16. KAPITEL
Skye hatte ihren zuverlässigsten Mitarbeiter Peter Vaughn noch nie in etwas anderem als löchrigen Jeans und einem Black-Sabbath-Shirt gesehen. Aber der Smoking stand ihm sehr gut, trotz der verstrubbelten Frisur …
Als er sie zur Tür hereinkommen sah, kam er ihr sofort entgegen, um sie zu begrüßen.
“Wow! Ich hätte dich fast nicht wiedererkannt”, scherzte sie.
Bei seinem verschämten Grinsen musste sie lächeln. “Ich kann mich auch in der High Society bewegen”, erklärte er stolz und wischte sich einen nicht vorhandenen Fussel vom perfekt sitzenden Kragen. “Ich habe für diese Veranstaltung fünfzig Tickets verkauft. Da musste ich einfach herkommen und sehen, wie es geworden ist.”
Mit seinen achtzehn Jahren war er vermutlich der jüngste Gast hier im Saal – und der einzige, der Tätowierungen bis zum Hals trug –, aber Skye freute sich, dass er sich so für The Last Stand engagierte. “Das hast du großartig gemacht.”
“Wir werden damit einiges erreichen.”
“Das hoffe ich.” Skye zwirbelte eine Haarsträhne zwischen den Fingern, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatte. Sie hatte sich vor dem Balls noch eine halbe Stunde lang die Nägel machen lassen. Wenn sich schon mal die Gelegenheit bot, durfte sie sich ruhig einmal solch weiblichen Luxus gönnen. Allerdings würden die neuen Krallen morgen wieder entfernt werden. Es war zu schwierig, damit einen Revolver zu handhaben. Kurz ging ihr durch den Kopf, wie viele andere Frauen hier in diesem Raum sich wohl Sorgen darum machen mussten, ob ihre falschen Fingernägel ihnen im Weg sein könnten, wenn sie jemanden erschießen wollten.
“Du siehst aber selbst ziemlich heiß aus”, sagte Peter. Ihr fiel jetzt erst auf, dass er sie schon eine Weile musterte.
Sie lächelte noch breiter. “Das sind die neuen Fingernägel.”
“Das ist die Figur!”, rief er spontan.
Sie lachte. “Ein angenehmer Nebeneffekt meines täglichen Trainings, nehme ich an.”
“Für die meisten Leute ist das der hauptsächliche Grund, um zu trainieren.”
“Ich bin aber nicht wie die meisten Leute.”
Er wurde plötzlich ernst. “Ich habe gehört, was vorgefallen ist.”
Peter meinte natürlich die Schießerei in ihrem Haus vergangene Nacht. Aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu The Last Stand und ihrem Hintergrund, der bereits sensationell genug war, wurde in allen Nachrichten von dem Vorfall berichtet. Eine besonders eifrige Reporterin der Lokalnachrichten hatte sogar die Tatsache erwähnt, dass dieser zweite Überfall am gleichen Tag passierte, an dem Burke aus dem Gefängnis entlassen wurde. Aus gegebenem Anlass hatte sie diese ganze Geschichte auch noch einmal vorgekramt.
Es war ein gewalttätiger Tag für beide – sowohl für Skye Kellerman von The Last Stand als auch für den Mann, der sie vor vier Jahren mit vorgehaltenem Messer vergewaltigen wollte …
Seit dem Eintreffen der Gäste hatte Skye bei jedem immer wieder auf irgendeine Bemerkung oder Frage zu den Ereignissen des Vorabends reagieren müssen.
