22. KAPITEL

Oliver wollte Jane hinterherjagen. Er riss die Schlüssel aus seiner Tasche und sprang in den Truck. Er wusste nicht, was zum Teufel mit ihr los war. Aber er würde nicht zulassen, dass sie ihn verließ! Hatte sie die Pillen gefunden, die er in dem Tattoo-Studio gekauft hatte? Das musste es sein. Er konnte sich sonst nicht vorstellen, was sie so in Panik versetzte. Als er sie heute Nachmittag im Friseursalon angerufen hatte, war noch alles in Ordnung gewesen.

Er würde sie finden und nach Hause bringen. Und dann könnte er ihr ihre Ängste wieder ausreden. Sie würde ihm glauben, weil sie ihm glauben wollte. Bisher hatte sie ihm doch immer vertraut, oder nicht? Aber wenn sie auf dem Weg zu Kate war, musste er auch noch seine Eltern überzeugen …

Er legte sich bereits eine Ausrede zurecht, die er ihnen auftischen würde – Diese Pillen nehme ich, wenn ich nicht schlafen kann … Jane kennt das, sie hatte in der Vergangenheit auch öfter Schlafprobleme … Es ist nicht so einfach, sich an das Leben draußen zu gewöhnen –, als ihm ein anderer Gedanke kam.

Er trat auf die Bremse. Was war, wenn Jane nicht zu seinen Eltern fuhr? Wenn sie zur Polizei ging?

Die Schaltung knarzte, als er sie in den Rückwärtsgang riss. Wieder vor dem Haus angekommen, parkte er an der Auffahrt. Der Truck stand schief am Straßenrand, aber er kümmerte sich nicht weiter darum.

Der Krach vorhin hatte die Nachbarin auf die Straße gelockt. Sie zeigte schimpfend auf die Beule, die Jane durch den Zusammenstoß mit ihrem Wagen verursacht hatte, und machte ein großes Theater.

Oliver konnte sich im Augenblick nicht damit befassen. Wenn Jane zur Polizei fuhr, blieb ihm nicht viel Zeit. Er musste alles beseitigen, was ihn verraten könnte. Wenn sie die Pillen bei sich hatte, gab es allerdings nicht mehr viel wegzuräumen. Das Messer mit der zwanzig Zentimeter langen Klinge und Skyes Adresse steckten in seiner Tasche. Und er hatte seine Pfade auf dem PC gelöscht; man konnte jetzt nicht mehr nachvollziehen, welche Internetseiten er aufgerufen hatte. Er musste nur noch sein Notizbuch holen.

“Hey! Was wollen Sie denn nun wegen dem Schaden unternehmen?” Die Nachbarin war ihm quer über den Rasen hinterhergelaufen, um ihn noch vor der Haustür abzufangen.

“Unsere Versicherung wird das bezahlen, Ma’am, kein Problem”, erwiderte Oliver höflich.

“Sie sind versichert?”

“Natürlich. Was dachten Sie denn?”

Wie üblich zeigten sein Lächeln und die höfliche Art ihre Wirkung, und sie beruhigte sich etwas. “Die Dame, die hier wohnt, scheint ja in Ordnung zu sein”, räumte sie etwas mürrisch ein. “Ist ja immer sehr für sich. Habe gar nicht gewusst, dass sie verheiratet ist. Sind Sie denn der Ehemann?”

“Ja. Wir sind seit elf Jahren verheiratet. Sie haben mich nicht gesehen, weil ich wegen versuchter Vergewaltigung im Gefängnis gewesen bin.”

Das sorgte dafür, dass sie ihn mit weit aufgerissenen Augen und halb geöffnetem Mund anstarrte.

“Ich war so leichtsinnig, ein Messer zu benutzen, was die Strafe verschärft hat”, erklärte er grinsend. “Tätlicher Angriff mit einer tödlichen Waffe und so was alles.”

Die Frau blinzelte und wich zurück. “Ach so … Na gut. Ich denke, wir können uns später darüber unterhalten”, sagte sie und machte, dass sie wegkam.

“Ist in Ordnung! Jane wird bei Ihnen vorbeikommen, wenn sie wieder da ist!”, rief er ihr hinterher. “Schlampe”, murmelte er und stampfte ins Haus.

