6. KAPITEL
“Einigen von Ihnen wurde wahrscheinlich gesagt, dass Revolver nichts für Frauen sind.” Skye stand vor fünfzehn Kursteilnehmerinnen in dem kleinen Schulungsraum des Schießplatzes und kämpfte nach einer weiteren schlaflosen Nacht gegen die Müdigkeit an. Die Mehrheit ihrer Schülerinnen würde heute zum ersten Mal eine Waffe in der Hand halten. Sie begann deshalb immer erst einmal damit, einige Vorurteile auszuräumen. “Oder dass Frauen zu ängstlich und zurückhaltend sind, um mit einer so gefährlichen Waffe umgehen zu können. Dass sie nicht genug Kraft im Oberkörper haben, um gute Schützen zu werden. Und dass Frauen nicht den Mut haben, Schusswaffen zu benutzen.” Sie machte eine kurze Pause und blickte jeder einzelnen Schülerin in die Augen. “Wer hat so etwas schon mal gehört?”
Mehrere Hände gingen hoch.
“Glauben Sie das nicht! Ich will gar nicht über den Sexismus diskutieren, der hinter solchen Bemerkungen steckt. Aber einen Punkt, der einzige, der auch teilweise zutrifft, möchte ich ansprechen: Frauen haben tatsächlich oft keine große Kraft im Oberkörper, was sich bei der Handhabung einer Schusswaffe nachteilig auswirken kann. Wir haben am meisten Kraft in den Beinen. Aber mit der richtigen Technik kann fast jede Frau, egal wie klein und zart gebaut sie ist, lernen, gut mit einer Pistole umzugehen.”
Skye wandte sich kurz ab, um ein Gähnen zu unterdrücken. Dann stellte sie sich vor die Schaubilder, die sie auf der Tafel befestigt hatte. “Zuerst einmal ist es wichtig, die passende Waffe für Ihre Größe auszusuchen. Sie müssen darauf achten, dass sie gut in der Hand liegt und bequem zu handhaben ist. Auf diesem Bild hier ist die Waffe zu groß. Sehen Sie, wie das Handgelenk einknickt, damit der Finger an den Abzug reicht? Das sollten Sie vermeiden. Der Revolver muss so in der Handfläche liegen, dass er praktisch die Verlängerung des Unterarms darstellt, so wie hier.” Sie zeigte auf das zweite Schaubild, auf dem die Waffe perfekt in die Hand der Besitzerin passte. “Es ist leichter, eine Pistole zu bedienen, die zu klein ist, als eine, die zu groß ist.” Dabei tippte sie auf die dritte Abbildung, auf der eine groß gewachsene Frau eine winzige Pistole in der Hand hielt. “Sie müssen nur aufpassen, dass sie den Finger nicht zu weit über den Abzugshebel schieben, wenn Sie abdrücken.”
Skye ging zu dem Tisch hinüber, auf dem eine Reihe von ungeladenen Handfeuerwaffen lag. “Werfen wir einen Blick auf die unterschiedlichen Arten von Waffen.”
Eine Schülerin meldete sich.
Skye forderte sie mit einer Handbewegung auf, ihre Frage zu stellen.
“Wie lange schießen Sie schon?”
“Vier Jahre.”
Die Brünette in der ersten Reihe hob die Hand.
“Ja?”
“Braucht man sehr lange, um es richtig zu lernen?”
Skye unterdrückte ein Seufzen. Sie hatte den Kurs diesmal nicht mit der üblichen Beschreibung ihres Werdegangs begonnen, weil sie den Unterricht so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte. Sie konnte sich heute nicht konzentrieren. Ständig dachte sie an den Drohanruf, an Burkes Entlassung, die immer näher rückte, und Sean Regans plötzliches Verschwinden. Dann ging ihr noch Jasmine durch den Kopf, die in Fort Bragg nach dem vermissten Kind suchte, und die finanziellen Probleme, in denen The Last Stand steckte. Die Liste war lang …
Aber sie hätte mehr über ihre Person sagen sollen. Mein Name ist Skye Kellerman, und ich werde Sie heute in den Umgang mit Schusswaffen einweisen, reichte offensichtlich nicht.
