5. KAPITEL

Was hatte er übersehen?

David hatte das Haus seiner Exfrau verlassen, sobald er sicher gewesen war, dass sie in ihrem Bett lag. Jetzt saß er in seinem Arbeitszimmer in seiner Wohnung in Midtown. Die Sonne ging auf und warf ihr Licht auf seinen Schreibtisch, sodass die Lampe, die er angeschaltet hatte, nicht mehr notwendig war. Aber er machte sich nicht die Mühe, sie auszuknipsen. Im Moment war er zu sehr in die Akten vertieft, die er vor sich ausgebreitet hatte. Am Wochenende hatte er sie auch schon durchgesehen, doch jetzt studierte er jeden Bericht und jedes Foto ein weiteres Mal. Es musste irgendetwas geben – irgendeinen Hinweis, der von Burke zu diesen drei jungen Frauen führte, die in ihrer Wohnung ermordet worden waren. Aber was?

Er ging noch einmal alles in Gedanken durch, versuchte zusammenzufassen, was er wusste. Um herauszufinden, ob ihm etwas entgangen war. Alle drei, Meredith Connelly, Amber Farello und Patty Poindexter waren in einem Alter zwischen achtzehn und fünfundzwanzig …

Während er sich die Fotos noch einmal ansah, fiel ihm Burkes Bemerkung wieder ein. Oder woran denken Sie so, wenn Sie den Playboy durchblättern? So wie Skye waren diese Opfer außergewöhnlich attraktiv – und vollbusig. Burke hatte im Gefängnis erwähnt, dass seine Frau auch große Brüste hatte. Das war wohl so eine Art Fetisch von ihm.

Aber er wusste nicht, was er damit anfangen sollte. Die meisten Männer standen nun mal auf Brüste. Er ließ diesen Aspekt erst mal beiseite. Vielleicht würde ihm das später dabei weiterhelfen, ein Schema zu finden, nach dem Burke seine Opfer ausgesucht hatte. Ihm gingen die Bemerkungen zu den Models in den Magazinen durch den Kopf. David fragte sich, ob Burkes Überfälle aus einem Machtbedürfnis heraus entstanden. War er mal von einer Frau abgewiesen worden? Eine besonders attraktive vielleicht, die meinte, sie wäre zu gut für ihn?

Es könnte nicht schaden, das zu überprüfen. David machte sich schnell eine Notiz.

Amber und Patty waren Singles gewesen, die bei ihren Eltern wohnten. Meredith hatte zusammen mit ihrem Freund in einer Mietwohnung gelebt. Ambers Eltern waren während des Überfalls in ihrem Schlafzimmer gewesen, hatten aber nichts gehört. Was dieses ganze Drama für sie noch schrecklicher machte.

Während Patty und Meredith gegen acht Uhr abends umgebracht worden waren, hatte man Amber zwischen zwei und vier Uhr nachts getötet. Burke war ein leidenschaftlicher Fahrradfahrer. Er fuhr täglich zur Arbeit in die City. Manchmal war er erst nach Einbruch der Dunkelheit in seinem Haus in Granit Bay angekommen. In diesem Zeitraum hätte er die Möglichkeit gehabt, die Taten durchzuführen.

Was war dann mit Amber und Skye? Zuerst hatte sich David nicht vorstellen können, wie Burke es geschafft haben sollte, sich mitten in der Nacht wegzuschleichen, ohne seine Frau aufzuwecken. Dieses Rätsel hatte er glücklicherweise gelöst, als er Janes Krankheitsgeschichte studierte. Kurz nach Kates Geburt hatte sie unter postnataler Depression und Schlaflosigkeit gelitten und starke Sedative eingenommen, bevor sie ins Bett ging.

Aber wo hatte Burke nach den Morden seine blutverschmierte Kleidung gelassen – oder wie hatte er sich vor seiner Rückkehr nach Hause gesäubert? Andererseits: Es waren zwei Jahre vergangen, bevor Burke überhaupt verdächtigt und sein Haus durchsucht worden war. Sie hatten keine Spuren von Ambers Blut in den Abflüssen oder auf Burkes Schuhen und seiner Kleidung gefunden. Auch sein Wagen war sauber gewesen.

David rieb sich übers Kinn und beschloss, noch einmal mit Burkes Nachbarn und Freunden zu sprechen. Als die Geschichte öffentlich wurde, hatte Burke den Märtyrer gespielt. Jedem Reporter, der es hören wollte, hatte er erzählt, dass Skye im Drogenrausch über ihn hergefallen sei. Daraufhin waren sämtliche Bekannten zu seiner Verteidigung herbeigeeilt. David hatte Briefe erhalten, in denen stand: “Wie können Sie zulassen, dass die Lügen einer einzelnen Frau eine liebevolle Familie zerstören?” Die Tochter des Bürgermeisters, eine von Burkes Patienten, hatte sogar vor Gericht für seine Unbescholtenheit gebürgt.

David wünschte, Burke hätte seine “Skye-im-Drogenrausch”-Geschichte schon zu einer Zeit erzählt, als sie noch das Gegenteil hätten beweisen können. Aber er hatte schlauerweise den Mund gehalten und nichts nach außen dringen lassen, während er sich mit seinen Anwälten beriet. Wochen zuvor hatte er behauptet, im Einvernehmen mit Skye zu ihr nach Hause gegangen zu sein. Sie wollten miteinander ins Bett, wo sie ihn dann jedoch angriff. Niemand konnte diese Aussage überprüfen. Es gab keinen Beweis dafür, dass Skye jemals Drogen genommen hatte. Doch an diesem Abend war sie vorher mit Freunden zu einer Party gegangen. Dort hatte es wohl auch Ecstasy gegeben; Skye war aus diesem Grund ziemlich früh wieder verschwunden, und zwar allein. Aber da ihre Mitbewohnerin an diesem Wochenende in Tahoe gewesen war, stand Aussage gegen Aussage. Dass man das Blut auf Skyes Bett als Burkes identifiziert hatte, bestätigte lediglich, dass er dort gewesen war. Es sagte nichts darüber aus, ob sie ihn eingeladen hatte oder nicht. Es war auch nicht klar, wie er ins Haus hatte eindringen können. Anders als bei den Mordfällen am Fluss fand man keine durchschnittene Fliegengittertür. Als die Polizei eintraf, war die Vordertür unverschlossen. Skye behauptete jedoch, sie abgeschlossen zu haben, bevor sie ins Bett gegangen war. David nahm an, dass Burke sie dabei beobachtet hatte, wie sie irgendwann ihren Schlüssel versteckte, und sich dann bedient hatte. Aber er musste ihn sofort wieder an seinen Platz gelegt haben. Der Schlüssel lag jedenfalls dort, wo er immer gelegen hatte.