Als sein Blick auf Janes Koffer in der Diele fiel, ballte er die Hände zu Fäusten. Was auch immer sie vorhatte: Er würde es nicht zulassen. Sie war nicht intelligent genug, um ihn auszutricksen. Er lebte seit elf Jahren mit ihr zusammen, und sie hatte nie irgendeinen Verdacht geschöpft.

Er stieß den Koffer beiseite und ging zum Garderobenschrank. Dort montierte er die Bodendiele ab, unter der er die Pillen versteckt hatte.

Da waren sie. Genau dort, wo sie vorher auch gewesen waren.

Was hatte das zu bedeuten? Worüber regte sich Jane so auf?

Er hatte keine Ahnung, aber er wollte kein Risiko eingehen. Er steckte die Pillen in die Tasche und rannte ins Schlafzimmer, um sein Notizbuch zu holen. Jane hatte das Bett auseinandergenommen und offensichtlich etwas gesucht. Das Bad befand sich in keinem besseren Zustand als das Schlafzimmer. Das war nicht fair! Er hatte sich gestern bei ihr wirklich zusammengerissen. Sie konnte also nicht behaupten, dass er sie misshandelt hätte. Und heute Morgen ging es ihr gut. Zumindest hatte sie sich so verhalten, als wäre alles in Ordnung.

Dieses Durcheinander machte ihn nervös. Wonach hatte sie gesucht? Und was hatte sie gefunden?

Es blieb ihm nicht viel Zeit, darüber nachzugrübeln. Er ging ins Schlafzimmer zurück und langte hinter das Kopfteil, wo er sein Tagebuch aufbewahrte.

Es war nicht mehr dort.

Oliver gefror das Blut in den Adern. Sie hatte sich vorher nie besonders für sein Notizbuch interessiert. Er schrieb genug normales Zeug hinein – über Jobs, Investitionsmöglichkeiten, Pläne für ein neues Haus, Auto oder einen Pool –, sodass sie keinen Grund hatte, misstrauisch zu werden.

Es sei denn, sie hatte seinen Code geknackt …

Doch falls sie es den Cops noch nicht gegeben hatte, musste er Kate holen, bevor sie es tat. Kate war vielleicht das einzige wirksame Druckmittel, um sein Tagebuch zurückzubekommen. Oliver glaubte nicht, dass seine Aufzeichnungen allein für eine Verurteilung ausreichen könnten; er hatte schließlich keine Details genannt. Aber das Risiko wollte er nicht eingehen. Selbst wenn Jane den Code nicht geknackt hatte – was er annahm –, die Polizei hatte Leute und Computer, die es konnten.

Noah war dort, als Jane bei den Burkes ankam. Ein plötzliches Sehnsuchtsgefühl stieg in ihr auf, als sie seinen Truck in der Einfahrt stehen sah. Doch sie versuchte sich gegen den Schmerz zu stählen. Er wollte sie nicht. Selbst wenn er es gewollt hätte, wäre es nicht möglich gewesen.

Sie musste an Kate denken. Kate war das Wichtigste.

Mit einem letzten prüfenden Blick auf die Straße hinter sich stieg sie aus. Auf dem Sunrise Boulevard hatte sie kein Anzeichen von Oliver bemerkt, und nachdem sie auf den Zinfandel Drive eingebogen war, konnte sie die Straße besser überblicken. Dort war nicht so viel Verkehr. Soweit sie hatte sehen können, war er ihr nicht gefolgt.

Gott sei Dank.

Sie rannte zum Hauseingang und klingelte. Normalerweise hätte sie nur geklopft und wäre hineingegangen. Doch nach dem letzten Zusammentreffen mit Noah fühlte sie sich hier plötzlich fremd. Sie wusste, dass Betty und Maurice ihr Olivers Grobheit genauso wenig abnehmen würden wie Noah, solange sie ihnen keine körperlichen Schäden vorweisen konnte. Und dieser Vertrauensverlust hatte sie nun in ein anderes Lager gebracht – in das feindliche Lager.

Betty kam an die Tür. “Ist das wahr?”, sagte sie ohne Einleitung.

Jane wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Die Augen ihrer Schwiegermutter waren rot geweint, und ihre Stimme klang zittrig vor unterdrücktem Schluchzen.

“Ist … was wahr?”, stammelte sie. Noah hatte sie davor gewarnt, seinen Eltern zu erzählen, was sie ihm eröffnet hatte. Er war doch sicher nicht hierhergefahren, um es ihnen selbst zu sagen. Oder doch?

