8. KAPITEL
Miranda Dodge hatte eine Webseite.
David ließ das Mittagessen mit Tiny und einem der anderen Detectives ausfallen, um sich die Fotos anzusehen. Die meisten stammten aus früheren Jahren, als sie sich auf dem Höhepunkt ihrer Modelkarriere befunden hatte. Miss Dodge war ziemlich groß, hatte kastanienbraunes Haar und eine Figur, die ihn an Marilyn Monroe erinnerte. Sehr kurvenreich. Große Brüste. Ein Körperbau, der nicht unbedingt immer gefragt gewesen war. Sie hatte in den Neunzigerjahren mit ihrer Modelkarriere begonnen, als Kate Moss den Maßstab gesetzt hatte. Die Frauen hungerten zu jener Zeit, um den Look des britischen Topmodels nachzuahmen.
Miranda war in dem Metier nicht so weit gekommen, wie sie gehofft hatte. Die Fotostrecke im Playboy war ziemlich umfassend – fünf Seiten zeigten sie nackt oder halb bekleidet: unter einem Wasserfall, in einem tropischen Teich schwimmend oder am Strand liegend, nur mit Sand bedeckt. Doch in anderen größeren Magazinen erschien sie nicht. David nahm an, dass sie die alten Playboyfotos auf ihrer Seite ließ, um genügend Aufmerksamkeit für ihre Angebote zu erregen – Gymnastikvideos und Diätpläne mit ihrem eigenen Markenzeichen.
Er ging die Liste ihrer Besucher im Gästebuch durch. Die meisten waren Männer, die von ihren Aktfotos schwärmten. Eine Mail stammte von einem Mädchen im Teenageralter. Es äußerte sein Interesse daran, Hugh Hefner vorgestellt zu werden und selbst “in dieses Geschäft einzusteigen”.
Einen Blog führte Miss Dodge ebenfalls, um ihre Diätprodukte zu bewerben. Sie schrieb über die Kalorien, die sie während ihres täglichen Work-outs verbrannte, über ihr Trainingsprogramm und sogar über ihren Speiseplan.
Die Fotos auf dieser Seite waren nicht ganz so freizügig, aber sie nutzte ganz offensichtlich ihre körperlichen Vorzüge, um andere zum Kauf ihrer Videos und Diätprodukte zu animieren. Sie posierte in knappen Outfits, um zu demonstrieren, mit welchen Übungen sie ihre Bauchmuskeln trainierte und mit welchen sie ihr Hinterteil formte. Dazu bot sie noch weitere Informationen zum Thema – verschiedene kalorienarme Rezepte, Kleidungsvorschläge und Tipps für Haar- und Hautpflege.
David fragte sich, wie oft Oliver Burke diese Seite aufgerufen hatte. Er suchte im Gästebuch nach alten Einträgen, aber es ging nicht weit genug zurück …
“Wow! Jetzt weiß ich, warum du Tiny erzählt hast, du müsstest arbeiten! Ich hätte meine Mittagspause auch lieber mit ihr verbracht.”
David drehte sich um. Mike Fitzer stand im Durchgang seiner Kabine und starrte auf den Monitor.
“Sie hat was mit einem meiner Fälle zu tun”, erklärte ihm David.
“Wenn du sie zur Befragung herbringen musst, zahle ich dir einen Fünfziger, damit ich sie filzen darf.”
David wünschte, Mike würde sich um seinen eigenen Kram kümmern. Er war der faulste Detective der ganzen Einheit. Es war kaum zu glauben, dass sich so jemand derart lange in diesem Job halten konnte.
“Tut mir leid, dich zu enttäuschen, aber ich weiß nicht, ob ich überhaupt mit ihr sprechen werde. Sie ist nur am Rande beteiligt.”
“Schade aber auch.”
Mike machte keine Anstalten zu gehen, deshalb rollte sich David mitsamt dem Stuhl zu ihm herum. “Kann ich vielleicht was für dich tun, Mike?”
“Allerdings. Du kennst die Frau, die The Last Stand gegründet hat?”
“Ich kenne alle drei Frauen.”
“Ich rede von der, die in letzter Zeit so oft in den Medien erscheint. Skye noch was.”
“Kellerman.”
“Ja, genau die.”