Glücklicherweise war Skye eine starke Zeugin, und es kam zur Verurteilung. Aber das war nicht so einfach, wie es hätte sein sollen.

Skye … Es frustrierte David, dass er nicht mit dem gleichen Abstand an sie denken konnte wie an alle anderen Personen, mit denen er dienstlich zu tun hatte. Erneut holte er sich die Worte seines Sohnes ins Gedächtnis. Du kommst doch wieder nach Hause, oder? Dann versuchte er, sich wieder zu konzentrieren.

Alle drei Frauen hatten in der Nähe des Campus Commons am American River gelebt. Eine von ihnen arbeitete etwa fünf Minuten entfernt im Pavilions, einem exklusiven Einkaufszentrum in einer wohlhabenden Gegend. Die anderen beiden studierten an der Sacramento State.

David starrte auf die Tatortfotos. So viele von Burkes Patienten hatten sich Sorgen um dessen Familie gemacht. Aber was hatte er den Familien der Opfer nur angetan!

Er fluchte bei dem Gedanken daran, dass es genauso ein Foto von Skye geben könnte, wenn sie sich nicht mit der Schere verteidigt hätte. Wenn er sich vorstellte, wie Burke sie berührt, ja selbst nur angesehen hatte, drehte sich ihm der Magen um.

Er nahm einen Schluck von seinem inzwischen kalt gewordenen Kaffee, den er heute Morgen auf dem Weg nach Hause mitgebracht hatte. Dann beugte er sich weiter zu den Fotos hinunter, betrachtete jede Einzelheit. Es musste doch irgendetwas zu finden sein! Etwas, das er vorher nicht gesehen, worauf er nicht geachtet hatte. Doch er hatte bereits alles ausgeschöpft. Nichtsdestotrotz erstellte er eine Liste mit den bisher bekannten Fakten:

1.    Beschreibt sich als normal, ist aber sadistisch. Dafür sprachen die vielen Stichwunden und Blutergüsse bei den Frauen.

2.    Vergewaltigt seine Opfer, aber keine Anzeichen für Nekrophilie.

3.    Trägt Handschuhe. Es wurden an keinem Tatort Fingerabdrücke gefunden, auch nicht an den Fenstern.

4.    Trägt eine Kapuze. Das hatte Skye ausgesagt.

5.    Rasiert sich höchstwahrscheinlich den Genitalbereich. An den Tatorten waren keine Schamhaare gefunden worden.

6.    Keine Schuhabdrücke neben den Haustüren. Hatte er diese Schutzüberzüge getragen, die Ärzte im OP anlegten? Möglich, schrieb David auf. Aber da war dieser eine Abdruck neben Patty Poindexters Haus. Vielleicht trug er sie also nicht immer.

7.    Muss offensichtlich immer ein Kondom benutzt haben, das er dann wieder mitnimmt. Bei den jungen Frauen wurde kein Sperma gefunden, obwohl sie eindeutig gewaltsam penetriert worden waren.

8.    Benutzt ein Messer. Womöglich hatte er Erfahrung mit einem Skalpell?

9.    Der Täter war schätzungsweise eins fünfundsiebzig. Da der Eindringling in mindestens zwei Fällen durch das Schlafzimmerfenster gestiegen war, konnte er nicht sehr groß sein. Ansonsten wäre dieser Einstieg ziemlich umständlich gewesen.

10.  Verfolgt offensichtlich seine Opfer über lange Zeit, da er sich mit deren Gepflogenheiten auskannte. Der Killer hatte gewusst, wann die Frauen allein in ihrem Schlafzimmer waren, obwohl sie mit anderen zusammenwohnten. Gab ihm das einen Kick? Wahrscheinlich – sonst hätte er sich bestimmt leichtere Opfer ausgesucht. Liebt die Jagd, fügte David dazu.

11.  Ziemlich impertinent! Er wagte es einzubrechen, obwohl die Eltern von einer der jungen Frauen zu Hause gewesen waren. Daraus folgte also, dass er gern mit der Gefahr spielte, erwischt zu werden. Das gab ihm vermutlich genauso einen Kick, wie den Frauen zu zeigen, dass sie in ihrem Zuhause nicht sicher waren. Dass er sie in der Hand hatte.

12.  Diszipliniert. Sonst hätte er irgendwelche Beweisstücke liegen lassen.

13.  Sieht sich wahrscheinlich eine Menge Kriminalsendungen im Fernsehen an, um daraus zu lernen, wie man unentdeckt bleibt. Viele Kriminelle waren von der Polizei fasziniert, und Burke machte da keine Ausnahme. Als David seine Wohnung durchsuchte, fand er keine Andenken an die Opfer, keine blutverschmierte Kleidung, kein Messer – er hatte gehofft, die Tatwaffe zu finden, was ihm einen wichtigen Beweis geliefert hätte. Doch er fand nur Bücherregale voller realer Kriminalfälle, viele mit detaillierten Beschreibungen der Taten von Serienkillern.