“Nein”, erwiderte sie. “Aber ich war auch fest entschlossen, es schnell zu lernen, und habe mir sehr viel Zeit zum Üben genommen. Inzwischen …”
“Arbeiten Sie für die Polizei?”, unterbrach sie eine andere Frau.
Sie würden nicht eher Ruhe geben, bis sie die ganze Geschichte erzählt hatte. “Nein. Ich war Opfer einer versuchten Vergewaltigung.”
Ein Murmeln ging durch die Reihen.
“Ich war entschlossen, vorbereitet zu sein, falls so etwas jemals wieder passieren sollte”, erklärte sie weiter.
“Haben sie den Kerl gefasst?”, erkundigte sich eine dürre Frau in der ersten Sitzreihe.
“Ja, die Polizei hat ihn überführt und ins Gefängnis gebracht.” Doch das hatte ihr erlittenes Trauma nicht gemindert. Diese Angst konnte einem niemand nehmen. Diese Frauen würden es nicht verstehen, wenn sie so etwas nicht selbst durchgemacht hatten.
“Wie viele Jahre hat er bekommen?” Die Frage kam von der Kursteilnehmerin neben der Dünnen.
“Acht bis zehn, aber tatsächlich sind es nur drei geworden. Er wird dieses Wochenende auf Bewährung entlassen.”
Es wurde laut im Raum, als alle entsetzt und aufgeregt durcheinanderredeten. Aber Skye wollte ihr Erlebnis nicht verharmlosen. Die Öffentlichkeit musste davon erfahren. Die Frauen mussten darüber Bescheid wissen. Es könnte auch dir passieren, war ihre Botschaft. Sie sollten auf so etwas vorbereitet sein.
“Ich bin eine der drei Gründerinnen von The Last Stand”, sprach Skye weiter. Daraufhin gingen mehrere Hände hoch, doch sie schüttelte den Kopf. “Ich werde Ihnen gern alles über unsere Organisation erzählen; vielleicht hat die eine oder die andere von Ihnen ja sogar Lust, bei uns mitzuhelfen. Aber lassen Sie uns erst den Unterricht zu Ende bringen, ja?”
Die Kursteilnehmerinnen beruhigten sich, und Skye drehte sich wieder zur Tafel um, als sich plötzlich jemand von ganz hinten zu Wort meldete. Sie zuckte zusammen, da es eine Männerstimme war. “Wie viele Schusswaffen besitzen Sie?”
Skye wandte sich um und sah Detective Willis in der hinteren Sitzreihe. Sie hatte nicht bemerkt, wie er hereingekommen war, und fragte sich, was er hier wollte. Sie sah ihn verärgert an.
“Ich besitze einige, Detective, zum Beispiel eine neun Millimeter. Ich bevorzuge aber eigentlich meine kleinen halb automatischen Pistolen wie die Kel-Tec P-3AT oder die SIG P232. Die würde ich allerdings keiner Anfängerin empfehlen.”
“Hilft Ihnen das, nachts besser zu schlafen?”
“Ich möchte sie nicht missen”, entgegnete Skye.
Er sagte nichts weiter, aber diese Missbilligung in seinem Gesicht nervte sie. Aufgrund seiner früheren Bemerkungen konnte sie sich genau vorstellen, was er dachte: Was denn, keine Maschinenpistole? Keine Handgranaten? Er ärgerte sich darüber, dass sie ihn am Abend zuvor nicht angerufen hatte. Sie würde versuchen, alles allein zu machen, warf er ihr vor.
Skye fuhr mit ihrem Unterricht fort, als wäre David gar nicht anwesend. Ein paar Minuten später verließ er den Raum. Sein Benehmen machte sie wütend; am liebsten hätte sie ihn sich vorgeknöpft. Aber hier waren auch fünfzehn Frauen, die alle etwas über Selbstverteidigung lernen wollten. Also erörterte Skye verschiedene Kaliber und ließ jede der Frauen verschiedene Revolver in die Hand nehmen, dann verteilte sie noch ein Informationsblatt zur Sicherheit im Umgang mit Schusswaffen; die Kursteilnehmerinnen sollten es lesen und unterschreiben. Anschließend versprach Skye, beim nächsten Mal das Anmeldeformular für Ehrenamtliche mitzubringen, und lächelte den Frauen zu, während sie nach und nach den Unterrichtsraum verließen.