Das überraschte ihn nicht. Es war das zweite Mal in zwei Tagen, dass jemand im Revier ihn auf sie ansprach. Aber seit Skye und ihre Freundinnen The Last Stand gegründet hatten, war es nichts Ungewöhnliches, dass ihr Name bei der Polizei fiel. “Was ist mit ihr?”
“Sie ist eine echte Plage.”
“Was hat sie denn getan?”
“Einen Privatdetektiv angeheuert, der sich in einen meiner Fälle einmischt. Und der Typ geht mir besonders auf die Nerven.”
David verlor augenblicklich das Interesse an Mirandas Webseite. “Weil …”
“Er mir ständig in die Quere kommt, mir sagen will, wie ich arbeiten muss. Er meint, er hat mehr Ahnung davon, wie man einen Fall untersucht, als ich.”
David war sicher, dass das auch zutraf. “Um welchen Fall geht es?”
“Sean Regan.”
“Der Mann, der seit dem Neujahrstag vermisst wird?” David hatte in der Zeitung von Regan gelesen und im Büro von der Sache gehört.
“Genau der. Miss Kellerman ist davon überzeugt, dass seine Frau ihn umgebracht hat. Also nervt mich ihr Privatdetektiv ständig mit Autokennzeichen und weiß ich noch was.”
“Besteht denn die Möglichkeit, dass die Ehefrau es getan hat?”
“Meiner Meinung nach nicht.”
“Und was sagen die Fakten?”
“Es gibt keine Lebensversicherung, sie hätte also keinen finanziellen Gewinn durch seinen Tod. Sie ist eine gute Mutter und nicht vorbestraft. Warum sollte sie plötzlich beschließen, ihren Mann umzubringen?”
“Warum denkt Skye, dass sie es getan hat?”
“Sie meint, Mr. Regan hätte seine Frau verdächtigt, eine Affäre zu haben. Er glaubte, dass sie ihn loswerden wollte, damit sie nicht vor Gericht um das Sorgerecht für die Kinder kämpfen müsste. Es sieht aber eher so aus, als hätte Sean sie betrogen und sich aus dem Staub gemacht, ohne sich weiter um seine Familie zu kümmern. Sein Boss meint, Regan hätte in den Wochen vor seinem Verschwinden seine Arbeit nicht immer erledigt und sich merkwürdig verhalten.”
Also hatte Mike tatsächlich etwas Feldarbeit geleistet … “Merkwürdig in welcher Beziehung?”
“Ins Telefon geflüstert, während er sich in eine Ecke verdrückt hat. Zu spät von der Mittagspause zurückkommen. Dann sind ihm dumme Fehler unterlaufen.”
“Du meinst, er wäre abgehauen und hat seine Kinder zurückgelassen?”
“Für die richtige Frau? Himmel noch mal, ja. Er wäre ja nicht der Erste, der so was macht.”
Angesichts dieser leidenschaftlichen Aussage begann David, sich unwohl zu fühlen. Was würde er für die richtige Frau tun? Sich seiner Verantwortung entziehen?
Diese Versuchung konnte er besser nachempfinden als manch anderer. “Ich werde mit Skye reden”, sagte er.
“Sag ihr, sie soll sich aus meinem Job raushalten, bevor ich wirklich sauer werde”, knurrte Mike. Als er von einem Kollegen gerufen wurde, nickte er David zu und verschwand.
David drehte sich wieder zu seinem Schreibtisch um. Er drückte auf den Kontakt-Button und schickte Miranda Dodge eine Nachricht, dass er ein paar Fragen zu Oliver Burke habe. Dann schaltete er den Computer aus. Er hatte heute Nachmittag ein paar Termine, unter anderem mit Burkes ehemaliger Zahnhygienikerin. Er musste sich auf den Weg machen.
Die Adresse auf dem Stück Papier, das Skye aus Jane Burkes Müll gerettet hatte, war leicht auszumachen. Die Straße befand sich nur wenige Blocks von Janes gegenwärtigem Haus entfernt. Zuerst dachte sie, die Burkes wollten umziehen. Doch das Haus stand nicht zum Verkauf und war nicht zu vermieten. Skye suchte die Nummer aus einem Telefonbuch heraus und rief dort an, um sich zu erkundigen, ob dort jemand mit den Burkes Kontakt habe. Die Frau am anderen Ende der Leitung meinte, ihre Tochter sei eine Spielkameradin von Kate. Als sie wissen wollte, warum sie fragte, hängte Skye ein.