“Spiel nicht die Ahnungslose! Das hat keinen Zweck mehr.” Bettys Stimme bebte. “Hast du mit Noah geschlafen?”

Jane blieb fast das Herz stehen. “Nein!”, rief sie. Es war der Schock darüber, was Noah getan hatte. Sie hatte die Tatsache nicht abstreiten wollen, aber Betty verstand es so.

“Da haben die beiden aber was anderes gesagt.” Sie trat beiseite und zeigte hinter sich ins Wohnzimmer.

Jane folgte ihrem Blick. Wendy war auch da; sie saß Händchen haltend mit Noah auf der Couch. Maurice hatte auf seinem Lehnstuhl Platz genommen. Zuerst konnte sie nur seine Beine sehen. Jetzt beugte er sich vor, um sie anzublicken.

“Warum sollte Noah so was sagen, wenn es nicht stimmt?”, wollte er wissen. Das freundliche Lächeln, das er ihr sonst immer schenkte, war verschwunden.

Jane konnte kaum noch etwas verstehen, so rauschte ihr das Blut in den Ohren. “Ich … es war nicht meine Absicht”, sagte sie leise.

“Wie soll ich das verstehen? Es war nicht deine Absicht, mit dem Mann einer anderen Frau eine Affäre anzufangen?”, mischte sich Wendy ein. Ihre sonst so versöhnliche, freundschaftliche Haltung war verschwunden. Sie blickte Jane so enttäuscht an, dass die es kaum noch ertragen konnte. Sie liebte diese Familie. Es war die einzige, die sie besaß. Sonst gab es niemand anderen.

Doch was immer sie für die anderen gewesen war, das schien nun vorbei. Aber sie machte sich Sorgen wegen Oliver. Sie musste Kate holen und gehen. “Wo ist meine Tochter?”, fragte sie.

“Sie ist hinten und malt. Glaubst du, ich will, dass sie das alles mitbekommt?”, sagte Betty.

Jane fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. “Kannst du sie bitte holen?”

“Das soll wohl ein Scherz sein!” Betty schüttelte den Kopf. “Du hast sie gar nicht verdient! Oliver ist durch die Hölle gegangen – hast du das verstanden? Durch die Hölle! Und dass du ihm nun nach allem, was er durchgemacht hat, auch noch so etwas antust …”

Obwohl sie sich so mies fühlte, spürte Jane nun, wie der Ärger in ihr aufstieg und ihren Selbsterhaltungstrieb anspornte. “Ihr habt nicht zu entscheiden, ob ich meine Tochter verdiene oder nicht.”

“Doch, das haben wir. Oliver hat gerade angerufen und gesagt, dass du ihn verlässt. Und er hat uns gebeten, Kate nicht mit dir gehen zu lassen. Offensichtlich nimmst du irgendwas, so merkwürdig, wie du dich verhältst. Noah stimmt ihm da zu.”

Zuerst hatte sich Noah gegen sie gewandt, um Wendy alles zu beichten. Dann hatte er seine Eltern damit gegen sie aufgebracht. Und nun schlug er sich auf Olivers Seite. Das war wirklich der Tiefpunkt. “Merkwürdig?”, wiederholte sie und starrte ihn entgeistert an.

“Du brauchst professionelle Hilfe.” Noah konnte ihr nicht direkt in die Augen blicken, aber das war nur ein geringer Trost angesichts dessen, was er ihr angetan hatte. Jetzt war ihre Glaubwürdigkeit vollends untergraben. Die Burkes wollten nicht einmal zulassen, dass sie Kate mitnahm.

“Kate ist auch meine Tochter! Ihr habt kein Recht, sie von mir zu trennen”, sagte Jane.

“Du bist im Moment zu labil”, sagte Noah.

Er schien tatsächlich davon überzeugt zu sein. Er kannte sie besser als alle anderen hier, und trotzdem glaubte er wirklich, was er gerade gesagt hatte.

“Wir warten, bis ihr Vater sie abholt”, fügte Maurice dazu.

Jane ging zu ihrem Schwiegervater hinüber. Sie musste sich zusammenreißen, um ein hysterisches Lachen zu unterdrücken. Doch so ganz gelang es ihr nicht. “Ihr meint also, Kates Vater wäre stabil? Ihr Vater ist ein Mörder!”

“Das … das kannst du doch nicht so einfach behaupten”, stammelte Betty.

Jane wandte sich wohl zum ersten Mal gegen ihre Schwiegermutter. “Es stimmt aber!”