Ich bin so froh, dass es Ihnen gut geht … Das muss ja schrecklich gewesen sein … Kennen Sie den Mann, der bei Ihnen eingebrochen ist? … Nein? Glauben Sie, dass er was mit dem Zahnarzt zu tun hat, von dem Sie angegriffen wurden? … Aber Oliver Burke ist doch im Krankenhaus, oder? … Ich habe es in den Nachrichten gesehen … Da es Ihnen gut geht, kann ich es ja sagen: Das war wirklich eine unübertroffene Publicityaktion. So viele Gäste hier! … Ich könnte wetten, Sie werden heute eine Menge Spenden einsammeln, was? … Wie gut, dass Sie ihn getroffen haben …
In gewisser Hinsicht war das allerdings überhaupt nicht gut. Lorenzo Bishop hatte immerhin irgendwo Eltern, Großeltern oder Geschwister. Vielleicht auch eine Frau oder, Gott behüte, Kinder. Skye bemühte sich, an so etwas gar nicht erst zu denken, ihn sich überhaupt nicht als ein menschliches Wesen vorzustellen, damit sie den heutigen Abend irgendwie überstehen konnte. Wenn ihr nur nicht diese schrecklichen Bilder immer wieder durch den Kopf gehen würden … Sie konnte nicht eine Sekunde davon vergessen. Auch ohne dass man sie ständig darauf ansprach.
“Peter, hast du jemanden vor dem Büro herumlungern sehen, den du nicht kennst?”, fragte sie. Skye hatte fest vorgehabt, sich heute Abend nicht damit zu befassen. Das war nicht gerade der günstigste Moment oder der beste Ort dafür. Sie musste sich darauf konzentrieren, dass die Gäste, die immerhin eine Menge Eintritt bezahlt hatten, auch gut versorgt wurden. Sie wollte das, was sie mit Sheridan und Jasmin aufgebaut hatte, im besten Licht darstellen und einen guten Eindruck machen. Trotzdem hatte sie vor, mit sämtlichen Ehrenamtlichen darüber zu sprechen, und sie konnte der Gelegenheit nicht widerstehen.
Er blinzelte sie an. “Den ich nicht kenne?”
“Der Mann, der gestern Abend in mein Haus eingebrochen ist, hatte einen Stadtplan bei sich, auf dem das Büro eingezeichnet war.”
“Aber das bedeutet doch nicht zwingend, dass er dort war.”
“Ich stehe nicht im Telefonbuch.”
“Das spielt keine Rolle. Man kann jeden finden, der ein Grundstück oder Haus besitzt oder einen Vertrag mit den Stadtwerken hat.”
Er hatte bei The Last Stand bereits eine Menge gelernt. “Irgendwo muss ich ja anfangen.”
“Ich wünschte, ich könnte dir weiterhelfen. Aber mir ist nichts Ungewöhnliches aufgefallen.”
Bevor Skye die Gelegenheit hatte, ihn nach den Namen all derjenigen zu fragen, die vergangene Woche im Büro gewesen waren – es war seine Aufgabe, die Ehrenamtlichen einzuteilen –, kam Sheridan zu ihnen herüber. “Alles in Ordnung?”, erkundigte sie sich und umfasste Skyes Ellenbogen.
Skye ließ sich kurz umarmen. “Mir geht es gut.”
Sheridan und Peter umarmten sich ebenfalls zur Begrüßung. “Du sieht umwerfend aus”, schmeichelte ihm Sheridan. “Ich bin stolz auf dich wie eine Mutter.”
Er verzog das Gesicht. “Wie eine Mutter? Komm schon! Ich bin fast neunzehn. Vielleicht sollte ich mich ja im Büro ab und zu mal aufstylen, dann würde sich womöglich eine von euch nicht mehr am Altersunterschied stören.”
“Warum sich denn auf eine festlegen?”, scherzte Sheridan.
“Da hast du recht.” Er rückte seine Fliege zurecht und setzte eine großspurige Miene auf. “Ich komme auch mit euch beiden zusammen klar. Das ist der Vorzug der Jugend.”
Sheridan verdrehte die Augen. “Wo ist Charlie?”, erkundigte sie sich bei Skye.
Skye blickte sich im Saal um, der sich langsam füllte. “Ich habe mich mit ihm hier verabredet. Auf diese Weise habe ich einen guten Grund, ihn vom Trinken abzuhalten. Dann muss er nämlich in seinem eigenen Wagen wieder nach Hause fahren.”
“Sehr raffiniert”, sagte Sheridan lachend. “Und vorausschauend, da wir ja für die Vorbereitungen vorher hier sein mussten.” Sie neigte sich leicht zu Skye hinüber und senkte die Stimme. “Hast du schon Senator Denatorre gesehen?”