Doch sie war immer noch wütend. Was bildete David sich ein, einfach hier aufzutauchen und seinen Senf dazuzugeben? Seine Missbilligung vor allen Leuten zu bekunden? Er meinte immer, sie solle auf ihn vertrauen, aber er vertraute ihr keineswegs. Verhielt sich so, als würde sie ihm etwas bedeuten, dabei bedeutete sie ihm in Wirklichkeit gar nichts. Er sehnte sich nach ihr, aber offensichtlich nicht genug, um sich endlich auf sie einzulassen.
Als alle gegangen waren, marschierte Skye aus dem Gebäude und die Vordertreppe hinunter. Sobald sie in ihrem Wagen war, würde sie David anrufen! Doch das war gar nicht notwendig – er wartete draußen auf sie. Sie hatte kaum die letzte Stufe hinter sich, als er sich ihr in den Weg stellte und sie am Arm mit sich zog. “Hallo.”
“Was sollte das denn vorhin eigentlich?”, wollte sie wissen.
Er zog die Augenbrauen zusammen. “Du steigerst dich da rein, Skye.”
“Was geht dich das an?”
“Eine Menge.”
Sie dachte daran, wie er neben ihr im Krankenhaus gesessen hatte, stundenlang. Wie sanft und vorsichtig er seine Fragen gestellt hatte, um alles, woran sie sich noch erinnern konnte, über Burke zu erfahren. Wie er sie umarmt hatte, wenn sie von den traumatischen Erlebnissen überwältigt wurde. Er war in der schwersten Zeit ihres Lebens bei ihr gewesen. Doch kaum hatte sie sich erholt, hatte er den Rückzug angetreten.
“Dann vergiss es wieder”, riet sie ihm schnippisch. “Darin bist du doch gut.” Sie hatte zuerst das Bedürfnis verspürt, mit ihm zu reden. Aber das war wieder vorbei. Was gab es schon zu besprechen? Sie wurden sich einfach nicht einig. Skye wollte an ihm vorbei, aber er versperrte ihr den Rückzug.
“Merkst du nicht, was du da tust?”, fragte er. “Du hast gestern Abend nicht beim Sheriff angerufen. Du glaubst, du kommst damit selbst klar, mit all deinen Pistolen und deinem Training und diesem Ich-hab’s-durchgemacht-mich-kann-nichts-mehrerschüttern-Blödsinn. Willst du so eine Art weiblicher Rambo werden? Das wäre ziemlich dumm. Und unverantwortlich.”
“Das sagst du!”
“Ja, das sage ich. Es ist bereits Dienstag. In drei Tagen kommt Burke raus. Willst du mich wirklich außen vor lassen, gerade jetzt, wo es wichtig ist, zusammenzuarbeiten?”
Das wollte sie eigentlich nicht. Hier lag das Problem. Sie brauchte seine professionelle Hilfe, doch es belastete sie emotional, wenn sie mit ihm zusammenarbeitete. Sie konnte das eine nicht vom anderen trennen. Während es ihm offensichtlich keine Schwierigkeiten bereitete.
Sie wünschte sich wieder dort zu sein, wo sie anfangen hatten. Als sich ihre Gefühle füreinander gerade entwickelten. Alles war noch so unschuldig und unvorhersehbar gewesen. Sie beide waren davon überrascht worden. Jetzt, wo David sich auferlegt hatte, sich gefühlsmäßig nicht zu sehr zu engagieren, war alles anders. Deshalb hatte sich auch ihr Verhalten geändert, sie war in die Defensive gegangen. “Und wo wirst du sein, wenn Burke mich verfolgt?”, wollte sie wissen. “Im Bett deiner Exfrau?”