Betty wurde aschfahl. Sie machte fast den Eindruck, als fühlte sie ihre schlimmsten Befürchtungen wahr werden. Doch Jane wusste auch, dass Olivers Mutter sich niemals gegen den Rest der Familie wenden würde. Jane sah an ihr vorbei zu Noah hinüber. “Ich bin mir ziemlich sicher, dass er diese Woche ein neues Messer gekauft hat, und ich glaube, er hätte es gestern Abend am liebsten an mir ausprobiert. Wenn du nicht schnell etwas unternimmst, wird er jemandem was antun. Willst du das auf deinem Gewissen haben? Wenn du Schuldgefühle hast, weil du Sex mit mir hattest, dann möchte ich nicht wissen, wie du dich dann fühlen würdest.”

Maurice stand auf. Sein normalerweise schon rötliches Gesicht war jetzt noch dunkler als sonst. “Du redest von Kates Vater!”

“Meinst du, das wäre mir nicht klar?”, rief Jane. “Das tut mir dabei am meisten weh, mehr, als ihr euch vorstellen könnt. Aber du verteidigst ihn nicht, weil er Kates Vater ist, sondern deinetwegen! Er ist dein Sohn! Und wenn er ein Mörder ist, müsstest du dich fragen: Was ist schiefgelaufen? Was habe ich womöglich falsch gemacht?”

Noah ließ Wendys Hand los und stand nun ebenfalls auf. “Hör auf damit, Jane! Sie haben schon genug durchgemacht, auch ohne dass du die Sache noch verschlimmerst!”

“Und ich habe nicht genug durchgemacht?”, konterte sie. “Wenn ihr mir meine Tochter nicht überlassen wollt, komme ich mit der Polizei zurück.”

“Das wirst du dann wohl tun müssen”, sagte Maurice. “Ich lasse dich jedenfalls nicht mit dem Mädchen losfahren. Nicht in dem Zustand, in dem du dich gerade befindest. Sie ist auch Olivers Tochter! Und egal, was du im Moment von ihm hältst, er hat etwas Rücksichtnahme verdient. Immerhin hat er für seine Schuld gebüßt.”

Jane überfiel Panik. Sie musste unbedingt ihre Tochter hier herausholen und sie mitnehmen. Sie fürchtete, dass Oliver hier eintreffen und Kate an sich nehmen würde, bevor sie mit der Polizei zurück war. Ohne einen Beweis, dass er gegen die Bewährungsauflagen verstoßen oder irgendeine Straftat begangen hatte, konnten ihr Detective Willis oder irgendjemand anders womöglich nicht helfen. Sie würden es als Familienstreit hinstellen, als eine Sache für den Scheidungsrichter.

Sie nickte steif. “Okay. Ich komme zurück.” Dann stakste sie aus dem Haus.

Um die anderen im Glauben zu lassen, dass sie tatsächlich wegfuhr, lenkte sie den Wagen aus der Auffahrt. Dann parkte sie an der nächsten Ecke und lief zum Haus zurück.

Durch das Seitenfenster konnte sie Noah, Wendy, Betty und Maurice sehen, die aufgeregt miteinander diskutierten – was bedeutete, dass Kate immer noch im hinteren Teil des Hauses war, wo sie die Unterhaltung nicht mitbekam.

Jane konnte nur hoffen …

Ihr Herz klopfte zum Zerspringen, als sie durch das Tor schlüpfte und in den hinteren Garten schlich. Betty und Maurice besaßen einen Bernhardiner, aber Horse kannte sie gut genug, um nicht zu bellen. Er wurde langsam alt und faul. Wahrscheinlich würde er sich nicht mal bei einem Fremden die Mühe machen, Laut zu geben. Er stand auf und schlenderte ihr entgegen, um sie zu begrüßen. Nachdem sie ihn gestreichelt hatte, kehrte er zu seinem gemütlichen Platz in der Hundehütte zurück, um weiterzuschlafen.

“Guter Hund, Horse”, flüsterte sie und machte sich auf den Weg zum Hintereingang des Hauses.

Die Burkes erwarteten einen Polizeiwagen am vorderen Eingang und keinen Kidnapper, der von hinten kam. Deshalb war Jane nicht überrascht, die Tür unverschlossen vorzufinden. Kate kam hier oft heraus, um mit dem Hund zu spielen oder zu schaukeln, also war es tagsüber meist offen.