“Nein.” Irgendwie hatte Skye ihn verpasst. Aber das war nicht überraschend. Sie befand sich heute Abend nicht unbedingt in Hochform und hatte sich die meiste Zeit in die Ecke gegenüber dem Büffet mit den Hors d’œuvres gestellt, wo am wenigsten los war. Sie hatte auch nach Charlie Ausschau gehalten. Da er als ihr Gast kam, besaß er kein Ticket. Sie wollte sichergehen, dass er gut versorgt wurde. Und zum ersten Mal wollte sie gern alles von den letzten bösen Machenschaften seiner Exfrau hören. Das hatte wenigstens nichts mit ihren eigenen Problemen zu tun.
“Ich habe den Senator schon begrüßt”, fuhr Sheridan fort. “Du musst also nicht sofort hinübergehen. Aber du solltest schon mal Hallo sagen, bevor sich alle zum Dinner setzen. Er möchte dich und Jasmine gern kennenlernen.”
“Wo ist Jaz?”, wollte Skye wissen.
“Immer noch auf dem Weg hierher. Sie sollte aber bald hier sein.”
“Ich werde den Senator begrüßen, sobald mein Begleiter da ist”, erklärte Skye. “Wir wollen doch keinen falschen Vorstellungen Vorschub leisten.”
“Was auch immer nötig sein mag, um bei ihm Eindruck zu machen.”
“Verdammt noch mal, selbst als Wohlfahrtsverband muss man jemandem in den Arsch kriechen”, schimpfte Peter leise. Doch dann entdeckte er einen befreundeten Mitarbeiter und war abgelenkt. “Wir sehen uns später”, sagte er und verschwand mit einem Winken zu seinem Kollegen.
“Und wo ist dein Begleiter?”, wollte Skye wissen.
“Er muss hier irgendwo herumschwirren.”
“Wer ist es denn?”
“Jonathan.”
“Stivers?”
“Kennen wir noch einen Jonathan?”, fragte Sheridan unschuldig.
“Das ist nicht fair!”, beschwerte sich Skye. “Dann hätte ich ja auch einen Mitarbeiter einladen können!”
“Ich habe ja gar nicht gesagt, dass du das nicht kannst.”
“Ich hatte den Eindruck, es ging darum, sich richtig mit jemandem zu verabreden.”
“Ist Charlie denn eine richtige Verabredung?”, konterte Sheridan.
Charlie war gerade angekommen und bahnte sich seinen Weg zu ihnen herüber, sodass Skye ihre Stimme senken musste. “Jonathan ist ja noch ein größerer Bluff als Charlie, das weißt du ganz genau”, flüsterte sie ihr zu.
Sheridan lächelte strahlend in Charlies Richtung. “Glaube ich nicht. Mit Jonathan ins Bett zu gehen, wäre, als würde ich mit meinem Bruder schlafen. Trotzdem hätte ich ihn auf jeden Fall gegenüber Charlie vorgezogen.”
Skye hatte keine Gelegenheit mehr zu antworten, da Charlie bereits zu nahe war. Sheridan begrüßte ihn und machte, dass sie wegkam. Skye blieb stehen, wo sie war, redete mit ihrem Begleiter über belangloses Zeug und blickte sich im Saal nach Jonathan um. Sie wollte ihn fragen, ob er in Sean Regans Fall noch mehr herausgefunden hatte – sie fühlte sich schrecklich deshalb. Aber der Privatermittler war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich stand er draußen im Foyer und telefonierte mit seinem Handy. Als echten Workaholic sah man ihn ständig an irgendeinem Telefon hängen.
“Wen suchst du denn?”, erkundigte sich Charlie, als er seine Frage, wie ihre Arbeit laufe, noch einmal stellen musste. Er hatte sie nicht auf den Vorfall der vergangenen Nacht angesprochen. So schwer es auch zu glauben war, aber Skye war sich ziemlich sicher, dass er noch überhaupt nichts davon gehört hatte.
“Nach Sheridans Begleiter.”
“Wen hat sie denn mitgebracht?”
“Jonathan Stivers.”
“Der Name kommt mir bekannt vor.”
“Sie sind befreundet. Er arbeitet manchmal für uns als Privatdetektiv.”
“Ich wusste nicht, dass sie sich mit jemandem trifft.”