David lehnte sich zurück und las, was er notiert hatte. Jeder Punkt passte zu dem Mann, der im Gefängnis saß. Außerdem war es sehr auffällig, dass keine ähnlichen Morde passierten, während er hinter Gittern saß. David glaubte, dass ein Arzt womöglich weniger Hemmungen davor hatte, in die Haut eines Menschen zu schneiden, als andere Menschen. Ein Arzt wusste, wo er den effektivsten Schnitt ansetzte, und hatte auch keine Angst vor viel Blut. Burke empfand sich ganz sicher als “normal”. Er war intelligent, nicht sehr groß und von schmaler Statur.

Doch selbst David musste einsehen, dass diese Beschreibung auf eine Menge Männer zutraf. Was ihn mehr als alles andere überzeugte, war seine Intuition. Das und der merkwürdige Blick, mit dem Oliver Burke ihn während der ersten Anhörung angesehen hatte. Als wäre er versucht, ein Geständnis abzulegen …

Ein gewisses Gefühl und ein Gesichtsausdruck waren nicht gerade genug, um einen Staatsanwalt zu überzeugen. Oder vielmehr eine Jury. Er brauchte einfach mehr.

Seufzend klappte er die Akten zu. Hier konnte er nichts weiter tun. Er hatte das alles schon einmal durchgekaut. Wenn er nicht bald neue Informationen bekam, würden diese Fälle nie gelöst werden.

Und dafür musste er sich an die Leute wenden, die Burke am besten kannten.

Wenn ich rauskomme, schlitze ich dir die Kehle auf …

Skye saß an ihrem Schreibtisch und starrte in die Luft. Sie hatte den ganzen Morgen nicht arbeiten können. Ob dieser Anruf von Oliver Burke kam oder nicht – sie glaubte jedenfalls, dass er sich wegen ihrer Aussage vor Gericht an ihr rächen wollte. Er würde sie verfolgen …

“Hallo, hier spricht Peter Vaughn von The Last Stand. Wir sind eine Non-Profit-Organisation, die Opfer von Gewaltverbrechen unterstützt …”

Skye lauschte dem Gespräch aus dem Nebenraum. Die Ehrenamtlichen halfen drei Stunden am Tag, Sponsoren zu gewinnen, damit sie den Laden nicht schließen mussten. Die freiwilligen Helfer kamen und gingen. Es war schwierig, die Motivation der Leute aufrechtzuerhalten, wenn man sie nicht bezahlen konnte. Doch es gab ein paar, die ihnen treu blieben. Meist handelte es sich um Personen, die selbst jemanden kannten, der vergewaltigt oder umgebracht worden war. Peter gehörte dazu. Sein älterer Bruder war durch einen bewaffneten Überfall getötet worden. Mit seinen gerade mal achtzehn Jahren war Peter bereits ein Profi am Telefon.

So abgelenkt wie sie war, hätte Skye den ganzen Vormittag zuhören können, wie Peter telefonierte. Aber sie musste ihre Arbeit erledigen. Sie hatte eine Liste von aktuellen Fällen, die sie durchsehen wollte. Es gab Mails und einige Anfragen zu beantworten. Eine Nachricht war von Jonathan. Er hatte erfahren, dass Sean Regans Frau sich manchmal mit einem bestimmten korpulenten, aber wohlhabend wirkenden Fremden zum Lunch getroffen hatte. Eine Klientin teilte ihr mit, dass sie zu ihrem Mann zurückkehrte, der sie schlug. So etwas war immer ein schwerer Rückschlag für Skye. Außerdem brauchte sie ein Kleid für diese Benefizparty, und einen Begleiter ebenso. Dann wollte sie eine neue Pressemitteilung herausgeben, in der sie über Einzelheiten zu Burkes Entlassung informierte. Das sollte die Notwendigkeit der Unterstützung von Hilfsorganisationen wie The Last Stand unterstreichen.

Mit der Pressemitteilung fing sie an. Sie hoffte, es würde ihre Nerven ein wenig beruhigen, wenn sie etwas zu ihrer Verteidigung unternahm. Aber die erhoffte Wirkung blieb aus. Immer wieder ertappte sie sich, wie sie auf das Telefon starrte. Sie wartete auf einen Anruf von David. Aber ihr Gespräch war nicht gut gelaufen, und sie war es leid, auf etwas zu warten, das sie nicht bekommen konnte. Sie musste David ein für alle Mal in die Kategorie der platonischen Freundschaften verbannen. Doch was sie für ihn empfand, konnte sie nicht so einfach an- und abschalten. Sie hatten sich beide von Beginn an dagegen gewehrt. Jetzt wurde Burke entlassen, und die ganze Geschichte schien wieder von vorn anzufangen. Der Kontakt miteinander. Die Sorge. Das Verlangen. Die Angst.

Sie befahl sich, weder an David noch an Burke zu denken, aber das half nicht. Sie fühlte sich, als wäre sie vier Jahre zurückversetzt worden. Burke stellte immer noch eine Bedrohung dar. David versuchte immer noch, ihr zu helfen. Sie liebte ihn mehr denn je. Und er versuchte immer noch, die Beziehung zu seiner Exfrau zu kitten. Warum hatte sich denn gar nichts verändert?

Sie konnte nicht für den Rest des Lebens in Alarmbereitschaft bleiben …

Skye massierte sich die Schläfen und rückte vom Computer ab. Sie musste mehr unternehmen, als nur eine weitere Flut von Pressemeldungen rauszugeben. David würde das zwar gar nicht gefallen – aber vielleicht sollte sie in die Offensive gehen, statt herumzusitzen, zu warten und das Beste zu hoffen. Vielleicht sollte sie sich mehr mit Burke und seinem Lebensstil befassen.

Vielleicht war es an der Zeit, Feuer mit Feuer zu bekämpfen.

Nachdem sie mehr als fünf Stunden gestanden hatte, taten Jane die Füße weh. Sie musste eine Pause einlegen, und im Moment war alles ruhig, sodass sie es sich wohl erlauben konnte. Sie setzte sich in ihren Salonsessel, zündete sich eine Zigarette an und blickte aus dem breiten Frontfenster, an dessen Scheibe der Haarschnitt für einen Zehner angeboten wurde. Geizhälse, die sich die Haare für zehn Dollar schneiden ließen, vergaßen auch oft, ein Trinkgeld zu geben. Der letzte Kunde hatte ihr eine Handvoll Münzen in die Hand gedrückt und behauptet, es wären zehn Dollar. Als sie mit dem Zählen der vielen Pennys fertig war, stellte sie fest, dass ihr ein Dollar fehlte und der Kunde sich aus dem Staub gemacht hatte.