Jane schlich so leise sie konnte hinein. Kurz darauf erreichte sie das Zimmer, das Olivers Eltern für Kate hergerichtet hatten. Hier spielte sie, sah sich Disneyfilme an oder übernachtete auch mal von Zeit zu Zeit.

Jane befürchtete, dass ihre Tochter sie laut begrüßen würde, wenn sie das Zimmer betrat. Ein freudiges Quietschen könnte sie schon verraten. Doch Kate war so fasziniert vom Aschenputtel, das mit dem Prinzen tanzte, dass sie gar nicht aufblickte, als Jane die Tür öffnete.

“Kate, du musst ganz leise sein, ja?”, flüsterte Jane sofort. “Mommy holt dich jetzt ab, aber Grandma und Grandpa sollen nicht wissen, dass wir losgehen.”

“Mommy!”

“Pssst!”

Kate riss die Augen hinter ihren Brillengläsern auf. “Warum flüsterst du?”

“Ich habe dir doch gerade gesagt, dass uns keiner hören soll.”

“Warum nicht?”

“Das erkläre ich dir im Auto. Versprich mir, dass du keinen Ton von dir gibst. Wenn du ganz, ganz leise bist, kauft Mommy dir nachher eine Waffel Eis.”

Kate wollte gerade erfreut in die Hände klatschen, aber Jane hielt sie schnell fest. Dann umarmte sie die Kleine. Sie musste sich zusammenreißen, dass sie nicht von ihren Gefühlen überwältigt wurde. Sie war so erleichtert, ihre Tochter im Arm zu halten.

“Nimm deine Schuhe”, flüsterte sie. “Du kannst sie dann im Auto anziehen.”

“Aber es ist kalt draußen.”

Jane legte ihr den Finger auf die Lippen. “Das ist nicht so schlimm. Wir werden die Heizung anstellen, wenn wir im Wagen sitzen. Wir müssen uns aber beeilen, Kate. Komm, schnell.”

Kate musste den Ernst der Lage irgendwie gespürt haben, denn sie wurde plötzlich ruhig. “Wird Grandma nicht böse sein?”

“Nein, Grandma wird nicht böse sein. Sie hat gerade viel zu tun, und ich will sie nicht stören. Wir rufen sie nachher an, ja?”

Obwohl Kate die Antwort etwas verwirrte, widersprach sie nicht. Leise holte sie ihre Schuhe und ließ sich von Jane an der Hand aus dem Haus führen. Doch sie hatten kaum die Hintertür erreicht, als Jane das hörte, was sie die ganze Zeit voller Angst erwartet hatte: Olivers Stimme im Wohnzimmer.

“Was hast du gesagt?”, fragte Oliver. Er war so nervös, dass ihm der Schweiß den Rücken hinunterlief. Sein Hemd klebte ihm schon am Körper. Er war außer sich, fühlte sich in die Enge getrieben. Wie konnte Jane, ausgerechnet Jane, ihm das antun?

“Sie war hier und ist wieder weggefahren”, wiederholte seine Mutter.

Seine Panik wuchs. “Du hast doch nicht zugelassen, dass sie Kate …”

“Nein. Kate ist noch hinten und malt.”

“Gut.” Er seufzte erleichtert und ging weiter ins Wohnzimmer, wo Noah, Wendy und sein Vater saßen und ihn besorgt ansahen. Was hatte Jane ihnen erzählt? Was auch immer es war, offensichtlich musste er den Schaden wiedergutmachen. Aber nicht jetzt. Dazu blieb ihm keine Zeit mehr.

Seine Mutter nahm ihn beim Arm, bevor er noch weitergehen konnte. “Jane hat gedroht, mit der Polizei zurückzukommen.”

Noch mehr Grund, sich zu beeilen. “Wir haben einige Eheprobleme”, erklärte er. “Aber macht euch keine Sorgen. Wir werden das schon irgendwie ausbügeln.”

“Das hoffen wir”, sagte sein Vater.

Seine Mutter sah zu Noah hinüber, dann räusperte sie sich. “Wir müssen dir etwas sagen.” Sie betrachtete ihn voller Mitgefühl und zog ihn zur Couch, wo die anderen saßen.

