den Hörer fester. Er würde den kleinen Mistkerl schon noch kriegen, und wenn es das Letzte war, was er tat. “Das würde ich gern herausfinden.”

“Es hat nie ein Messer gegeben.” David beobachtete, wie Burke mit den Fingern der linken Hand auf die Tischplatte trommelte. “Wir haben rumgemacht, als sie plötzlich ausflippte und mit der Schere auf mich eingestochen hat. Dann gab es ein Handgemenge, weil ich versucht habe, ihr das Ding aus der Hand zu reißen.”

Mehr Lügen. Skyes Verletzungen unterschieden sich von Wunden, die er ihr mit der Schere hätte zufügen können. Es musste ein Messer gewesen sein.

“Mein einziger Fehler war es gewesen, mit ihr nach Hause zu gehen”, sagte er. “Und dafür habe ich inzwischen mehr als genug bezahlt. Welcher Mann gerät nicht mal in Versuchung zu einem Seitensprung?”

“Warum gerade sie?”

“Sie hat mich angemacht.”

“Sie träumen schon wieder.”

Burke zuckte die Schultern. “Sie waren ja an dem Abend nicht dabei. Sie haben nicht gesehen, wie sie mich angelächelt und nach meinem Reißverschluss gegriffen hat.”

David riss sich zusammen, um seine Gefühle nicht zu zeigen. Burke versuchte, ihn zu provozieren, doch er weigerte sich, anzubeißen – trotz des heftigen Herzklopfens, das die Szene, die Burke heraufbeschwor, bei ihm auslöste. “Sie sind wirklich ein sehr begehrter Typ, Oliver.”

“Ein Mann merkt das, wenn eine Frau auf ihn abfährt. Vor allem, wenn sie derart scharf auf ihn ist.”

“Haben Sie eigentlich jemals an Ihre Frau und Ihre Tochter gedacht, als Sie geplant haben, diese unschuldigen Frauen zu überfallen?”

“Ich habe niemanden überfallen! Aber wenn ich diese Art Mann wäre, würde ich dabei wahrscheinlich nicht an meine Frau denken. Oder woran denken Sie so, wenn Sie den Playboy durchblättern?”, erkundigte er sich scheinheilig, als würde es ihn tatsächlich interessieren. Doch dann beantwortete er seine rhetorische Frage sofort selbst: “Sie stellen sich vor, es mit einer wie dieser zu treiben, oder nicht? Und seien wir doch ehrlich: Skye ist so heiß wie ein Playmate.”

Dass David nichts darauf erwiderte, schien Burke etwas zu verunsichern. “Stimmen Sie mir nicht zu?”

“Hören Sie auf mit diesem Unsinn.”

Burke lehnte sich vor, seine Augen funkelten. “Ich habe beobachtet, wie Sie Skye im Gerichtssaal angestarrt haben.”

David verzog den Mund zu einem anzüglichen Grinsen. Er konnte ebenso gut das Arschloch spielen. “Mehr haben Sie nicht drauf?”

Burke rümpfte die Nase und lehnte sich wieder zurück. Er legte den Hörer ans andere Ohr. “Ich weiß, dass Sie scharf auf sie sind. Welcher Mann würde nicht gern eine Nummer mit ihr schieben?”

“Genauso wie Sie?”

“Sicher”, gab er lässig zurück. “Warum wäre ich wohl sonst mit ihr nach Hause gegangen?”

“Sie kann sich nicht daran erinnern, Sie jemals vorher irgendwo gesehen zu haben, bevor Sie bei ihr eingebrochen sind.”

“Sie erinnert sich.”

“Nein, das tut sie nicht. Wenn überhaupt, hat sie Sie höflich angelächelt und ist an Ihnen vorbeigegangen.” Solche Begegnungen gab es unter Fremden ständig. Es hatte nichts zu bedeuten. Außer für Oliver Burke.

“Das sagt sie jetzt.”

“Wo war es denn?”, wollte David wissen. “Im Supermarkt? Im Kino? Auf der Fahrt über den Highway? Oder haben Sie sie gesehen, als sie eine Fahrradtour aufs Land gemacht haben? Suchen Sie Ihre Opfer immer auf diese Art aus?”

Burke rückte weiter ab. “Ich habe mich bemüht, freundlich zu sein, aber es hat wohl keinen Zweck. Sie versuchen, mich weiter zu provozieren, ohne Rücksicht.”

“Wir beide sind nicht befreundet”, gab David zu bedenken. “Das werden wir auch niemals sein. Sie brauchen nur zu antworten.”

“Das habe ich bereits getan. Im Gerichtssaal.” Burke hatte behauptet, ihr auf der Straße begegnet zu sein. Sie habe am Bürgersteig geparkt, weil sie sich verfahren hatte, und wollte ihn nach dem Weg fragen. Dann habe sie ihn zu sich nach Hause eingeladen.