Er wurde blass, erwiderte aber nichts auf ihren verbalen Angriff. “Ich hoffe, dass ich einen Beweis finde, damit ich ihn wieder einsperren kann, bevor es so weit kommt. Und dabei kann ich ein bisschen Kooperation gebrauchen.”
“Ich handhabe die Situation, so gut ich kann.”
David blickte sie einen Moment verärgert an. Dann seufzte er. Anscheinend wurde ihm gerade klar, dass er sich nur wegen seiner eigenen Frustration so aufregte. “Ich habe heute Morgen mit Jane gesprochen”, sagte er schließlich etwas ruhiger.
Skye horchte gespannt auf. Die Neugier siegte über ihren Drang, ihm auszuweichen. “Jane Burke?”
“Ja.”
“Wie kommt sie ohne ihren Mann klar?”
“Ich denke, sie schlägt sich durch. Hat einen Job in einem kleinen Friseursalon in der Nähe von Greenback und Van Maren Lane.”
“Ist sie immer noch mit Burke zusammen?”
“Sieht ganz danach aus. Aber sie scheint langsam über ihn nachzudenken. Je nachdem, wie sie miteinander auskommen, wenn er wieder zu Hause ist, könnte sie womöglich eine Verbündete in diesem Fall werden.”
“Wolltest du mir das erzählen?”
Er schob die Hände in seine Taschen. “Ich habe gehofft, dass du die Aussicht auf seine baldige Entlassung dadurch ein bisschen gelassener sehen kannst. Die Tatsache, dass einige der Personen, die so loyal waren, inzwischen etwas nachdenklicher geworden sind.”
“Woher wusstest du, dass ich hier bin?”, fragte sie.
“Sheridan hat es mir gesagt.” Er legte ihr die Hand auf den Arm. “Da ist noch etwas, Skye.”
Skye zog geschäftig ihren Pferdeschwanz fest. Es ärgerte sie, dass sie in Gegenwart von David sofort wieder dieses Verlangen verspürte. “Was denn?”
“Ich habe es von der Telefongesellschaft erfahren. Der Anruf an dem Abend kam von einer Telefonzelle in Oak Park.”
Oak Park war eine ziemlich raue Ecke von Sacramento; das Viertel war ungefähr das Härteste, was die kalifornische Hauptstadt zu bieten hatte. Aber es war nicht San Quentin. “Also kann es nicht Burke gewesen sein.”
“Nein, aber das wussten wir ja schon vorher.”
“Danke, dass du das überprüft hast.” Sie drehte sich um und wollte gehen, aber er kam ihr hinterher.
“Skye.”
Sie blieb stehen und wandte sich um. “Was?”
Er schwieg. Sie sah ihm an, dass er sich immer noch nach ihr sehnte. Und weiterhin gegen diese Anziehungskraft kämpfte.
“Es ist wahrscheinlich am besten, wenn du mich anrufst, um mit mir zu reden”, sagte sie.
“Du willst mich nicht sehen?” Das klang so, als wüsste er genau, dass sie log.
“Nicht direkt.”
Wieder wollte sie weitergehen, aber er hielt sie am Arm zurück. Diesmal sagte er nichts, als sie sich umdrehte. Er zog sie an sich und strich ihr eine Haarsträhne, die sich gelöst hatte, aus dem Gesicht. Seine Augen wirkten dunkler als sonst, und der Widerstreit der Gefühle spiegelte sich darin. Sein Blick war fast zornig.
Gerade wollte sie ihn bitten, sie loszulassen, da presste er den Mund auf ihre Lippen.
Skye hatte sich so lange danach gesehnt. Sie schloss die Augen und schmiegte sich an ihn, ohne zu zögern. Seine Zunge spielte mit ihrer, berührte, kostete sie und offenbarte so viel – sein Kuss sagte all das, was er mit Worten nie ausgedrückt hätte.
Erst als ein anderer Wagen auf den Parkplatz gefahren kam, lösten sie sich endlich voneinander.
“Mein Gott, du machst mich verrückt”, flüsterte er.
Völlig außer Atem blickte sie ihm in die Augen. “Ist das wirklich so schlimm?”
Er strich ihr wieder die vorwitzige lose Strähne aus dem Gesicht. “Ja!”