Oliver versuchte, sich aus ihrem Griff zu befreien. “Ich fahre lieber mit Kate los, bevor sie die Cops holt. Wer weiß, was dieser Detective Willis unternimmt? Es besteht kein Anlass, Kate mit diesem Tauziehen zu belasten. Vor allem, weil die Dinge sich wieder einrenken werden, wenn Jane sich erst mal etwas beruhigt hat.”

“Wir haben noch ein paar Minuten Zeit”, sagte seine Mutter. “Jane ist ja gerade erst gegangen. Das hier … ist auch wichtig. Es könnte Janes Verhalten zum Teil erklären. Dann verstehst du auch sicher, was hier wirklich los ist. Ich finde, wir sollten das alles jetzt offen besprechen und dann hinter uns lassen.”

Das bestürzte Schweigen, von dem Oliver bereits empfangen worden war, beunruhigte ihn schließlich. Er war immer mehr davon überzeugt, dass er sich um den Schaden kümmern musste, den Jane angerichtet hatte. Und zwar sofort. “Hört zu, ich weiß nicht, was Jane euch erzählt hat, aber ich kann euch versichern, dass sie Unsinn redet. Ich habe sie immer zuvorkommend behandelt, wie eine Königin. Wir haben gerade einen Streit, das ist alles.”

“Setz dich, Oliver”, sagte Maurice.

Oliver wurde durch das düstere Auftreten seines Vaters noch nervöser. Er tat, was sie von ihm erwarteten, aber nur, weil er sich seinen Eltern gegenüber immer höflich verhielt. “Was ist denn los?” Er blickte in die Runde, von einem zum anderen. Alle wirkten betreten und blass. Vor allem Noah. Der ließ den Kopf hängen und starrte auf den Teppich hinunter.

Als keiner ein Wort sagte, sah Oliver seine Mutter fragend an. “Mom?”

Sie nickte Noah zu. Noah richtete sich gerade auf und sah seinem Bruder in die Augen. “Ich … weiß nicht, wie ich es dir sagen soll, Oliver.” Tränen traten plötzlich in seine Augen und rollten an seinen Wangen hinunter.

“Was ist denn?”, fragte Oliver betreten. “Ist jemand gestorben?”

“Nein, Gott sei Dank nicht”, murmelte seine Mutter, aber Oliver hatte sie kaum verstanden, weil Noah bereits weitersprach.

“Jane und ich hatten eine Affäre”, sagte er leise. “Als du im Gefängnis warst.”

Zuerst dachte Oliver, er hätte ihn falsch verstanden. Sicher hatte sein Bruder doch nicht gerade das gesagt, was er glaubte, gehört zu haben. Wendy saß direkt neben ihm. Seine Eltern befanden sich hier im Zimmer. “Was?”

“Es tut mir leid”, sagte Noah. “Es tut mir so leid.” Wendy legte ihrem Mann tröstend die Hand aufs Knie, als die Tränen jetzt noch stärker flossen.

Oliver musste schlucken. Das Geständnis seines Bruders schwirrte in seinem Kopf umher. Jane und ich hatten eine Affäre … “Du hast mit meiner Frau geschlafen?”, fragte er. “In diesen vielen kalten Nächten, die ich in San Quentin wach gelegen und mich nach Jane gesehnt habe, hat sie dich gefickt?”

Alle sahen ihn erschrocken an, offensichtlich schockiert von seiner Ausdrucksweise. Normalerweise gab er keine Obszönitäten von sich; das war die Sprache der Unterschicht. Aber letztendlich konnte man es doch darauf reduzieren, oder nicht? Noah und Jane hatten sich wie Tiere benommen.

Und das war sicher der Grund, warum sie ihn jetzt verlassen wollte. Oliver hatte immer Skye die Schuld an allem gegeben. Wenn man es richtig betrachtete, war sie auch letztendlich dafür verantwortlich. Auch für das hier. Denn er wäre ja ohne ihre Aussage nie im Gefängnis gelandet. Allerdings hatte sie Noah nicht gezwungen, seinen Platz in Janes Bett einzunehmen.

Wenn er nicht mal seinem eigenen Bruder vertrauen konnte – wem sollte er dann vertrauen?

“Ich … musste damit ins Reine kommen, Oliver”, sagte Noah. “Musste es Wendy und dir sagen und allen anderen. Diese ständigen Lügen konnte ich einfach nicht mehr ertragen, mir selbst im Spiegel nicht mehr in die Augen sehen. Ich weiß nicht, wie das überhaupt passieren konnte. Aber das ist jetzt vorbei. Ich … werde nie wieder so einen Fehler machen. Und ich hoffe, dass du mir irgendwann … verzeihen kannst.”