Was natürlich der absolute Blödsinn war.

“Warum wiederholen Sie die Lügen jetzt nicht einfach? Befürchten Sie, sich zu verheddern?”

“Wenn Sie nicht jedes Mal einen Steifen bekämen, wenn Sie nur an Skye denken, wäre Ihnen vielleicht aufgefallen, dass ich am meisten unter diesem Zusammentreffen gelitten habe. In dieser Nacht bin ich schwer verletzt worden! Ganz zu schweigen davon, dass ich meine Zahnarztpraxis verloren habe, mein Haus und alles, was mir gehörte. Meine Familie wurde in der Öffentlichkeit gedemütigt. Und ich habe die vergangenen drei Jahre in einem engen Käfig verbracht, wo ich auf einer harten Matratze auf einem Eisenbett schlafen musste. Wenn sie mich rauslassen, laufe ich die ganze Zeit in einem gepflasterten Hof herum. Und wissen Sie, was ich dann tue? Ich zähle die Einschusslöcher der Patronen, die von den Wächtern abgefeuert wurden, um irgendwelche Eskalationen zu verhindern. Die dann dafür sorgen, dass es wieder Kugeln regnet.” Er verschränkte die Arme. “Hier drinnen ist es gefährlich.”

David lachte. “Das ist ja ziemlich theatralisch, selbst für jemanden wie Sie. Sie benutzen Gummigeschosse.”

“Das war aber nicht immer so. Abgesehen davon, sind Sie schon mal von einem Gummigeschoss getroffen worden?”

“Sie sehen eigentlich ganz gesund aus.”

“Hier ist es gefährlich”, wiederholte Burke. “Warum hätte ich meine Frau wohl sonst gebeten, mich nicht zu besuchen?”

Die plötzliche Erwähnung von Jane Burke überraschte David. Oliver Burke hatte vorher nie über seine Frau sprechen wollen. Warum heute? “War sie nicht hier?”

“Ich habe sie nach den ersten drei Monaten nicht mehr gesehen.” Er studierte seine Fingernägel, die wie immer ordentlich manikürt waren. “Ich wollte nicht, dass sie herkommt, wenn man sie dann schikaniert.”

David beschloss, auf das Spiel einzugehen und ihn reden zu lassen. “Wieso sollte sie jemand schikanieren?”

Er spitzte die Lippen. “Sie kennen die Regeln. Es ist nicht erlaubt, irgendwelche Jeanskleidung anzuziehen, um nicht mit einem Häftling verwechselt zu werden. Keine Shorts, die mehr als fünf Zentimeter Schenkel zeigen, keine engen Blusen, die die Figur betonen. Verdammt noch mal, keinen Bügel-BH! So was tragen doch alle Frauen heutzutage! Jane ist nun mal vollbusig – genau wie Skye.”

Genau wie Skye? Diese Bemerkung nervte David, aber er kämpfte gegen den Impuls, mit den Zähnen zu knirschen.

“Sie braucht diese Stützfunktion”, fuhr Burke fort. “Aber das will sie keinem dreckigen alten Gefängniswärter erklären.”

“Ihre Frau kann keine kleinen Eingeständnisse an die Kleidungsvorschriften machen?”, fragte David.

Burke starrte verkniffen auf seine Schuhe und antwortete nicht.

David stützte die Ellenbogen auf den schmalen Sims vor sich. “Oder steckt da noch mehr dahinter?”

“Zusammen zu sein, aber nicht zusammen sein zu können, ist schmerzlicher, als sich gar nicht zu sehen”, sagte er nach einer langen Pause. “Man möchte sich berühren, kann es aber nicht. Nicht richtig.” Er atmete tief durch. “Wie auch immer, jedes Mal, wenn sie herkam, musste sie sich einer demütigenden Durchsuchung unterziehen. Sie haben ihr absichtlich Angst gemacht. Haben sie davor gewarnt, dass sie kein Lösegeld zahlen würden, wenn jemand sie als Geisel nähme.” Er klemmte sich den Hörer zwischen Schulter und Kinn und verschränkte seine milchig weißen Finger über einem Knie. “Nach so einer Drohung möchte natürlich keine Frau wiederkommen. Was glauben Sie, wie sich die Mutter eines kleinen Kindes fühlt, wenn sie so was hört? Dass sie von einem dieser Tiere hier gekidnappt werden könnte, und keinen kümmert es?”

Er grenzte sich ständig von den anderen Kriminellen ab. Das bestätigte David in dem, was er bisher immer vermutet hatte: Er sah die Realität verzerrt, war so von seiner eigenen Perspektive eingenommen, dass er die Wahrheit nicht erkannte. “Eine andere Verfahrensweise würde die Besucher in größere Gefahr bringen.”