So viel zu dem ganzen Aufwand …
Enttäuscht, dass ihre Müllplünderung kein Ergebnis eingebracht hatte, warf Skye den Zettel weg und suchte im Internet nach irgendetwas, das mit Oliver oder Jane Burke in Zusammenhang stand.
Vor Burkes Überfall hatte Skye als Kundenbetreuerin in einer Teppichfirma gearbeitet und war dem amerikanischen Rechtssystem völlig ahnungslos gegenübergestanden. Dank The Last Stand hatte sie seitdem eine Menge darüber gelernt, wie man kriminalistische Untersuchungen anstellte.
Sie fand die Heiratsurkunde der Burkes, die keine Überraschungen enthielt. Die Geburtsurkunde ihrer Tochter. Bankrotterklärungen und Zwangsvollstreckungspapiere aus der Zeit, als Jane nach Burkes Verhaftung das Haus verlor. Ein paar Zeitungsartikel über die Gerichtsverhandlung tauchten ebenfalls im Internet auf. Normalerweise zog eine versuchte Vergewaltigung nicht gerade großes Medieninteresse auf sich; Brandstiftung, Mord und Terrorismus erregten weit mehr Aufsehen. Aber Oliver Burke war ein besonders untypischer Vergewaltiger und außerdem in der Gemeinde ziemlich bekannt. Die Anklage gegen ihn hatte eine heftige Kontroverse entfacht zwischen denen, die ihn für schuldig, und denen, die ihn für unschuldig hielten. Damit konnte man natürlich auch Zeitungen verkaufen.
Da sie schon mal dabei war, machte sie den Namen von Burkes Bruder ausfindig und stellte auch zu ihm ein paar Recherchen an. Jetzt, wo sie wusste, dass er eine Affäre mit Jane hatte, wollte sie etwas mehr über ihn erfahren.
Es bestand kein Zweifel: Noah Burke war verheiratet und hatte drei Kinder im Alter von zehn, acht und fünf. Er lebte in Orangevale, etwa eine halbe Stunde von Sacramento entfernt. Er führte eine offensichtlich erfolgreiche Baufirma namens NSL Construction, besaß einen außerordentlich guten Ruf, trainierte die Little League und schien generell eine ehrliche Haut zu sein. Bis auf die Sache mit Jane natürlich.
Skye fragte sich, ob seine Frau eine Ahnung hatte, was ablief. Dann beschloss sie, nicht weiter darüber nachzudenken. Sich vorzustellen, welches Unglück sich da anbahnte, regte sie zu sehr auf. Sie musste sich konzentrieren, weiterarbeiten, etwas finden, das ihr einen Vorteil gegenüber Burke verschaffte.
Neben all den Zeitungsberichten und Magazinbeiträgen erschien Burkes Name noch im Zusammenhang mit einigen Zivilrechtsstreitigkeiten. Es gab zwei Anzeigen von Leuten, die damals in derselben Straße gewohnt hatten wie Burke. Die erste war zehn Jahre alt und stammte von einem Mann namens Markum. Er beschuldigte Burke, seinen Hund getötet zu haben. Die zweite hatten ein Mr. Harold Simmons und seine Frau erstattet, die behaupteten, Burke habe Säure auf ihren Rasen gekippt.
Skye wusste nicht, ob diese Informationen letztendlich von Bedeutung sein könnten. Wahrscheinlich hatte David auch schon davon erfahren und diese Sachen als zu veraltet und nicht von Belang verworfen. Doch zumindest hatte sie nun die Namen zweier Nachbarn, die ihr vielleicht etwas über Burke erzählen würden.
Sie schrieb sich die Adressen auf und beschloss, beide aufzusuchen. Doch bevor sie nach ihrer Tasche greifen und aufbrechen konnte, klingelte das Telefon.
“Weitere Drohanrufe?” Es war Jasmine. Sie klang müde, depressiv und beunruhigt. Dabei ahnte sie noch nicht mal, in welcher misslichen finanziellen Lage sich The Last Stand befand oder dass Sheridan wieder einen Rückfall erlitten hatte.
“Keine weiteren Drohanrufe”, erwiderte sie. “Aber ich war auch nicht zu Hause. Gestern Nacht habe ich bei Sher geschlafen.”
“Gut gemacht. Es gefällt mir sowieso nicht, dass du da draußen in der Provinz wohnst.”
