EPILOG
Grace lag auf dem Rücken unter den großen Eichen im Garten der Archers, der jetzt auch ihr Garten war, und schaute hinauf in die Sonne, deren Strahlen durch das Blattwerk funkelten. Der Winter war ungewöhnlich mild, und jetzt, am Ende der kalten Jahreszeit, hatte man bereits das Gefühl, dass der Frühling vor der Tür stand. Kennedy hatte sich aus dem Rennen um das Bürgermeisteramt zurückgezogen, um mehr Zeit für seine Familie zu haben. Er schien es nicht zu bereuen, vor allem jetzt, wo klar war, dass die Chemotherapie bei seinem Vater erfolgreich verlaufen war.
“Wie alt wird Opa denn heute?”, fragte Teddy.
“Sechzig”, sagte Kennedy. Er war gerade damit beschäftigt, die Glyzinien an der Terrasse zurückzuschneiden. Teddy und Heath lagen neben Grace auf dem Rasen, immer noch erschöpft von einem Wettlauf rund ums Haus.
“Oh. Das ist aber ganz schön alt.”
Sie erwarteten Kennedys Eltern, um mit ihnen den Geburtstag zu feiern. Grace musste gleich mit dem Kochen anfangen, außerdem wollte sie noch einiges im Haus in Ordnung bringen. Molly würde wahrscheinlich nach dem Valentinstag zu Besuch kommen, aber es war nicht ganz einfach für sie, sich von ihren Kindern frei zu machen.
“Gott sei Dank wird er wohl auch noch sehr viel älter werden”, sagte Kennedy.
“Geht es ihm wieder gut?”, fragte Heath.
Kennedy schnitt einen dicken Zweig durch, und es knackte laut. “Die Ärzte sagen, die Symptome seien abgeklungen, und das bedeutet, dass es erst mal ganz gut aussieht.”
“Darf ich mal das Baby fühlen?”, fragte Teddy und kroch ein Stück näher an Grace heran.
Grace lachte. Er fragte fast jeden Tag, ob er seine Hand auf ihren Bauch legen durfte. “Im Moment bewegt es sich nicht.”
“Wie groß wird es denn noch?”
“Schon bald könnte sie zwei Kilo wiegen”, sagte Kennedy.
Heath schaute seinen Vater erstaunt an. “Woher weißt du denn, dass es ein Mädchen ist?”
“Ich hab’s mir nur so vorgestellt”, sagte Kennedy, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. “Wünscht ihr euch nicht eine kleine Schwester?”
“Wenn sie mit uns Ball spielt, ja”, sagte Heath.
“Ja. Sie muss mit uns Sport machen, dann ist es okay”, meinte Teddy.
Grace legte sich eine Hand auf den Bauch. Sie war genauso aufgeregt wie alle anderen in der Familie.
“Aber das dauert ja ewig”, beschwerte sich Teddy.
Kennedy trug die abgeschnittenen Zweige zu einem Haufen auf dem Rasen. “Ihr habt auch mal so klein angefangen.”
“Und nun schaut euch mal an, was aus euch geworden ist”, fügte Grace hinzu.
Teddy kuschelte sich noch näher an sie heran. “War ich auch ganz klein, als ich im Bauch von meiner Mama war?”
“Hm-hm.” Sie fuhr ihm träumerisch mit der Hand durchs Haar und fragte sich, ob es wohl noch eine andere Frau gab auf dieser Welt, die so glücklich war wie sie in diesem Augenblick.
“Ich habe dreieinhalb Kilo gewogen, als ich geboren wurde”, sagte Heath und pirschte sich ebenfalls näher heran.
Grace lächelte ihrem Ältesten zu und wünschte sich, sie könnte diesen Augenblick einfangen und für immer festhalten. Teddy und Heath hatten sie sofort als ihre neue Mutter akzeptiert. Die meiste Zeit behandelten sie sie so, als hätten sie Angst, sie könnte wieder verschwinden, wenn sie sie nur ganz kurz aus den Augen ließen. Aber nach dem, was mit ihrer Mutter geschehen war, konnte sie das nur zu gut verstehen.