“Warum?”
“Weil ich mich plötzlich nicht wiedererkenne, das macht mir Angst.”
“Vielleicht weil du normale Bedürfnisse verspürst? Ist es so schlimm, wenn man Verlangen nach jemandem hat?”
“Wenn das bedeutet, dass man den einfacheren Weg gehen möchte, den egoistischen, dann ja.”
Skye rieb sich die Schläfen. Sie wusste, sie sollte jetzt zu ihrem Auto gehen, aber dieser Kuss hatte plötzlich wieder ihre Hoffnungen geweckt. “Ich brauche einen Begleiter für Samstagabend.”
“Bittest du mich um ein Date?” Der angespannte Ausdruck in seinem Gesicht machte einem schiefen Grinsen Platz. “Der Kuss muss noch besser gewesen sein, als ich dachte.”
“Ich habe keine weichen Knie, falls du das glaubst”, log sie. “Aber das ist ja auch keine Einladung in mein Bett. Es geht um was Geschäftliches.”
Sein Grinsen verschwand. “Was Geschäftliches?”
“Eine Benefizgala für The Last Stand.”
Er schüttelte den Kopf. “Lass mich da raus! Meiner Meinung nach steckst du da sowieso viel zu tief drin. Gestern Abend hat dir jemand am Telefon gedroht, dir die Kehle aufzuschlitzen! Glaubst du vielleicht, ich will, dass du dir da draußen noch mehr Feinde machst?”
“Ich helfe denen, die es nötig haben. Wenn ich mir dadurch Feinde mache, dann ist das eben so.”
“Dann ist das eben so? Hör dir doch bloß mal zu! Du machst es mir ja ganz unmöglich, dich zu beschützen!”
“Ich bin vorbereitet, sollte mich jemand verfolgen.”
David ging einen Schritt auf sie zu, berührte sie aber nicht. “Gott bewahre, dass du jemals jemanden erschießt, den du gar nicht töten wolltest.”
“Vielleicht gefällt dir das nicht, was ich tue, aber was habe ich denn für eine Wahl? Soll ich mich zurücklehnen und warten? Dich jedes Mal anrufen, wenn ich mich fürchte? Den Kampf andern überlassen? Wir müssen zurückschlagen!”
“Das gehört zu meinem täglichen Job. Dafür ist die Polizei da!”
Sie wollte nicht sagen, dass die Polizei auch nichts erreichte, wo er sich so sehr bemühte. Aber es stimmte: Die Polizei hatte versagt. Man musste nur an Sean Regan denken. Vor dem Kurs hatte sie den Detective angerufen, der mit diesem Fall betraut war, ein Typ namens Fitzer. Sie hatte ihm von dem Gespräch mit Regan berichtet und dass sie Tasha Regan verdächtigte. Aber das schien ihn nicht zu interessieren. Er hatte sie abgewimmelt und gemeint, er würde sich darum kümmern. Auf sie machte er allerdings den Eindruck, als wäre er entweder überarbeitet oder so inkompetent, dass er in der ganzen vergangenen Woche nichts von dem geschafft hatte, was er eigentlich am ersten Tag hätte erledigen sollen.
Es war gut, dass sie Jonathan engagiert hatte. Er hatte bereits berichtet, dass Seans Frau sich mit jemandem traf, so wie Sean vermutet hatte. Und sie schien in letzter Zeit in besonderer Shoppinglaune, fast als wollte sie etwas feiern. So verhielt sich sicher keine traumatisierte Ehefrau.
Skye bedeckte kurz das Gesicht mit der Hand und versuchte, sich zu fangen. Sie wünschte sich fast, weniger emotional auf alles zu reagieren – vor allem auf David. “Es geht nur um ein Dinner und ein bisschen Tanzen. Du brauchst nur nett zu lächeln und vielleicht ein paar Hände zu schütteln.”
“Skye …”
Sie unterbrach ihn, bevor er eine Diskussion deshalb begann. “Ein wenig Polizeipräsenz wäre wirklich hilfreich, und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass das Department schlecht dabei wegkommt. Wir sind doch beide auf der Seite der Opfer, oder? Wir sollten einen freundschaftlichen Umgang pflegen, auch wenn wir keine Freunde sind.”