“Fang nicht wieder davon an.” Skyes Nerven waren angespannt genug. Die Zeit schien ihr davonzulaufen, und ihre Angst wuchs ständig, je näher die Entlassung rückte.
Würde er sich sofort auf die Suche nach ihr machen? Zum Teil wünschte sie sich das sogar; es war besser, die Sache hinter sich zu bringen. Viel besser sogar, als wer weiß wie lange unter Verfolgungswahn zu leiden und nicht schlafen zu können aus lauter Angst, dass sie nicht mitbekam, wenn er in ihr Haus einbrach.
“Eine Wohnung in der Stadt wäre sicherer”, sagte Jasmine.
“Nicht unbedingt. Das würde höchstens das Unvermeidliche hinauszögern.”
“Sei nicht so fatalistisch. Es muss nicht darauf hinauslaufen.”
Skyes Gefühl sagte ihr, dass es sehr wohl darauf hinauslief. Doch sie beabsichtigte nicht, das Unerklärliche zu erklären. “Vielleicht, vielleicht auch nicht”, entgegnete sie ausweichend. Sie wollte keine Diskussion anfangen. Dann stand sie auf und schloss ihre Bürotür. “Wie läuft es in Fort Bragg?”
“Nicht gut.”
Skye setzte sich wieder. “Ihr habt sie nicht gefunden?”
Jasmines Tonfall änderte sich schlagartig. “Sie haben gefunden, was von ihr übrig war.”
“Oh Jasmine, das tut mir leid!”
Schweigen am anderen Ende, unterbrochen von einem leisen Schluchzen, bestätigte Skye, dass Jasmine weinte. Sie wartete, bis ihre Freundin sich wieder etwas beruhigt hatte.
“Sie haben sie in einer Mülltüte gefunden”, sagte Jasmine schließlich. “Wahrscheinlich vom Highway aus an einem felsigen Küstenstreifen abgeworfen. Kannst du dir das vorstellen?”
Unglücklicherweise konnte Skye sich das sehr wohl vorstellen. “Wann?”
“Kurz nach Tagesanbruch.”
“Brauchst du Unterstützung, Jaz? Soll ich dich abholen?”
“Nein, ich kann fahren. Ich möchte meinen Wagen nicht dort lassen. Außerdem machen wir das doch schon ziemlich lange, oder? Langsam gewöhne ich mich an das Schlimmste. Was mich am meisten fertig macht und worüber ich nie hinwegkommen werde, ist diese Sinnlosigkeit. Warum? Warum muss jemand einem Kind so etwas antun?”
“Das ist die uralte Frage”, sagte Skye. “Wisst ihr, wer es war?”
“Noch nicht, aber ich habe ein Profil erstellt. Der Rest liegt jetzt in den Händen des FBI und der örtlichen Polizei. Ich kann genauso gut wieder abfahren. Es gibt jede Menge Arbeit für mich.”
“Das kann warten, wenn du noch Zeit brauchst.”
“Es kann nicht warten. Alle Fälle sind so … kritisch.”
Und deshalb schlauchte die Arbeit bei The Last Stand dermaßen. Es war immer wieder erschütternd, aufregend, aber auch lohnend und dankbar. Das emotionale Pendel schlug weit aus. “Vielleicht solltest du eine Pause einlegen.”
“Ich möchte mich lieber ablenken.” Wieder entstand ein kurzes Schweigen, bis Jasmine sich wieder gefasst hatte. “Ich rufe dich an, wenn ich wieder da bin.”
“Okay, tu das.”
“Bis bald.”
Jasmine legte auf, und Skye blieb an ihrem Schreibtisch sitzen und starrte die Wand an. Dort hingen mehrere Fotos von bekannten Serienmördern – Ted Bundy, Son of Sam, Leonard Lake. Sie sahen alle so normal aus. Genau deshalb hatte sie die Bilder aufgehängt: Um sich daran zu erinnern, dass diese Monster rein äußerlich einen ganz harmlosen Eindruck machten.