Verzeihen? Oliver hätte fast laut aufgelacht. Was war denn das für ein Mann, der die Frau seines Bruders vögelte und dann zu ihm ging und sagte: Oh, Entschuldigung! Und Jane? Wie konnte Jane ihn nur die ganze Zeit betrügen?

Er erinnerte sich an seinen letzten Anruf aus dem Gefängnis, als Noah bei ihr zu Hause gewesen war. Jane hatte behauptet, Noah würde sich um die Verstopfung kümmern. Tatsächlich hatte er sich um Jane gekümmert.

Ihm wurde fast übel bei dieser Vorstellung. Er hatte sich in Jane getäuscht. Sie war auch nicht besser als all die anderen Frauen in seinem Leben. Frauen wie Miranda Dodge, Patty Poindexter oder Skye Kellerman. Sie dachten, sie wären zu gut für ihn. Dass sie was Besseres verdienten. Und dass sie es auch bekamen, wenn sie nur lange genug warteten.

“Deinetwegen will sie mich verlassen”, sagte er.

Noah blickte wieder auf den Teppich hinunter. “Ich … wollte mich nicht mehr mit ihr treffen. Sie … hat es nicht akzeptiert. Aber ich bin sicher, dass sie sich wieder fängt. Sie ist verwirrt, wie wir alle. Vielleicht können wir uns professionelle Hilfe holen. Damit wir das, was wir alles durchgemacht haben, besser verkraften. Ich bin bereit, alles Notwendige dafür zu tun.”

“Es tut ihm leid”, unterstützte ihn Betty. “Es war nicht seine Absicht.”

“Wir müssen alles tun, was wir können, um unsere Familie zusammenzuhalten”, meldete sich jetzt Wendy. “Ich gebe mir die größte Mühe, ihm zu vergeben, um unsere Beziehung zu retten. Ich hoffe, dass du dasselbe bei Jane schaffst. Du brauchst erst mal etwas Zeit, um darüber nachzudenken und es zu verarbeiten.”

“Du lässt ihn wieder in dein Bett, nach allem, was er getan hat?”, fragte Oliver.

Wendy errötete. “Er hat einen Fehler gemacht. Sie beide haben einen Fehler gemacht. Es war eine schwierige Situation. Er ist ständig zu ihr gegangen, um im Haus zu helfen. Jane tat ihm leid, und sie war so allein. Bitte versuch, das zu verstehen.”

“Das will ich nicht verstehen”, sagte Oliver. “Er hat meine Frau gestohlen, während ich im Gefängnis saß.”

Noah erbleichte sichtlich. “Ich fühle mich schrecklich.”

Oliver verspürte fast ein Gefühl des Triumphs, während er Zeuge dieses jämmerlichen Zustands seines Bruders wurde. Immer war Noah der Bessere gewesen – der Liebling des Vaters, der von der Mutter Bewunderte und immer der Beliebteste bei den anderen Leuten. Noah war groß und gut aussehend und viel sportlicher gewesen als Oliver. Bei den Mädchen hatte er viel mehr Glück gehabt. Aber genau das war eben der Punkt: Noah hatte immer alles bekommen. Und nun hatte er ihm auch noch Jane weggenommen, Olivers Hauptgewinn.

Was war das denn für ein Bruder, der so etwas tat?

Ein toter Bruder, beschloss er. “Hol Kate”, sagte er benommen.

Betty rang die Hände. “Oliver, ich … weiß nicht, ob du sie heute Abend mitnehmen solltest. Alles ist noch so frisch und … du bist so wütend. Es wäre nicht gut, wenn sie irgendetwas davon mitbekäme. Erspar ihr doch das Schlimmste, okay?”

“Hol meine Tochter, bevor Jane mit der Polizei kommt.”

“Oliver …”

Er stand auf und wehrte ihren Arm ab, um geradewegs in den Flur zu gehen. “Kate? Kate, dein Dad ist hier. Komm, wir fahren nach Hause!”

Er erhielt keine Antwort. Die anderen liefen ihm hinterher, diskutierten, entschuldigten sich und versuchten ihn zu überreden, dass er Kate für diese Nacht hier ließ. Aber er achtete nicht auf sie. Er ging zum Zimmer seiner Tochter und zog die Tür weit auf. Doch der Raum war leer.