“Sie sind ja auch nicht zusammen. Nicht wirklich.” Jonathan war eine alte Flamme von Sheridan, was die Sache vielleicht interessant werden lassen könnte. Nur hatten sich deren romantische Gefühle füreinander bereits vor zwei Jahren verflüchtigt.
“Nun wird es also Zeit, ein bisschen ausgeglichener zu leben”, bemerkte sie sarkastisch.
“Was hast du gesagt?”, fragte Charlie nach.
“Ach, schon gut.” Skye holte tief Luft, warf die Schultern zurück und schob ihre Hand in seine Armbeuge. Es war egal, ob Sheridan eine richtige Verabredung hatte oder nicht. Skye hatte Charlie aus einem bestimmten Grund eingeladen, und zwar sicher nicht, um mit ihm ins Bett zu gehen. Auch wenn es noch so lange her war. “Wir müssen mal zu Senator Denatorre rübergehen und Hallo sagen.”
“Müssen wir?”
Skye blieb stehen und sah ihn überrascht an. “Das stört dich doch nicht, oder?”
“Ich bin Demokrat”, sagte er. “Ich hasse Denatorre.”
“Mach dir deshalb keine Sorgen. Das hier ist eine überparteiliche Veranstaltung.”
“Meine Exfrau ist Republikanerin.”
Oh, Junge … was für eine Leidensgeschichte. “Erwähne bitte deine Exfrau nicht in Gegenwart des Senators”, sagte Skye und zog ihn mit sich.
Der Senator und seine Frau unterhielten sich angeregt mit einer kleinen Gruppe von Leuten. Skye blieb in höflichem Abstand daneben stehen und wartete auf eine Gelegenheit, um sich vorzustellen. Da entdeckte Bob Gibbons sie, ein Berater, den sie auf der Pressekonferenz nach dem Ubaldi-Fall kennengelernt hatte. Er nahm sie am Ellenbogen und führte sie in den kleinen Kreis.
“Senator, das ist Skye Kellerman, eine der Gründerinnen von The Last Stand und wahrscheinlich die eifrigste Verfechterin der Sache.”
Der Senator sah aus, wie man sich einen Senator vorstellte. Mit dem aus der Stirn gekämmten dunklen Haar, dem wachen Blick und den makellosen Zähnen, war er ein gut aussehender Mann Mitte fünfzig. “Es dürfte schwierig sein, noch eifriger zu arbeiten als Ihre Kolleginnen”, scherzte er und streckte die Hand aus. “Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen, Miss Kellerman.”
“Ich bin ebenfalls sehr erfreut”, erwiderte sie. Dann stellte er seine Frau vor.
Kaum dass ihr Mann Skyes Hand losgelassen hatte, griff Roxanne Denatorre danach. Sie war perfekt zurechtgemacht und sehr stilvoll in ein schwarzes Abendgewand mit weißen Manschetten und Kragen gekleidet. “Und wer ist Ihr Begleiter, Miss Kellerman?”, erkundigte sie sich.
Charlie stand ein Stück hinter Skye und machte ein Gesicht, als wäre er lieber zu Hause. “Das ist mein Freund Charlie Fox.”
“Charlie, was für ein Glück Sie haben, mit einer so wundervollen Frau befreundet zu sein!”, bemerkte Mrs. Denatorre.
Charlie hob die Augenbrauen, als wäre ihm das noch gar nicht aufgefallen. “Hm … Ja, ja, das stimmt.” Er gab jedem in der Gruppe die Hand und zog sich wieder mit seiner gelangweilten Miene zurück. Aber wenigstens machte er keine Bemerkung über seine Exfrau – oder die Republikaner im Allgemeinen.
“Es ist wirklich wunderbar, dass Sie heute Abend kommen konnten”, sagte Skye zum Senator.
“Ich bewundere Ihre Arbeit, Miss Kellerman.” Er musterte sie kurz. “Aber ich bin erstaunt, dass Sie hier sind. Das hätte ich nicht erwartet, nachdem Sie der Gefahr gerade erst so knapp entronnen sind.”
Sofort hatte Skye wieder die ausgestandene Angst, die Schüsse und den Toten in ihrem Flur vor Augen. Alles war noch so präsent. “Es ist immer bedauerlich, wenn jemand sein Leben lassen muss”, sagte sie leise und versuchte nicht zu sehr darüber nachzudenken.