Sie griff in ihre Schublade und holte ein weiteres Foto heraus. Sie hatte es nicht über sich gebracht, es auch an ihrer Wand zu befestigen. Ein Reporter hatte es einem Verwandten von Burke abgeschwatzt und einen Tag nach der Gerichtsverhandlung veröffentlicht. Es zeigte ihn als Zehnjährigen, sauber und ordentlich gekämmt in einem Anzug und mit Krawatte. Er war für sein Alter ziemlich klein, ein süßer Junge. Deshalb hatte Skye das Foto aus der Zeitung herausgeschnitten. Mehr als bei den anderen erinnerte es sie daran, dass die Täter aus allen Reihen kamen. Sogar aus kleinen Jungen mit anständigen Eltern konnten gewissenlose Kriminelle werden, die jeden vernichteten, der ihnen nicht passte.
“Du wirst am Ende nicht gewinnen”, flüsterte sie, während sie das grobkörnige Foto des Jungen betrachtete. Doch als sie zum Kalender blickte, überlief sie ein kalter Schauder.
Es war Mittwochnachmittag. Burke wurde am Freitag entlassen.
Oliver lag in seiner Schlafkoje und starrte an die Decke, während sein Zellnachbar unter ihm schnarchte. Wie ein konstanter Klangteppich tönten die Schritte auf Betonboden, hin und wieder ein Stöhnen, mal leise, mal laute Gesprächsfetzen zu ihm herüber. Aber diese Geräusche, die Kälte und die zugige Luft, schwer von strengen Körpergerüchen, würden nicht mehr lange sein Leben bestimmen. Es war fast Donnerstag. Noch ein Tag, dann begann sein neues Leben – befreit aus den Tiefen der Hölle …
Er konnte es kaum fassen, dass dieses quälende Warten nun ein Ende haben sollte. Für den Rest der Zeit musste er sich nur von Victor fernhalten. Jetzt, wo es nicht mehr lange dauerte, glaubte Oliver, das auch zu schaffen. Bis Freitag früh würde er einfach in seiner Zelle bleiben. Dann holte ihn Jane ab, und weg war er.
Victor konnte ihm gestohlen bleiben. Er konnte ihm nichts antun.
Oliver schloss die Augen und stellte sich vor, wie seine Frau ihn freudig begrüßte. Drei Jahre auf einen Mann zu warten, war eine sehr lange Zeit. Aber Jane war auch eine unglaubliche Frau. Skye hatte ihm so viel genommen, doch nicht seine Jane – oder seine Tochter Kate. Sie war gerade sieben geworden.
Oliver holte seine Taschenlampe vor – Gefangene, die nicht verhaltensauffällig wurden und so viel für die Gefängnisgemeinschaft taten wie er, durften sich besser ausstatten als die anderen. Er zog sich die Decke über den Kopf und las sich seine im Geheimcode verfassten Notizen durch. Inzwischen war er mit dem Code so vertraut, dass er den Schlüssel dafür nicht mehr brauchte. Er kannte ihn auswendig.
Sein Zellnachbar schnaufte und rollte sich zur Seite. “Verdammt noch mal, Ollie, schlaf jetzt. Was machst du denn da oben? Holst du dir schon wieder einen runter?”
Oliver achtete nicht auf ihn. Und wenn er sich einen hätte runterholen wollen, dann wäre das sein gutes Recht. Das war jedenfalls besser als die anderen Möglichkeiten, die sich ihm zurzeit boten. Aufgrund seiner Statur und seiner freundlichen Art war er eine richtige Attraktion bei den Männern im Gefängnis, aber diese homosexuellen Erlebnisse ekelten ihn mehr an, als dass sie ihn befriedigten. Bis auf die Geschichte mit Larry. Er hatte Larry eines Tages in der Bibliothek kennengelernt. Sie hatten vieles gemeinsam – mochten dieselben Bücher und dieselbe Musik. Larry war ein sanfter, ruhiger Typ, und er schaffte es, Oliver das Gefühl zu vermitteln, dass er etwas darstellte. Letztendlich war er dann aber auch eine große Enttäuschung gewesen. Manchmal bereute Oliver, was er Larry angetan hatte. Manchmal vermisste er ihn mehr als Jane.