“Verdammt”, schimpfte sie. Inzwischen trug sie sogar tief ausgeschnittene Oberteile. Das erhöhte die Bereitschaft, ein Trinkgeld zu geben. Die Männer hatten nichts gegen einen guten Ausblick, und sie fand, das schadete ja auch niemandem. Eine Frau musste schließlich sehen, wie sie zurechtkam. Aber der letzte Typ hatte sie angestarrt und dann trotzdem übers Ohr gehauen.

“Hey!”, rief ihre Kollegin Danielle und wedelte mit dem Zeigefinger. “Hier ist Rauchen verboten. Anordnung vom Staat Kalifornien!”

“Der Staat Kalifornien kann mich mal. Hier ist doch niemand außer dir, und du qualmst ja mehr als ich.”

“Die Chefin wird’s aber riechen”, warnte Danielle. “Dann wirst du gefeuert.”

“Und wen will sie dann dafür einstellen? Für so wenig Geld wird sich doch keine andere abrackern.”

“Da täuschst du dich aber gewaltig. Es gibt eine lange Reihe von Interessenten, die deine Stelle gern hätten, meine Süße.”

Davon wollte Jane nichts wissen. “Tatsächlich? Nun, ich werde den Job nicht mehr lange brauchen.” Oliver kam am Freitag aus dem Gefängnis, und er war ein gebildeter Mann. Bevor ihr Leben zum Chaos geworden war, hatte er mehr als eine Viertelmillion im Jahr verdient. Sie hatten in einem Haus gewohnt, um das alle Freunde sie beneideten. Sie würden sich das, was sie verloren hatten, wieder aufbauen. Es war nur eine Frage der Zeit.

“Willst du kündigen?”

Verstimmt, weil sie ihre Zigarette nicht in Ruhe rauchen konnte, drückte Jane sie schließlich aus. “Zufrieden?”

Danielle warf ihr einen bösen Blick zu. “Ich hab die Gesetze nicht gemacht. Außerdem musst du die Haare unter deinem Stuhl wegfegen, bevor du Pause machst.”

Jane stand auf, fegte grummelnd den Boden und machte ihren Arbeitsplatz sauber. Dann ging sie in den Hinterhof, wo der stinkende Müllcontainer stand, und zündete sich noch eine Zigarette an. Hier befand sich die offizielle “Raucherecke”. Sie hatte kaum den ersten Zug gemacht, als Danielle den Kopf zur Tür rausstreckte. “Da drinnen ist einer, der dich sprechen will.”

“Sieht er gut aus?”

“Ich würde ihn nicht von der Bettkante stoßen.”

“Das sagt nicht gerade viel.”

Danielle sah sie wütend an. “Jetzt reicht’s aber! Du bist ja heute wirklich schlecht drauf.”

“Ich hab ja nur Spaß gemacht, das weißt du doch”, beruhigte Jane sie, obwohl sie es sehr wohl ernst gemeint hatte.

“Egal. Aber ich denke, dieser Typ wäre wohl für uns beide eine Nummer zu groß”, erwiderte Danielle und zuckte die Schultern.

Jane musterte ihre Kollegin. “Ist er so umwerfend?”

“Ich sage nur: stahlharte Muskeln und der knackigste Hintern, den ich je gesehen habe. Und ein sinnlicher Mund, der jede Frau für Wochen auf den Laken hält.” Und damit schloss sie die Tür wieder hinter sich.

Hin- und hergerissen zwischen der Lust aufs Rauchen und ihrer unbezwingbaren Neugier, drückte Jane ihre zweite Zigarette aus und folgte Danielle in den Salon. Sofort wünschte sie, sie hätte nach dem Namen gefragt. Dieser Typ war der Wahnsinn, das stimmte. Mit dem kurz geschnittenen dunklen, fast schwarzen Haar, den leuchtend grünen Augen und den männlichen Gesichtszügen war er eine ausgesprochen auffallende Erscheinung.

Zu dumm, dass es sich um den Detective handelte, der ihren Mann hinter Gitter gebracht hatte.

“Was wollen Sie denn hier?”, entfuhr es ihr.

Danielles Kopf ruckte bei diesem gereizten Tonfall hoch.

“Dieser Mann ist Polizist”, erklärte ihr Jane.

“Er muss wohl gehört haben, dass du rauchst.” Danielle warf ihm ein Lächeln zu, das ihre Grübchen zur Geltung brachte, allerdings auch ihre schiefen Zähne. “Ich hoffe, er hat seine Handschellen mitgebracht.”

Detective Willis zog die Augenbrauen hoch. Aber sein Grinsen zeigte, dass sie ihn keineswegs in Verlegenheit brachte.

“Danielle hat wohl starke Entzugserscheinungen”, murmelte Jane. “Ihr Übergewicht wirkt sich negativ auf das Liebesleben aus.”

Janes Beleidigung überraschte David mehr als das schamlose Flirten ihrer Kollegin, aber er gab keinen Kommentar dazu ab. “Würden Sie einen Moment mit mir rauskommen?”

“Nehmen Sie auch Freiwillige?”, mischte sich Danielle wieder ein.

David warf ihr ein höfliches, aber distanziertes Lächeln zu und wedelte mit der Hand, an der sein Ehering steckte. Das überraschte Jane. Soweit sie gehört hatte, war der Detective geschieden.

“Verdammt”, schimpfte Danielle. “Die Besten sind immer vergeben.”

“Lass dich bloß nicht von ihm täuschen”, sagte Jane. “Mein Mann könnte dir so einiges über diesen wundervollen Detective erzählen.”

David blickte sie ernst an. “Möchten Sie wirklich hier drinnen über Ihren Mann reden?”