“Besser sein Leben als Ihres”, erwiderte er.
“Da kann ich Ihnen allerdings nicht widersprechen.”
“Aber …”
Sie blinzelte. “Aber was?”
“Ich dachte, ich hätte ein Zögern gehört.”
Das war bestimmt nicht das beste Thema für eine gepflegte Partyunterhaltung, aber Skye konnte Denatorres unausgesprochener Aufforderung nicht widerstehen. Sie war sowieso nicht der Typ dafür, die Zeit mit sinnlosen Plattitüden zu verschwenden. Wenn der Senator Klartext hören wollte, dann würde er ihn auch bekommen. Sie hatte womöglich nie wieder die Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Es war ja nicht so, dass er bei all ihren Spendenveranstaltungen erschien – oder etwa auf die Telefonanrufe aus ihrem Büro reagierte. “Ich würde etwas besser damit zurechtkommen, wenn ich wüsste, warum Mr. Bishop mich überhaupt verfolgt hat.”
“Die Polizei konnte Ihnen das nicht sagen?”
“Nein, bisher kann es mir niemand erklären.”
Er blickte sie einen Moment an. “Ihre Arbeit ist sehr gefährlich, Miss Kellerman.”
Sie bemühte sich um ein legeres Schulterzucken. “Das liegt nun mal an dem Aufgabengebiet.”
“Wünschen Sie sich niemals, die Sache aufzugeben?”
“Randy”, ermahnte ihn seine Frau leise, aber er tätschelte ihr nur die Hand, die sie ihm auf den Arm gelegt hatte, und wartete auf Skyes Antwort.
“Nein”, entgegnete sie. “Das macht mich nur umso entschlossener.”
“Manche Leute fürchten Sie ebenso, wie sie Sie bewundern”, sagte er. “Manche sehen in Ihnen eine Art Bürgerwehr.”
Mrs. Denatorre mischte sich nicht mehr ein, nachdem der Senator sie mit seiner Geste um Zurückhaltung gebeten hatte. Außerdem war sie nun offensichtlich selbst neugierig, wie Skye reagierte. Ebenso die anderen in der Gruppe, wie man an den erwartungsvollen Blicken unschwer erkennen konnte.
“Sie reden bestimmt vom Polizeichef”, sagte Skye, entschlossen, trotz der Umstehenden offen zu sein. Der Senator war derjenige, der das Thema angesprochen hatte.
“Chief Jordan ist nicht gerade Ihr größter Anhänger.”
“Nicht etwa, weil er befürchtet, dass wir zu einer Art Bürgerwehr werden, falls er Ihnen das erzählt haben sollte. Es gefällt ihm nicht, dass wir so viele Tatsachen an die Öffentlichkeit bringen.”
“Da ist er nicht der Einzige.”
“Es ist mir egal, und wenn sämtliche Polizeieinheiten des Landes etwas gegen unsere Arbeit hätten. Wenn man die Fälle an die Öffentlichkeit bringt, wird das manchen Leuten unangenehm sein – nicht nur den Kriminellen. Aber bevor man versucht, in Sacramento etwas zu verbessern, muss man bestimmte Dinge erst mal beim Namen nennen.”
Mrs. Denatorre lächelte, als würde ihr diese Antwort gefallen. Doch der Senator war noch nicht mit Skye fertig. “Um sich so sehr einzusetzen, wie Sie das tun, muss man große persönliche Opfer bringen”, bemerkte er. “Was letzte Nacht passiert ist, wäre doch sicher nicht geschehen, wenn Sie einen anderen Job hätten.”
Die Blicke aller Umstehenden richteten sich auf sie, aber Skye ließ sich von der besonderen Aufmerksamkeit nicht einschüchtern. “Wir wissen nicht genau, ob der Vorfall gestern Nacht mit meiner Arbeit zu tun hatte. Es kann auch der Racheakt eines Mannes gewesen sein, der im Gefängnis saß, weil er mich mit dem Messer bedrohte und ich gegen ihn vor Gericht aussagte. Doch selbst, wenn es mit meiner Arbeit zu tun haben sollte, heißt das doch nicht, dass ich irgendetwas herausgefordert habe! Und wenn man so argumentiert, dann frage ich mich, was Oliver Burke dazu bewogen hatte, mich zu überfallen? Ich war damals sechsundzwanzig Jahre alt und Kundenbetreuerin bei Wear Well Carpet. Das würden die meisten wohl kaum als riskanten Job bezeichnen – es sei denn, man ist gegen Teppichkleber allergisch.”