“Und was ist mit dir?”, fragte sie Teddy. “Wie viel hast du gewogen, als du geboren wurdest?”
Er zuckte mit den Schultern. “Weiß ich nicht.”
Kennedy schleppte weitere Äste zum Haufen. “Knapp drei Kilo.”
“In deinem Fotoalbum sind einige Bilder von dir als Baby”, sagte Grace. “Sollen wir euren Daddy bitten, eine Pause zu machen, damit wir reingehen und uns das ansehen können?”
Teddy setzte sich sofort auf. “Au ja!”
“Ich bin sowieso gleich fertig”, sagte Kennedy.
“Ich möchte aber erst noch was anderes sehen”, sagte Heath.
Grace sah zu, wie Heath sich auf den Ellbogen stützte und in den Himmel schaute. “Was suchst du denn?”
“Glaubst du wirklich, dass unsere Mom zu uns runterguckt?”
Grace schloss die Augen und spürte den sanften Wind über ihre Wangen gleiten. “Ja, das glaube ich”, sagte sie. “Ich kann sie nicht sehen, aber manchmal, wenn ich es ganz doll versuche, dann kann ich sie spüren. Könnt ihr das auch?”
“Manchmal”, sagte Heath.
“Glaubst du, sie hat jetzt Flügel wie der Engel, den ich gekauft habe?”
Die Statue, die Teddy von seinem Ersparten bezahlt hatte, stand nun auf dem Friedhof dicht bei Raelynns Grab. “Vielleicht”, sagte sie. “Wie auch immer, ich glaube, es geht ihr gut und sie ist glücklich. Sie hat sich bestimmt sehr über dein Geschenk gefreut.”
“Die Statue gefällt dir doch, oder?”, fragte Teddy.
Grace lächelte. Sie mochte sie wirklich. Sie war sehr geschmackvoll, aber vor allem gefiel ihr daran, dass es das Geschenk eines kleinen Jungen für seine Mutter war. “Sie ist eins von den Sachen, die ich am liebsten habe.”
Teddy freute sich und lächelte seinem Bruder zu. Der grinste fröhlich zurück.
“Was führt ihr beiden denn im Schilde?”, fragte Grace.
Teddy lächelte schüchtern. “Eigentlich soll es eine Überraschung werden, aber …”
“Nicht verraten!”, rief Kennedy, doch es war schon zu spät.
“Ich spare mit Teddy, damit wir noch eine für dich kaufen können”, stieß Heath begeistert hervor. “Dad meint, wir könnten die doch sehr gut hier in den Garten stellen.”
Grace spürte einen Kloß im Hals. Sie versuchte die Tränen zurückzuhalten, und küsste beide Jungen auf die Stirn. “Das ist ja ein wundervolles Geschenk. Vielen Dank!”
“Weinst du jetzt?”, fragte Heath.
“Das sind nur Freudentränen”, sagte sie und wischte sich über die Wangen.
Kennedy war mit seiner Arbeit fertig und kam zu ihr, um ihr hochzuhelfen. “Ich dachte mir schon, dass es dir gefallen würde. Aber die beiden haben sich das ganz allein ausgedacht.”
Ein Streifenwagen hielt in der Auffahrt an, und eine kleine dunkelhaarige Frau stieg aus. “Wohnt hier eine Grace Archer?”, fragte sie.
Grace wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. “Ja, bitte?”
Sie kam Grace entgegen, und sie trafen sich auf halbem Weg. Als sie einander gegenüberstanden, schob sie die Sonnenbrille so weit herunter, dass Grace ihre braunen Augen und die langen Wimpern sehen konnte. “Grace Archer, geborene Montgomery?”
“Ja.”
Sie streckte die Hand aus. “Ich bin Allie McCormick.”