“Ich will nur, dass dir nichts passiert!”
“Dann sorg doch am Samstag für meine Sicherheit.”
Er seufzte tief und ließ seinen Blick über den Schießplatz schweifen, von dem das Knallen der Pistolenschüsse herüberhallte. “Ich habe Jeremy an diesem Wochenende.”
Das war die einzige Entschuldigung, die sie nicht infrage stellen konnte. Und das frustrierte sie zutiefst. “Na gut.” Sie wandte sich schnell um und ging zu ihrem Wagen hinüber. Doch als sie dort angelangt war, rief er ihr etwas hinterher.
“Ich werde einen Babysitter besorgen. Wann soll ich dich abholen?”
Sie zog ihren Schlüssel heraus und schloss ihren Wagen auf.
“Bekomme ich keine Antwort?”
Sie sollte dieses Tauziehen mit ihm beenden. Ihm erklären, dass er es vergessen und sich nie wieder bei ihr melden solle. Aber sie konnte es einfach nicht. “Um sechs.”
“Ich werde da sein.”
“Noch was”, sagte sie.
“Was denn?”
“Es ist formell.”
“Formell?” Das klang vorwurfsvoll, doch Skye gab ihm keine Gelegenheit, einen Rückzieher zu machen. Sie stieg ein und fuhr los.
Die Adresse von Jane Burke hatte sie aus dem Telefonbuch. Sie gehörte zu einem Mietshaus in einer Seitenstraße des Sunrise Boulevards. An diesem Abend war es still dort, und schon seit zehn Uhr brannte kein Licht mehr. Das wusste Skye, weil sie bereits seit zwei Stunden auf der gegenüberliegenden Straßenseite in ihrem 1998er Volvo saß. So spät am Abend war nicht viel zu sehen. Aber sie fand es trotzdem gruselig hier: zu wissen, dass Burkes Frau und Tochter sich fast in Reichweite befanden und Burke schon in drei Tagen bei ihnen sein würde.
Skye schob ihre Sitzlehne nach hinten und atmete tief durch. Mit zusammengekniffenen Augen musterte sie das Gebäude mit der abblätternden Farbe. Eine Kinderschaukel baumelte von einem Ast im Vorgarten. Skye sollte sofort verschwinden, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Sie wünschte sich, einfach weiterzuleben, als wäre die Sache mit Burke niemals geschehen. David würde toben, wenn er wüsste, was sie gerade tat. Aber sie konnte einfach nicht anders. Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, sah sie Burke vor sich. Seinen wütenden Blick während der Urteilsverkündung. Er war entschlossen, sie sich vorzuknöpfen. Vielleicht nicht sofort, aber irgendwann. Und wie vielen anderen würde er in der Zwischenzeit wehtun?
Sie wusste, was für ein Typ er war. Das konnte sie nicht vergessen. Deshalb musste sie ihm immer einen Schritt voraus sein. Wissen, was er vorhatte, vor ihm handeln. Mit etwas Glück würde sie genug Beweise finden, um ihn ein Leben lang ins Gefängnis zu bringen. Wenn nicht …
Vor ihren Augen blitzte die Klinge von Burkes Messer wieder auf; beinahe hätte sie die Arme hochgerissen, um es abzuwehren. Wenn ich rauskomme, schlitze ich dir die Kehle auf … Er selbst konnte sie nicht angerufen haben. Aber vielleicht war jemand anders von ihm beauftragt worden.
So allein in dieser dunklen Straße, mit ihren beängstigenden Gedanken, schreckte Skye zusammen, als zwei Autoscheinwerfer an der Straßenecke auftauchten. Sie duckte sich, damit der Fahrer sie nicht sah, und lauschte auf das Motorengeräusch. Doch der Wagen fuhr nicht schnell an ihr vorbei, sondern wurde beim Näherkommen langsamer. Erst, als er sie passiert hatte, raste er weiter.