Der Senator zwinkerte ihr zu. “Beeindruckend.”
“Verstehen Sie, was ich gemeint habe?”, meldete sich sein Assistent mit einem stolzen Lächeln.
“Das tue ich, Bill. Sie haben recht: Sie ist erstaunlich.” Nachdenklich rieb sich Denatorre das Kinn. “Eine Beziehung zu The Last Stand könnte für uns ein heißes Eisen werden. Aber ich denke, ich kann den Charakter einer Person gut einschätzen. Mir gefällt es, dass Sie den Kopf für Ihre Ideale riskieren.” Er griff in seine Jacketttasche und zog eine Visitenkarte heraus. “Rufen Sie mich im Lauf der Woche an, Miss Kellerman”, sagte er, als er ihr die Karte reichte. “Ich werde den Bürgermeister bitten, uns beim Mittagessen Gesellschaft zu leisten. Dann werden wir sehen, wie wir Ihnen helfen können.”
Skye war so verblüfft, dass sie einen Moment brauchte, bevor sie darauf reagierte. Doch als sie ein Danke hervorbrachte, hatte sich der Senator bereits mit seiner Abordnung umgewandt, um zu den Tischen hinüberzugehen. Nur Mrs. Denatorre drehte sich noch einmal um und lächelte sie an.
“Ich kann es gar nicht glauben!”, flüsterte sie Charlie zu.
“Was glauben?”, fragte er gleichgültig.
“Dass wir ihn für uns gewonnen haben! Er hat mich zum Mittagessen eingeladen.”
“Natürlich. Republikaner sind große Verfechter von Gesetz und Ordnung. Vergelten, nicht vergeben. Das ist ihr Motto. Meine Exfrau ist genauso”, sagte er. Daraufhin begann er die Geschichte von seiner Exfrau zu erzählen, die versprochen hatte, ihm seine in der Ehe begangenen Fehler zu vergeben, und ihn dann doch verließ. Aber Skye hörte gar nicht richtig zu. Sie war viel zu aufgeregt. Sie zog Charlie mit sich zu den Dinnertischen, wo Sheridan mit Jonathan saß.
Aufgeregt beugte sich Skye von hinten über ihre Freundin und flüsterte ihr zu: “Rate mal, was ich gerade an Land gezogen habe!”
Sheridan und Jonathan drehten sich beide zu ihr um, und Skye zeigte die Karte vom Senator. “Ein Mittagessen. Mit Senator Denatorre und dem Bürgermeister.”
“Du machst Witze!”, rief Sheridan. Aber Skye hörte nicht mehr, ob einer der beiden noch einen weiteren Kommentar abgab. Sie entdeckte plötzlich zwei Personen, die sie nicht erwartet hatte, und richtete sich auf. Der eine war ein großer Schwarzer, den sie als Tiny kannte.
Und der andere war David.
Kaum erblickte er Skye, da wusste David, dass es ein Fehler gewesen war, zu der Spendengala zu erscheinen. Sie trug ein aufregendes grünes Kleid, das sich überall an ihren Körper schmiegte, wo er sie so schrecklich gern berührt hätte. Das lenkte ihn mehr als nur ein bisschen ab. Mit diesem hochgesteckten Haar sah sie so hübsch wie noch nie aus. Er verkniff sich ein Grinsen. So elegant und feminin sie heute auch aussah – vermutlich konnte sie schwerere Gewichte stemmen und länger joggen, wenn nicht sogar schneller, als mancher Mann hier im Saal.
Tiny stieß ihn an, und er bemerkte, dass er stehen geblieben war. “Was ist?”, fragte David, plötzlich gereizt, weil er den Mann im Smoking an Skyes Seite entdeckt hatte. Charlie Fox, er konnte ihn vom ersten Augenblick an nicht leiden.