Sein nüchterner Tonfall machte Jane nervös. Hatte er schlechte Nachrichten? Sie wusste, dass er glaubte, Oliver hätte drei Frauen umgebracht. Sie lebte schon unter der ständigen Angst, dass eines Tages ein Polizist an ihrer Tür klopfte, um ihr zu sagen, dass es stimmte. Wenn sich das jetzt bewahrheiten sollte, wüsste Jane nicht, ob sie damit fertig würde. Nicht noch zusätzlich zu dem Stress, dass sie sich von Noah getrennt hatte und sich nur um Kates willen aufrecht hielt.

“Ich kann jetzt nicht gehen”, entgegnete sie unsicher. “Sie haben uns den Brotverdiener in der Familie weggenommen, deshalb muss ich nun die Rechnungen bezahlen.” Ich habe genug durchgemacht. Verdammt noch mal, bitte geh wieder!

Aber ihr Wunsch erfüllte sich nicht.

“Wie lange brauchen Sie für einen Haarschnitt?”, erkundigte er sich.

“Zwanzig, dreißig Minuten.”

Er reichte ihr einen Zwanziger. “Ich habe jetzt eine halbe Stunde Ihrer Arbeitszeit gemietet. Möchten Sie, dass ich mich jetzt hier in Ihren Sessel setze, oder können wir kurz vor die Tür gehen?”

Sie stopfte das Geld sehr effektvoll in ihren BH, aber David ließ den Blick nicht zu ihrem Dekolleté gleiten. Danielle hatte recht: Detective Willis war für sie eine Nummer zu groß. Sie war zweiundvierzig, älter als er, und so langsam konnte man ihr die Jahre ansehen. Der Altersunterschied zu ihm war noch größer als zu Oliver. Ob ihr Mann sie attraktiv fand, wenn er nach Hause kam?

Falls er nach Hause kommt, korrigierte sie sich in Gedanken. Jetzt, wo der Detective in ihrem Salon stand, war sie sich plötzlich nicht mehr so sicher.

Sie wickelte sich fest in ihren langen purpurroten Sweater und verließ den Laden mit ihm. “Stört es Sie, wenn ich rauche?”

“Wenn Sie sich dann besser fühlen.”

Sie zündete sich eine Zigarette an und inhalierte tief. Es war eine fürchterliche Angewohnheit, über die ihre alten Freunde die Nase rümpfen würden. Aber so überstand sie den Tag. “Was ist los?”, fragte sie und wappnete sich für das Schlimmste.

“Nehmen Sie immer noch Schlaftabletten?”

Sie blickte ihn böse an. Dank ihm hatte der Staatsanwalt vor Gericht eine große Sache daraus gemacht. Hatte behauptet, dass Oliver wer weiß was hätte anstellen können, während sie halb bewusstlos im Bett lag. Sie hätte es nie bemerkt. Aber er schien nicht die Absicht zu haben, sie zu provozieren. Die Frage klang so, als wollte er es wirklich wissen. “Nein. Ich kann inzwischen meist von allein einschlafen.”

“Das ist gut. Haben Sie in der Zeit, die Ihr Mann im Gefängnis war, irgendetwas gefunden, das auf eine Verbindung zu Meredith Connelly, Patty Poindexter oder Amber Farello hinweisen könnte?”

“Meinen Sie etwa, ich würde Ihnen das sagen, wenn es so wäre?”

“Es ist jetzt drei Jahre her”, entgegnete er. “Ich hatte gehofft, Sie hätten inzwischen etwas nachgedacht.”

Janes Atem ging etwas ruhiger. Er hatte also nichts Neues herausgefunden, es ging lediglich wieder um die alte Geschichte. Damit konnte sie vielleicht umgehen. “Sie sind ziemlich hartnäckig, was?”

Ihr war klar, dass er sie mit seinem freundlichen Auftreten einwickeln wollte – und trotzdem hatte er Erfolg. Mit seinen breiten Schultern und den trainierten Muskeln, die sich unter der Kleidung abzeichneten, schien er gut in Form zu sein. Der Detective hatte etwas Wildes, Forsches, Intensives an sich. In ihrer momentanen schwachen Verfassung schien er eine richtige Bedrohung für ihre Abwehrkräfte darzustellen. “Was hätte ich denn finden sollen?”

“Ein Kleidungsstück. Schmuck. Ein Messer.”

“Warum fällt es Ihnen denn so schwer zu glauben, dass mein Mann unschuldig ist? Skye Kellerman war high. Sie ist mit einer Schere auf Oliver losgegangen.”

Diese dichten schwarzen Wimpern waren der perfekte Rahmen für seine grünen Augen. “Skye hat keine Drogen genommen.”

“Das wissen Sie doch gar nicht. Wahrscheinlich können Sie sich bloß nicht vorstellen, dass eine so schöne Frau die Schuldige ist – oder?”

Diesen leichten Anklang von Eifersucht in ihrer Stimme überging er. “Ich spreche von Trophäen. Vergewaltiger und Mörder sammeln so was manchmal, heben es auf und durchleben damit ihre Taten von Neuem.”

Vergewaltiger und Mörder … Sie warf ihm einen wütenden Blick zu. “Sie wollen also meine Frage nicht beantworten?”

“Skyes Schönheit hat nichts mit meinem Besuch hier zu tun.”

“Doch”, widersprach sie. “Und auch damit, dass ich hier bin.”

“Sind Sie schon mal aufgewacht, und Ihr Mann war nicht zu Hause? Oder hat sich vielleicht gerade im Bad sehr lange gewaschen?”

Er ging so schnell darüber hinweg, dass sie sich fragte, ob diese heißen Blicke, die Skye Kellerman und er im Gerichtssaal gewechselt hatten, vielleicht Einbildung gewesen waren. War das nur ein kurzer Moment gewesen? Ein Einverständnis und gegenseitige Sympathie, wie unangebracht auch immer? Oder etwas Ernsteres? “Er war ein viel beschäftigter Mann. Manchmal kam er abends sehr spät, morgens ist er meist früh aufgestanden.”