Er versuchte, nicht mehr an Larry zu denken, und blätterte ein paar Seiten in seinem Notizblock zurück. Zügig las er den codierten Text, den er geschrieben hatte, noch einmal durch. Er hatte sich diese Verschlüsselung vor vielen Jahren ausgedacht. Auf diese Weise konnte er seine Gedanken aufschreiben, ohne zu befürchten, dass es jemand las, dem es in die Hände fiel. Als er zehn gewesen war, hatte er bereits damit angefangen. Doch diese einfache Übersetzung des Alphabets war im Laufe der Jahre immer ausgefeilter geworden. Inzwischen hatte er noch Zahlen und sogar geometrische Figuren in das Ziffernsystem eingebaut. Er bezweifelte, dass es vielen Leuten gelang, diesen Code zu knacken – in San Quentin sowieso nicht. Jane hatte es natürlich auch nie herausgefunden. Doch für den Fall des Falles bezeichnete er Personen nur mit deren Initialen. Diejenigen, die das zweifelhafte Vergnügen hatten, von ihm genannt zu werden, erschienen nicht mit ihrem vollständigen Namen. Leute wie Detective Willis. Oder die Lehrerin Mrs. Grady, die Jane wegen Kates Benehmen in letzter Zeit so viel Ärger machte. Und allen voran Miranda Dodge. Er hatte sich bei ihr immer noch nicht richtig für die Abfuhr bedankt; sie nagte auch jetzt noch an ihm.
Aber nur, weil er sich bei ihr nicht so recht entscheiden konnte. Welche Strafe wäre die beste? Er wollte immer noch mit ihr zusammensein. Wenn sie ihm nur eine kleine Chance gäbe, dann würde er ihr zeigen, was für ein guter Freund und leidenschaftlicher Liebhaber er sein konnte. Irgendwie fand er schon immer, dass sie zusammengehörten. Seit dem ersten Tag in der Schule, als sie in die fünfte Klasse gekommen war. Mit ihrem kastanienbraunen Haar, das sie mit diesen hübschen roten Spangen zurückgesteckt hatte.
Er könnte ihr tatsächlich vergeben. Wenn sie ihm die Gelegenheit dazu gäbe.
Skye war etwas anderes. Er hasste sie wie niemand anderen. Sie hatte ihn so ungerecht behandelt! War zur Polizei gegangen, um gegen ihn auszusagen. Hatte vor Freude und Erleichterung geweint, als sie ihn ins Gefängnis gebracht hatten. Es war eine Schande, wie sie sich in der Öffentlichkeit verhielt und über das sprach, was er getan hatte. Er bezweifelte, dass sie irgendwann damit aufhören würde. Sie hatte aus ihrem kleinen Gerangel ja ein richtiges Geschäft gemacht.
Wenigstens hatte sie ihm im Gefängnis so einiges zum Fantasieren gegeben. Er schloss die Augen, erlebte in Gedanken noch einmal den aufregenden Augenblick, als er sie durchs Fenster beobachtete. Wie sie von einem Zimmer ins andere ging … Sah sie wieder vor sich, wie sie telefonierte, lachte, das lange Haar im Nacken anhob. Erinnerte sich, wie er den Schlüssel aus dem Versteck holte, die Tür leise aufschloss und hineinging …
Schwer atmend schob er eine Hand in seine Shorts. Erneut spürte er die Anspannung, die Angst und die Aufregung, die zusammen seine Nerven zum Vibrieren brachten. Er musste Skye haben, musste ihr wehtun.
Ein Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit. Er stellte sich vor, wie er ihr das Messer an die Kehle drückte, damit sie stillhielt, während er sie berührte. Wie sie die Augen vor Angst verdrehte, ihn anbettelte, sie loszulassen. Ihre Hilflosigkeit war das Beste an allem gewesen. Irgendwie befriedigte das einen inneren Drang in ihm, den er zwar nicht richtig verstand, aber auch nicht ignorieren konnte. Er wollte sie bestrafen, wollte sie kneifen, kratzen, sogar beißen.
Skye … Skye … Skye …, ging es ihm immer wieder durch den Kopf. Aber erst, als er sie vor Schmerz und Panik schreien hörte, vollkommen gebrochen, da kam endlich das wunderbar erlösende Zucken.
“Deine Frau stört das nicht?”, bemerkte sein Zellnachbar, als alles zu Ende war.
Oliver hatte sich so von seinen Erinnerungen an Skye mitreißen lassen, dass er T.J. völlig vergessen hatte. Er blieb unbeweglich liegen, während er sich erholte, und überlegte, was er antworten sollte.
“Jeder Mann hat seine Fantasien”, sagte er schließlich.
“Du bist ja wie besessen, das kann einem ja Angst einjagen. Jeden Abend hechelst du von dieser Skye.”