“Ich dachte, wir würden uns einen Platz suchen.”
“Machen wir auch.” Doch das würde heißen, dass er den Blick von Skye und ihrem Begleiter losreißen müsste, um beim Laufen niemanden anzurempeln. Das war nicht so leicht.
Tiny suchte zwei Stühle im hinteren Teil des Saals aus. Als sie sich setzten, nickten ihnen die anderen Gäste am Tisch höflich zu und stellten sich vor. Dann wurde der Salat serviert. Doch schon nach fünf Minuten beschloss David, den Platz zu wechseln. Er wusste, dass es besser wäre, zu bleiben, wo er war. Doch bei Skye am Tisch war ein einzelner Platz frei, und dorthin beschloss er zu gehen.
“Du bist ja vielleicht ein Begleiter”, grummelte Tiny, als David sich zu ihm herüberlehnte, um ihn von seinem Vorhaben zu unterrichten.
David senkte die Stimme, sodass nur sein Kollege ihn verstehen konnte. “Du brauchst mich ja nicht. Du wirst schon vollauf damit beschäftigt sein, dich unter die Leute zu mischen und herauszufinden, wer hier vielleicht nicht reinpasst.”
Tiny sah ihn spöttisch an. “Um meine Vollbeschäftigung hier mache ich mir keine Sorgen, eher um deine.”
David legte sich sofort eine gute Ausrede dafür zurecht, warum er unbedingt in Skyes Nähe sein musste – so war es einfacher zu überschauen, wer sich ihr näherte und was zu ihr gesagt wurde. Doch er konnte Tiny nichts vormachen, deshalb versuchte er es auch gar nicht erst. “Falls wir zusammen den Saal verlassen sollten, komm bitte sofort hinterher, bevor ich eine Dummheit begehe.”
“Da verlass dich mal lieber nicht auf mich. Du weißt genau, was ich darüber denke.”
Das wusste David allerdings nicht. Tiny ließ ihn selten an seiner persönlichen Meinung oder seinen Gefühlen teilhaben. “Dass ich mich zu sehr emotional auf die Sache einlasse?”
“Diese Meinung ist schon überholt.”
“Wovon redest du dann?”
“Du kämpfst lange genug dagegen an. Du musst dich entscheiden, was dich mehr fertig macht – das zu nehmen, was du willst, oder es aufzugeben.” Das hörte sich so an, als wäre es ganz einfach. Doch das war es überhaupt nicht. Sich nach Skye zu sehnen und sich dieser Sehnsucht zu ergeben, passte einfach nicht zu seinem Vorsatz. Er hatte Lynnette etwas versprochen, was er auch einzuhalten gedachte. Ansonsten könnte er sich selbst nicht mehr respektieren. Er hatte mit ihr durch Dick und Dünn gehen und ein guter Vater sein wollen.
Er stand auf. “Wie ich schon sagte: Komm und hol mich.”
Tiny machte eine abwehrende Handbewegung. “Tut mir leid, Kumpel! Das musst du allein durchstehen.”
“Was für ein Freund!”
“Vielleicht wirst du mir später dafür dankbar sein”, sagte Tiny lachend.
David antwortete nichts darauf. “War nett, Sie kennengelernt zu haben”, sagte er dem Paar zu seiner Linken, dann durchquerte er den Saal und blieb vor dem leeren Stuhl an Skyes Tisch stehen. “Darf ich mich setzen?”
Eine Frau gleich rechts von ihm lächelte ihn strahlend an. Sie war schätzungsweise einundzwanzig oder zweiundzwanzig und offensichtlich mit ihren Eltern dort. Was den freien Platz erklärte. “Aber natürlich!”
Der Mann zu seiner anderen Seite schob den Stuhl zurecht. “Bitte schön.” Die anderen am Tisch murmelten ebenfalls ihre Zustimmung, nur Skye schwieg. Sie runzelte die Stirn und wandte sich zu Charlie Fox um – ihrem Begleiter. Aufgrund seiner kurzen Recherche wusste David, dass Fox geschieden war, zwei Kinder hatte, keine Vorstrafen, nicht mal Tickets wegen zu schnellen Fahrens.