“Ist er an manchen Tagen so früh aus dem Haus gegangen, dass Sie es gar nicht mitbekamen?”

“Natürlich, aber das heißt noch gar nichts. So geht es einer Menge Ehefrauen. Ich habe immer länger geschlafen als er – egal, ob mit oder ohne Schlaftabletten. Deshalb konnte ich nicht von ihm erwarten, sich an- oder abzumelden.” Sie runzelte die Stirn. “Aber das war in der guten alten Zeit …”

“War sie immer so gut?”

“Was soll das heißen?”

“Ihr Mann hat sich nie merkwürdig verhalten, irgendwie anders? Es ist nichts passiert, wonach Sie sich manchmal gefragt haben, ob das der Mann ist, den Sie kennen?”

Jane musste automatisch an das eine Wochenende denken, von dem sie nie sprach – als Oliver mit Viagra experimentieren wollte, kurz nachdem es auf den Markt gekommen war. Wenige Tage später hatte er etwas mitgebracht, von dem er behauptete, es würde sie auf Touren bringen, sie sexhungrig werden lassen. Sie hatte zugestimmt, es zu nehmen; sie wollte nicht, dass ihr Mann sie langweilig fand, weil sie ein paar Jahre älter war als er. Doch das war das merkwürdigste Erlebnis überhaupt geworden. Oliver behauptete, sie hätten es mehrere Male getrieben. Er hatte Kratzer auf seinem Rücken, die bewiesen, dass sie sich etwas hatte gehen lassen. Aber sie konnte sich nicht mal daran erinnern, ihn überhaupt berührt zu haben. Es hatte zu jener Zeit keinen Mord gegeben. Sicher steckte nichts dahinter …

“Jane?”, hakte der Detective nach, und sie bemerkte plötzlich, dass sie stehen geblieben war.

“Er war völlig normal”, sagte sie und ging ein Stück weiter.

David folgte ihr. “Es könnte gefährlich werden, wenn Sie etwas verschweigen, Jane.”

Diese Fragen gingen ihr auf die Nerven. Diese ständigen Versuche, das, woran sie glaubte, zu zerstören.

Oder wollte sie nur daran glauben? Sie rieb sich mit einer Hand über das Auge und seufzte. “Hören Sie denn nie damit auf?”

David klemmte die Daumen in seine ausgetragene Jeans und stellte sich vor Jane, um ihr den Weg abzuschneiden. Das T-Shirt unter seiner Lederjacke dehnte sich über seiner breiten Brust, sodass sich seine Muskeln auf dem Stoff abzeichneten. Das war eindeutig eine Ablenkung und machte es ihr nur noch schwerer, nicht zu vergessen, dass er ihr Gegner war. “Denken Sie nur daran, was passieren kann, wenn Sie sich irren!”, sagte er.

Er wollte sie verunsichern, ihr Angst machen. Und es funktionierte. “Ich nehme keine Schlaftabletten mehr, deshalb werde ich jetzt mehr mitbekommen.”

“Glauben Sie, das würde ihn aufhalten?”

“Sie machen sich unnötig Sorgen”, beharrte sie. Doch inzwischen war sie nicht mehr so überzeugt wie früher einmal. Dieses Erlebnis an dem Wochenende, als Oliver sich so komisch verhalten hatte, nagte seitdem an ihr. Jetzt wurden ihre Zweifel noch stärker. Trotzdem war damals niemand zu Schaden gekommen. “Sie haben mein Haus durchsucht und nichts gefunden. Oder etwa nicht?”

David wechselte die Taktik. Er rieb sich über seine Bartstoppeln, die einen Schatten auf sein Kinn zu zeichnen begannen. “Vor Gericht sagten Sie, Sie hätten ihren Mann in einer Pizzeria kennengelernt. Sie arbeiteten als Friseurin, und er ging noch zur Schule. Aber sie haben sich sofort ineinander verliebt. An dem Abend sind sie zusammen ausgegangen und begannen kurz danach eine Beziehung.”

Sie lachte bitter. “Ich hatte mir wegen des Altersunterschieds Sorgen gemacht. Damals hätte ich nie geahnt, worauf ich mich noch gefasst machen muss.” Sie musterte den attraktiven Detective durch den aufsteigenden Rauch ihrer Zigarette. “Sie können sich nicht vorstellen, was es für mich bedeutet, wenn der Vater meines Kindes, mein Ehemann, wegen versuchter Vergewaltigung verurteilt wird.”

Davids mitfühlender Blick wirkte echt. “Es ist erstaunlich, dass Sie das alles mitgemacht haben.”

“Ich habe es mitgemacht, weil er es nicht getan hat”, sagte sie nachdrücklich. Doch der Verdacht, den sie so lange unterdrückt hatte, meldete sich erneut. “Was, wenn es stimmt?”, ging es ihr immer wieder durch den Kopf. Kannte sie Oliver wirklich so gut, wie sie dachte?

“Erzählen Sie mir von den Mädchen, mit denen er früher ausgegangen ist – oder mit denen er ausgehen wollte. Oder die er einfach bewunderte.”

“In der Highschool damals?” Sie ließ die Hand sinken. Worauf wollte der Detective jetzt wieder hinaus? Vielleicht war sie frustriert, ausgelaugt und verwirrt, aber sie musste aufpassen. Das verteidigen, was ihr noch geblieben war.

“Generell.”

“Warum? Keines der Mädchen, die Oliver damals kannte, ist vergewaltigt oder ermordet worden. Ein paar sind sogar vor Gericht erschienen, um für ihn auszusagen.”

“Gab es damals ein bestimmtes Mädchen, das ihn abblitzen ließ? Auf das er scharf war?”

Sie brauchte nicht lange zu überlegen, um die richtige Antwort zu finden. “Nein. Ich bin die einzige Frau, die er jemals geliebt hat.”

“Ich spreche nicht von Liebe.”