Burke wechselte erneut seine Position und stöhnte auf. “Aber wenn ihr irgendetwas passieren sollte, wer kümmert sich dann um unsere Tochter?”

“Dann wartet Jane also auf Sie? Sie sind noch verheiratet?”

Eine schmale Falte erschien auf seiner breiten Stirn, und David musste unwillkürlich denken, dass er genauso wenig nach einem Killer aussah wie Scott Peterson. “Natürlich. Ich habe Ihnen ja gesagt, dass sie nicht kommt, weil es eine Zumutung ist. Es ist unerträglich und zu peinlich. Sie hatte nie vorher mit einem Strafgefangenen zu tun. Und jetzt sitzt ihr Ehemann im Gefängnis!”

“Die Schuld dafür kann man nur einer Person anlasten.”

In Burkes Kiefer zuckte ein Muskel. “Es ist nicht der, den Sie im Sinn haben.”

“Sie haben das Thema von selbst angesprochen.”

“Ich will nicht von Vergangenem sprechen.” Burke räusperte sich. “Meine Frau weiß, dass Skye lügt. Jane glaubt mir.”

David konnte sich gerade noch zurückhalten, um nicht den Kopf zu schütteln. Eine solche Treue erforderte wirklich unglaubliche Verdrängung. War sich Jane Burke nicht darüber im Klaren, in welche Gefahr sie sich begab? Wollte sie nicht alles tun, um ihre Tochter vor Kummer, wenn nicht sogar physischer Gewalt zu beschützen?

“Sie sind verrückt, wenn Sie dieses Vertrauen missbrauchen”, murmelte er.

“Ich werde es nicht missbrauchen.” Er klang so entschlossen, dass David ihm fast geglaubt hätte. Es war dieses unschuldig aussehende Gesicht, diese Ich-bin-nichtanders-als-du-Art. Das überzeugte praktisch jeden davon, dass er harmlos war. Aber David hatte jetzt genug von der Oliver-Burke-Show. Dieses Gespräch brachte ihn nicht weiter.

Also erklärte er Burke, dass er ihn im Auge behalten würde, und legte den Hörer auf. Aber Burke klopfte gegen die Scheibe und brachte ihn so dazu, noch einmal zum Telefon zu greifen.

“Wie geht es eigentlich Skye?”, erkundigte er sich, als würde es ihn ernsthaft interessieren. “Hat sie sich denn schon erholt?”

“Ihr geht es gut. Hat alles überstanden”, entgegnete David, auch wenn er wusste, dass es eine Lüge war. Wenn sie es überstanden hätte, würde sie keine Geister mehr verfolgen. Und sie würde sich nicht völlig verausgaben, indem sie versuchte, jedem Opfer in Sacramento zu helfen.

“Schön. Und wie gefällt ihr das neue Haus?”

David befand sich plötzlich auf höchster Alarmstufe. Skye war erst vor einem Jahr umgezogen. “Wie kommen Sie darauf, dass sie umgezogen ist?”

“Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie immer noch dort wohnt.”

Das war keine Antwort. “Skye und Sie haben nichts miteinander zu tun. Wenn Sie so schlau sind, wie Sie vorgeben, dann lassen Sie sie in Ruhe.”

“Es ist ja nicht so, als würde sie sich im Hintergrund halten”, sagte er und legte sich die Hand auf seine schmale Brust. “Ich habe sie in Talkshows gesehen, wo sie dafür plädiert, ‘Monster’ wie mich härter zu bestrafen. In den Zeitungen erscheint sie auch. Vor einigen Wochen gab es in der Zeitung einen Artikel über die Organisation, die sie gegründet hat. Wie hieß die noch mal? The Last Stand?” Er lachte. “Sie hat ja keine Ahnung, was ein richtiges Monster so anstellen kann! Aber das sieht ihr ähnlich, was? Sich immer an irgendwas hochzuschaukeln.”

David konnte es kaum ertragen, in welch zärtlichem Ton er von der Frau sprach, die er überfallen hatte. “Sie kennen Sie überhaupt nicht.”

“Was soll das heißen? Ich kenne sie besser als jeder andere – Sie inbegriffen.” Er hängte den Hörer ein, stand auf und klopfte an die Tür, um hinausgebracht zu werden.

David reagierte nicht, als der Wärter die Tür auf seiner Seite des Raumes öffnete. Er war zu sehr damit beschäftigt, Oliver Burkes letzte Bemerkung zu analysieren. Die Art, wie er Skyes Namen ausgesprochen hatte.

“Detective Willis?”, drängte der Wärter.

David blinzelte, legte den Hörer auf und lief mit bleiernen Füßen zum Ausgang.