Warum hatte er abgebremst? Skye hob kurz den Kopf und sah die Rücklichter eines mittelgroßen Lexus’. In einer mittleren oder gehobenen Wohngegend würde er keinesfalls Aufmerksamkeit erregen, aber hierher passte er überhaupt nicht. In diesem Bezirk standen nur jede Menge verbeulter Lastwagen, sparsame Familienautos und ein paar vereinzelte großkotzige Sportflitzer.
Trotzdem machte sie sich keine weiteren Gedanken darüber, bis derselbe Wagen fünf Minuten später erneut auftauchte.
Wieder duckte sie sich und lauschte. Diesmal fuhr der Lexus Schritt, als er sich auf ihrer Höhe befand. Sie hatte das beunruhigende Gefühl, als würde der Fahrer versuchen, durch ihre Fenster zu blicken.
Offensichtlich war sie jemandem aufgefallen. Jane? Als Skye angekommen war, hatte eine Lampe auf der Veranda geleuchtet, die dann aber ausgegangen war. Vielleicht hatte Jane ja einen Babysitter für Kate im Haus.
Wer auch immer es war: Skye befürchtete, dass er noch einmal zurückkommen könnte. Und dann würde er womöglich aussteigen und zu ihrem Wagen kommen. Sie wartete, bis die Rücklichter des Lexus’ um die Ecke verschwunden waren. Dann schnappte sie sich ihre Taschenlampe und den Revolver, schob sich beides in die Tasche ihres schweren Mantels und kroch auf der Beifahrerseite aus dem Wagen. Das Zweifamilienhaus, vor dem sie parkte, sah genauso heruntergekommen aus wie Jane Burkes Haus.
In einem großen Bogen, um nicht von den Straßenlaternen angeleuchtet zu werden, schlich Skye zu Janes Seitengarten hinüber. Sie schnalzte leise mit der Zunge, um zu prüfen, ob Jane einen Hund hatte.
Kein Gebell, Knurren, Winseln oder Kratzen war zu hören. Nichts.
Skye öffnete das Gartentor und schlüpfte hinein.
Sie brauchte nicht lange, um herauszufinden, dass Jane zu Hause war. Im hinteren Teil brannte Licht. Das konnte man von vorn nicht sehen, weil die Garage bis auf den schmalen Fußweg zum Vordereingang alles verdeckte. Skye sah Burkes Frau durch das Wohnzimmerfenster. Sie tauchte ab und zu an der Tür auf, während sie telefonierend in der Küche auf und ab lief.
Glücklicherweise waren die Jalousien in der Küche heruntergelassen, sodass Skye sich dicht ans Fenster schleichen und lauschen konnte.
“Ich sage dir, der Wagen steht schon den ganzen Abend da draußen … Ich habe jemanden drinnen gesehen …” Skye verstand den Rest des Satzes nicht mehr. “Meinst du, es könnte jemand von der Polizei sein? Dieser Detective war heute Morgen im Salon … Kannst du das nicht für mich überprüfen? Bitte?”
Skye ging leise zum Gartentor zurück und lugte durch einen Spalt des Zauns, um nach dem Lexus Ausschau zu halten. Der kam nun zum dritten Mal um die Ecke gebogen. Den Fahrer konnte sie nicht erkennen, dazu war es zu dunkel. Die Bremslichter flackerten auf, als er neben dem Volvo anhielt.
Eine Autotür wurde geöffnet, dann geschlossen. Der Fahrer musste einen Blick in ihren Wagen geworfen haben. Als der Lexus kurz darauf weiterfuhr, klingelte das Telefon im Haus. Durch das Fenster konnte Skye sehen, wie Jane den Hörer abnahm. Vorsichtig ging sie wieder nach hinten zum Küchenfenster – sie wollte nicht in irgendetwas hineinrennen. Deshalb entging ihr der erste Teil des Gesprächs.