“Wir alle treffen ab und zu jemanden, der wir anziehend finden. Sie kommen und gehen. Meine Kollegin scheint sich ja auch für Sie zu interessieren, oder?” Jane nahm an, dass sich wohl die meisten Frauen von Detective Willis’ Vitalität angezogen fühlten. Aber sie wollte nicht zeigen, dass sie dazugehörte.

“Ich meine nicht einfach jemanden, nach dem er sich umgedreht hat. Ich meine jemand Besonderen. Vielleicht war er mal auf die Abschlussballkönigin fixiert oder auf die Anführerin der Cheerleader? Hat er von irgendjemandem besonders viel gesprochen?”

“Die Anführerin der Cheerleader war die Abschlussballkönigin, jedenfalls in seinem letzten Schuljahr. Ich habe die Krönungszeremonie miterlebt. Wenn ich mich recht erinnere, war sie gar nicht so schön. Jedenfalls nicht besonders.”

“Wer war das schönste Mädchen in der Schule?”

Jane wollte schon antworten, dass sie keine Ahnung hatte. Aber dann musste sie daran denken, wie Oliver diese schlanke Rothaarige angestarrt hatte, die neben der Königin auf dem Wagen gesessen hatte. Sie hatte ein atemberaubendes Abendkleid getragen, das ihre unglaubliche Figur bestens zur Geltung brachte. Er war so fasziniert von dieser “Prinzessin” gewesen! Jane hatte ihn Stunden später sogar dabei ertappt, wie er versuchte, sie zum Tanzen zu überreden. Aber das Mädchen wollte einfach nicht, und Oliver war wegen dieser Abfuhr den restlichen Abend ziemlich sauer gewesen.

Jane war nicht oft eifersüchtig. Damals war es nur von Vorteil gewesen, ein paar Jahre älter zu sein, und sie hatte ja auch nicht schlecht ausgesehen. Aber an dem Abend hatte es sie schwer erwischt. “Miranda Dodge”, sagte sie automatisch.

“Wer war das?”

Jane zog an ihrer Zigarette. “Das Mädchen, auf das alle Typen scharf waren.” Sie blies den Rauch aus. “Die hätte Ihnen wahrscheinlich auch gefallen. Sie wären bestimmt auch bei ihr angekommen.”

“Mit wem war sie zusammen?”

“Keine Ahnung. Sie ist später Model geworden. Sie hat Fotos für den Playboy gemacht.”

“Für den Playboy?”, wiederholte der Detective, als wollte er sichergehen, dass er auch richtig verstanden hatte.

“Genau.” Kurz nach ihrer Hochzeit hatte sie diese Ausgabe in Olivers Schreibtischschublade entdeckt. Was sie ganz schön genervt hatte. “Warum?”

David sagte nichts.

“Detective?” Sein Schweigen machte sie nervös. Hatte sie jetzt doch mehr preisgegeben, als sie wollte? “Er hat keinen Kontakt mehr zu ihr. Das heißt doch gar nichts.”

“Kennen Sie jemanden, der vielleicht noch Kontakt zu Miranda hat?”

Sie wedelte mit der Zigarette. “Ich habe gar keine Ahnung, warum mir überhaupt noch der Name eingefallen ist.” Abgesehen von ihrer fürchterlichen Eifersucht damals. Das Magazin in der Schreibtischschublade ihres Mannes hatte so viele Eselsohren – offensichtlich nahm er es oft zur Hand, um Mirandas Foto anzuhimmeln.

“Der Altersunterschied zwischen Ihnen und Ihrem Mann hat nicht …”

“Anziehungskraft hat mit dem Alter nichts zu tun”, fiel sie ihm ins Wort.

“Sie waren zweiundzwanzig, als Sie zusammengekommen sind, er war gerade mal sechzehn. Manche Eltern würden sich Sorgen machen, ob ihr Sohn auch die Schule abschließt und eine Ausbildung absolviert.”

“Ich war in der Lage, ihn zu unterstützen, während er studierte. Ich hatte ja schon einen Job”, sagte sie. “Sie sollten mir ziemlich dankbar dafür sein.”

“Sind sie das?”

“Ich denke schon, inzwischen.”

“Und damals?”

“Bis zu seinem Abschluss haben wir ihnen nicht gesagt, wie alt ich bin. Sie dachten, ich würde die Highschool am anderen Ende der Stadt besuchen.” Sie blickte auf ihre Uhr. Bevor sie irgendetwas sagte, das negative Auswirkungen hatte, sollte sie lieber wieder zur Arbeit gehen. “Meine Pause ist zu Ende.”

Er hob den Finger, um ihr zu bedeuten, dass er sie nur noch einen kurzen Moment aufhalten würde. “Glauben Sie, dass Ihr Mann Sie vor der Sache mit Skye schon mal betrogen hat?”

Das war eine Frage, die ständig an ihr nagte, seit sie Skye Kellerman das erste Mal gesehen hatte. Zweifellos war Skye außerordentlich attraktiv. Aber wenn Oliver sich dieser Versuchung so schnell hingab – war das dann schon öfter geschehen? Das war doch möglich, oder? Jane hatte sich sogar gefragt, ob er es mit einigen seiner Patientinnen getrieben hatte oder mit den Zahnarzthelferinnen – mit Frauen, die sie kannte und die ihr ständig begegneten. Hatte sie vielleicht einer von Olivers Geliebten ein Weihnachtsgeschenk überreicht? Oder er?

Wenn sie bedachte, was sie getan hatte, konnte sie nicht allzu empört sein. Trotzdem … “Sie verschwenden nur Ihre Zeit. Ich bin wohl die letzte Person, der er das erzählen würde.”

“Vielleicht sind Sie die letzte Person, der er es erzählt, aber ich denke, Sie sind doch sicher die erste, die Verdacht schöpft.”

Sie nahm einen letzten Zug von der Zigarette, die bereits bis zum Filter heruntergebrannt war. “Natürlich habe ich den Verdacht, dass er mich betrogen hat. Na und? Welche Ehefrau würde nicht seine Treue anzweifeln, nachdem sie so was durchgemacht hat wie ich?”