“Tu ich nicht.” Aber das Wissen, dass er bald seine Rechnung bei ihr begleichen konnte, hatte die Fantasie heute Abend zu einem noch intensiveren Erlebnis gemacht. “Wir haben noch eine Rechnung offen.”
T.J. lachte aus tiefer Kehle. “Wenn du dich wieder auf sie stürzt, bekommst du lebenslänglich.”
Sie würden ihn nicht erwischen. Dafür sorgte er schon. Wenn diese verfluchte Schere nicht gewesen wäre, hätten sie ihn auch das letzte Mal nicht geschnappt. Willis verdächtigte ihn, diese beiden anderen Frauen getötet zu haben – junge Frauen, die nicht hätten sterben müssen, wenn sie sich anständig benommen hätten. Oliver fühlte sich schlecht wegen Meredith. Aber der Detective war nicht in der Lage, etwas zu unternehmen, denn er hatte keinen einzigen Beweis hinterlassen. “Ich werde sie nicht anrühren.”
“Natürlich wirst du das.”
Oliver erwiderte nichts darauf. T.J. sollte sich wieder schlafen legen und ihn in Ruhe lassen. Aber der Wunsch erfüllte sich nicht. Das Bett knarrte und raschelte, als T.J. sich auf den Rücken rollte. Sein Tonfall klang jetzt viel freundlicher.
“Hey, Oliver.”
“Was ist?” Er hasste T.J. fast genauso wie Vic.
“Diese ganze Stöhnerei hat mich angetörnt, Mann. Warum hilfst du mir nicht dabei, das Problem zu beheben? Sozusagen als Abschiedsgeschenk.”
Oliver griff nach dem Stift. Er wusste, was “das Problem beheben” bedeutete. Als T.J.s “Schlampe” hatte er ihm schon zuvor sexuelle Dienste erwiesen. Das war die einzige Möglichkeit, sich einen Beschützer zu sichern, und er brauchte T.J. gerade mehr als jemals zuvor.
Es machte ihn wütend, so hilflos zu sein, so in die Enge getrieben. “Hat mich im Gefängnis gezwungen, ihm zu Diensten zu sein”, schrieb er neben T.J.s Initialen. Es war nicht das erste Mal, dass er so etwas aufschrieb. Wenn er es notierte, konnte er etwas von seiner Wut kompensieren. Er führte gern Buch. Wenn er dann die Rechnung beglich, konnte er die Eintragung durchstreichen, was seinen Sieg noch bedeutungsvoller machte.
“Komm schon”, drängte T.J.
“Wirst du mir Vic und seine Freunde vom Leib halten, bis ich hier rauskomme?”, fragte Oliver, obwohl er wusste, dass er keine Wahl hatte.
“Mach den besten Job, den du jemals gemacht hast, und Vic wird dich nicht anrühren.”
Oliver legte sein kostbares Notizbuch beiseite, stand auf und säuberte sich mit ein paar Blatt von dem dünnen, billigen Toilettenpapier, mit dem der Staat sie versorgte. Dann warf er einen Blick durch die Gitterstäbe an der oberen Schussplanke gegenüber der Reihe von Käfigen. Die Wächter, die dort postiert waren, hatten den Befehl, auf jede Art von sexuellen Aktivitäten zu achten. Theoretisch waren sie auch angehalten, diese dann zu unterbrechen. Aber diese Regel zu befolgen, war nicht besonders hilfreich. Wenn sie sich streng danach richten würden, müssten sie irgendwann jeden der Typen hier in eine Einzelzelle sperren, und so viele hatten sie gar nicht. Wenn nicht gerade jemand “Vergewaltigung!” rief, drückten sie für gewöhnlich ein Auge zu.
Doch um jemanden zu vergewaltigen, musste man nicht unbedingt immer rohe Gewalt anwenden.
Der diensthabende Wärter schien nicht zu bemerken, dass Oliver sein Bett verlassen hatte, oder es war ihm egal. Er marschierte die Schussplanke entlang, blieb stehen und rückte seine Maschinenpistole zurecht. Dann wandte er sich um und lief in die andere Richtung.
Sicher, dass sie nicht gestört werden würden, kniete sich Oliver neben T.J.s Bett. Es zählte nicht mehr, was er hier in den nächsten Minuten durchmachte. Das Warten hatte bald ein Ende …