“… einfach nur, weil … du weißt ja, wie schrecklich das war”, sagte Jane gerade. “Ich weiß, du hattest nicht vor auszusteigen, aber kannst du nicht kurz reinkommen? … Sag ihr doch einfach, dass ich Angst hatte und du im Haus noch mal alles überprüfen wolltest, die Fenster und Türen. Das würde uns ein paar Minuten Zeit geben …” Jane musste sich abgewandt haben, denn jetzt konnte Skye nur noch einzelne Worte wie “… warte … schnell … liebe dich” aufschnappen, bevor Jane auflegte.
Mit wem hatte Jane telefoniert? David meinte, Jane sei noch immer mit Burke zusammen. Aber das hier war merkwürdig.
Als sie sich wieder zum Gartenzaun schlich, sah sie den Lexus am Straßenrand einparken. Ein etwa eins fünfundachtzig großer Mann in Jeans und einer dicken Jacke stieg aus dem Wagen.
Das Licht im Wohnzimmer wurde angeschaltet, bevor Jane zur Tür ging, um zu öffnen. Skye war gezwungen, sich vom Fenster zu entfernen. Sie suchte sich einen Platz, an dem man sie von drinnen nicht sah. Deshalb konnte sie erst einen Blick auf Janes Besucher werfen, nachdem Jane ihn hereingelassen hatte. Skye erkannte ihn sofort. Es war Burkes Bruder. Zusammen mit dem Rest der Familie war er fast zu jeder Gerichtsverhandlung gekommen.
Jane hatte den Volvo auf der anderen Straßenseite entdeckt und ihren Schwager angerufen.
Skye bekam ein schlechtes Gewissen, weil sie ihr Angst eingejagt hatte. Sie wandte den Blick ab und presste sich mit dem Rücken gegen die Wand des Hauses. Jane war im Grunde genauso ein Opfer wie Skye; sie verstand nur die Zusammenhänge nicht. Das zeigten Skye die Hassbriefe, die sie von Jane bekommen hatte.
Der letzte Blick nach drinnen, um sich zu vergewissern, dass sie ungesehen zu ihrem Auto kam, ließ Skye erstarren. Jane und Burkes Bruder küssten sich. Aber nicht, wie man es von Schwägerin und Schwager erwarten würde. Es war ein Zungenkuss, und er hatte seine Hand in ihren Bademantel geschoben.
Sag ihr doch einfach, dass ich Angst hatte und du im Haus noch mal alles überprüfen wolltest … Das würde uns ein paar Minuten Zeit geben … Wem? Seiner Frau? Hatte Jane eine Affäre mit ihrem Schwager?
Wenn das der Fall war, wollte Skye es nicht wissen. In drei Tagen kam Burke aus dem Gefängnis. Was würde er tun, wenn er davon erfuhr? Würde er seine Frau umbringen – und seinen Bruder auch? Was sollte aus der kleinen Kate werden, wenn sie ihre Mutter verlor?
Offensichtlich hatte Jane überhaupt keine Ahnung, wie gefährlich ihr Ehemann war. Er hatte sie auch nie mit dem Messer bedroht. Doch das konnte sich ändern. Vor allem unter diesen Umständen.
Skye schloss die Augen und ließ sich zu Boden sinken. Sie stand erst wieder auf, nachdem Burkes Bruder gegangen war und das Haus vollkommen im Dunklen lag. Es war sicherer, zu warten. Aber auch jetzt wusste sie immer noch nicht so recht, was sie unternehmen sollte. Sie hätte Jane gern gewarnt. Skye wusste, wozu Oliver Burke fähig war. Aber bestand überhaupt eine Chance, dass Jane ihr zuhörte?
Skye konnte nur hoffen, dass ihr Mann das nie herausfinden würde …
Plötzlich entschlossen, so schnell wie möglich diesen Ort zu verlassen, öffnete Skye das Gartentor. Daneben stand Janes stinkender Müllcontainer; er war offensichtlich lange nicht geleert worden. Vielleicht hatte sie ja Briefe von Burke dort reingeworfen. Irgendetwas, das ihr Aufschluss über Burkes Zukunftspläne geben könnte.
Sie ging zum Wagen, fuhr zum nächstgelegenen Supermarkt, kaufte Plastiktüten und Gummihandschuhe. Dann kehrte sie zurück und sammelte ein, was Jane Burke weggeworfen hatte.