“Und was machen Sie so?”, erkundigte sich nun die Frau zu seiner Rechten, die leicht übergewichtig, aber eigentlich ganz hübsch war.
“Ich bin Detective beim Sacramento Police Department”, erwiderte er.
Sie klatschte aufgeregt in die Hände. “Oh! Aber Sie sind nicht hier, um die Schießerei gestern Abend zu untersuchen, oder?”
Skye saß ihm direkt gegenüber. Sie lächelte den anderen sofort zu, aber David spürte, wie sehr sie die Sache belastete. “Nein.” Er war mit der Entschuldigung hierhergekommen, dass er sich davon überzeugen müsse, ob ihr hier auch keine Gefahr drohte. Sollte Lorenzo von Burke beauftragt gewesen sein, hätte er auch noch jemand anders schicken können. Die Wahrheit war allerdings, dass er einfach hatte herkommen müssen. Es machte ihn fertig, dass Skye sich zurückziehen und das, was sie füreinander empfanden, ignorieren wollte – auch wenn er es befürwortete. Einer von ihnen musste irgendwas unternehmen. Sie konnten nicht so weitermachen, sich weiter quälen und in diesem Schwebezustand verharren.
“Welche Schießerei?”, erkundigte sich Charlie Fox, der aufgehört hatte zu essen und sich fragend am Tisch umsah.
“Haben Sie nichts davon gehört?”, fragte die junge Frau. “Das kam doch in allen Nachrichten. Und Sie … sind doch mit Miss Kellerman befreundet, oder?”
“Seit meine Frau mich verlassen hat, sehe ich keine Fernsehnachrichten mehr und lese auch keine Zeitungen”, erwiderte er. “Ist mir zu deprimierend. Was ist denn passiert?”
Der Vater der jungen Frau, der auf der anderen Seite neben ihr saß, lehnte sich zu ihr hinüber. “Sei doch nicht so unsensibel, Jilian.” Jedenfalls etwas in der Art, denn sie wurde plötzlich unsicher. “Also … ich weiß nicht, ob Miss Kellerman darüber sprechen möchte”, fügte sie nun ein bisschen zu spät hinzu, als wollte sie einen Rückzieher machen.
Skye hob das Kinn. “Ist schon in Ordnung”, sagte sie. Aber David kannte Skye gut genug, um ihr anzusehen, wieviel es sie kostete, heute Abend hier zu sein. Sie hatte noch nicht verarbeiten können, dass sie einen Mann erschossen hatte. Sie verstand nicht, warum Lorenzo überhaupt in ihr Haus eingebrochen war. Und nun war sie wieder einmal der Mittelpunkt des öffentlichen Interesses und der Spekulationen. David tat es in der Seele weh, sie zu beobachten. Wieder war diese Verletzlichkeit bei ihr zu sehen, die sie auch damals kurz nach Burkes Überfall gezeigt hatte. Es machte ihn wütend, dass sie sich das antun und heute Abend hier erscheinen musste. Sie brauchte Zeit, um das Ganze zu verarbeiten, um ihre Wunden zu lecken.
Aber für The Last Stand würde sie alles tun.
“In solchen Situationen tut man, was man tun muss”, bemerkte David. Mit dieser Entschiedenheit wollte er die anderen davon abhalten, weitere Fragen an Skye zu richten. Aber der Typ neben ihr – Charlie Fox – schien das nicht zu kapieren.
“Du warst an einer Schießerei beteiligt?”, sagte er und starrte sie an.
Das Blut wich aus Skyes Gesicht. Aber sie lächelte tapfer weiter. “Es war ein bewaffneter Einbrecher. Ich … ich musste mich verteidigen.”
“Du meinst, du hast ihn erschossen? Er ist tot?”
Alle am Tisch ließen das Besteck sinken, und ein unangenehmes Schweigen entstand.
“Es ist ja nicht so, dass ich … Ich meine …”, begann Skye. Es sah aus, als bemühte sie sich krampfhaft zu schlucken, dann blinzelte sie.
David sah, dass sie mit den Tränen kämpfte. Sie schob den Stuhl zurück, sprang auf und rannte ohne ein weiteres Wort aus dem Saal.