“Ist er manchmal sehr spät nach Hause gekommen? Hat er unerklärliche E-Mails oder Telefonanrufe erhalten, sich merkwürdig benommen?”

Er fragte immer wieder dasselbe, nur diesmal von einer anderen Seite. Eines Tages würde er vielleicht die Abwehr durchbrechen. “Nicht, dass ich wüsste.” Sie warf den glimmenden Zigarettenstummel auf den ölverschmierten Asphalt und trat ihn mit der Spitze ihrer hochhackigen Schuhe aus. “Manchmal ist er mitten auf der Straße stehen geblieben, um einer attraktiven Frau nachzusehen. Aber das tun eine Menge Männer.”

“Was ist mit seinen sexuellen Gepflogenheiten?”

“Was soll damit sein?”

“Würden Sie sagen, dass er in dieser Beziehung normal ist?”

Sie sehnte sich schon wieder nach einer Zigarette. “Was ist normal? Jeder ist anders.” Allerdings hätte sie wetten können, dass der Detective allzeit bereit war. Oliver bekam manchmal keine Erektion. Seine zeitweilige Impotenz hatte sie beide gleichermaßen frustriert, besonders, weil Oliver immer ihr die Schuld dafür zuschob. Meist sagte er, sie sei nicht aufregend genug für ihn.

“War er sexabhängig?”

“Wie definieren Sie denn Abhängigkeit?”, fragte sie schnippisch. “Ich kenne eigentlich nur Männer, die sexabhängig sind.”

“Zwischen gern Sex haben und sexabhängig sein ist ein Unterschied. Wollte er es einmal am Tag, zweimal oder öfter? Redete er außergewöhnlich viel darüber?”

Wenn überhaupt, war genau das Gegenteil der Fall. Wenn überhaupt, dann verschaffte er sich selbst Erleichterung. Jane nahm an, dass ihm Mirandas Foto dabei half, was sie wirklich nervte. Aber das war wohl so üblich. Viele Männer törnten sich mit solchen Magazinen an. “Nein.”

“Einmal die Woche?”

Sie weigerte sich, zu sagen, dass es nur einmal im Monat war oder so. Der Detective würde sich fragen, ob mit ihr etwas nicht stimmte. Sie blickte über die Schulter zurück zum Salon – und sah Danielle an der Tür stehen. Vorgeblich rauchte sie eine Zigarette, aber sie beobachtete die beiden neugierig. “Das geht Sie gar nichts an. Ich muss jetzt wieder arbeiten”, sagte sie und wandte sich ab. Aber Davids nächste Frage ließ sie erstarrt stehen bleiben, als hätte er sie fest am Arm gepackt.

“Wie oft rasiert er sich den Genitalbereich?”

“Wie bitte?” Sie wirbelte herum.

David war ebenso wenig entgangen, dass Danielle dort stand. Er drehte ihr den Rücken zu und beugte sich zu Jane vor. “Sie haben schon verstanden. Kommen Sie schon, Jane. Ich will nur die Wahrheit wissen.”

“Sie verdrehen die Tatsachen, um einen unschuldigen Mann zu zerstören!”, flüsterte sie aufgebracht. “Und mich dazu!”

“Sind Sie sicher, dass er unschuldig ist?” Er erwartete nicht, dass sie diese Frage beantwortete. Aber er schaute sie an, als würde er die Zweifel in ihrem Blick sehen. Jane wurde ganz übel.

“Lassen Sie mich in Ruhe.”

“Wie oft rasiert er sich?”

“Viele Männer tun das. Er ist passionierter Radsportler.”

“Die rasieren sich die Arme und Beine.”

Sie ballte die Hände so fest zusammen, dass es wehtat. “Heutzutage ist diese Art von Körperpflege doch ganz üblich.”

“Warum ist es dann so schlimm, meine Frage zu beantworten?”

Janes Alarmglocken klingelten. Aber sie konnten Oliver ja nicht noch einmal wegen der Kellermann-Sache anklagen, nicht wahr? Das war ungesetzlich …

“Helfen Sie mir”, sagte David.

Wenn er so anfing, dann würde wohl jede Frau ihre Seele verkaufen, um ihm zu geben, was er wollte. Leider war sie nicht so immun, wie sie vorgab. “Nur ab und zu”, räumte sie ein.

“Gab es eine bestimmte Routine? Hat er sich etwa jeden zweiten Tag rasiert oder immer am Wochenende?”

Sie überlegte, ob sie sich eine weitere Zigarette anzünden sollte, entschied sich aber dagegen. Nikotin beruhigte sie. Aber sie wollte nicht, dass der Detective das als Einladung betrachtete, noch länger zu bleiben. Er wurde ihr irgendwie sympathisch, und das war sehr gefährlich. “Er hat sich nicht regelmäßig rasiert.”

David verschränkte die Arme, wandte sich etwas ab und räusperte sich. “Wollte er, dass Sie … Sie wissen schon … sich auch rasieren?”

Jane war erstaunt, dass er offensichtlich zögerte, ihr eine so indiskrete Frage zu stellen, und sie fand es sogar anziehend. Detective Willis war nicht nur ungemein sexy, er schien irgendwie ein anständiger Typ zu sein. Und das passte überhaupt nicht zu dem Vorwurf, den Jane ihm machte. “Nein. Ob er sich rasierte oder nicht, das hatte offenbar nichts mit mir zu tun. Er hat es einfach getan, so als würde er … ich weiß nicht, sich die Nägel schneiden. Warum fragen Sie?”

David antwortete nicht. Stattdessen zog er seine Karte aus der Tasche. “Rufen Sie mich an, wenn Sie etwas Außergewöhnliches beobachten. Vor allem, wenn er sich rasiert.”

Sie lachte verzweifelt und ungläubig auf. “Sie glauben wirklich, mein Mann wäre ein Mörder!”

“Das stimmt”, sagte er und drückte ihr die Visitenkarte in die Hand.