Grace fühlte sich unbehaglich, als sie den Nachnamen hörte. Sie hatte versucht, ihre Mutter davon zu überzeugen, sich nicht mehr mit dem Polizeichef zu treffen. Früher oder später würde bestimmt jemand herausfinden, dass sie eine Affäre hatten. Irene hatte es versprochen, aber Grace war sich ziemlich sicher, dass die beiden immer noch herumturtelten. Wahrscheinlich hoffte ihre Mutter, dass McCormick ihretwegen eines Tages seine Frau verließ. Grace hingegen hoffte genau das Gegenteil. Natürlich wollte sie, dass ihre Mutter glücklich war, aber sie war nicht damit einverstanden, dass sie einer anderen Frau den Ehemann wegnahm. Außerdem konnte sie sich sehr gut ausmalen, was geschehen würde, wenn Joe und seine Familie von der Affäre Wind bekamen. Sie würden bestimmt behaupten, dass der Polizeichef befangen gewesen war, als er die Farm der Montgomerys durchsuchte. Und dann würde die ganze Sache wieder von vorn anfangen.
“Sind Sie vielleicht mit Chief McCormick verwandt?”, fragte sie und versuchte, ihr plötzliches Unbehagen zu vertuschen.
“Ich bin seine Tochter. Ich war auch auf der Highschool. Anderer Jahrgang, aber ich kann mich noch ganz gut an Sie erinnern.”
Grace wusste nicht, wo sie die Frau einordnen sollte, aber sie hatte ohnehin sehr viel aus jener Zeit absichtlich vergessen. “Freut mich, Sie kennenzulernen”, sagte sie.
Allie McCormick schaute sich um. “Das Haus war schon immer ein Traum, aber Sie haben es geschafft, es noch schöner zu machen.”
“Vielen Dank.” Grace bemerkte ihr Polizeiabzeichen. “Sie arbeiten also für Ihren Vater”, stellte sie fest.
Allie lächelte sie an. “Verbrechensbekämpfung scheint uns im Blut zu liegen. Vor seiner Pensionierung war mein Großvater bei der Kriminalpolizei in Nashville. Mein Onkel ist bei der Autobahnpolizei in Kalifornien, und mein Bruder ist Sheriff in Florida.”
Warum erzählte sie ihr das alles? Grace spürte, wie Kennedy nach ihrer Hand griff. Ganz offensichtlich wollte auch er gern wissen, was dieser Auftritt zu bedeuten hatte. Er fragte höflich, aber bestimmt: “Was können wir denn für Sie tun?”
Allie McCormick schob die Sonnenbrille wieder nach oben. “Ich bin zurück in der Stadt und dachte mir, es kann nicht schaden, mal vorbeizukommen und meine Karte dazulassen. Ich war eine Zeit lang in Chicago und habe dort ungelöste Fälle wieder aufgegriffen, und nun …”
“Ungelöste Fälle?” Grace hoffte, dass ihre Stimme nicht so zittrig klang, wie sie sich fühlte.
“Ja, genau. Ich habe ungelöste Fälle wieder aufgerollt und, wenn alles gut ging, gelöst. Es war ziemlich anstrengend, aber es hat auch Spaß gemacht. Für einen Kriminalisten gibt es nichts Befriedigenderes, als einen Fall zu lösen, an dem sich die Kollegen zehn, zwanzig oder dreißig Jahre lang die Zähne ausgebissen haben.”
“Das glaube ich Ihnen aufs Wort.”
Allie McCormick legte Teddy eine Hand aufs Haar. Die beiden Jungs waren immer näher gerückt, nachdem sie festgestellt hatten, dass sie eine Pistole bei sich trug. “Ich habe gehört, dass Sie Staatsanwältin sind”, sagte sie.
“Ja, das ist richtig.”
“Dann vermute ich mal, dass es für Sie bestimmt ziemlich unbefriedigend ist, dass die Umstände, die zum Verschwinden ihres Stiefvaters geführt haben, noch immer nicht aufgeklärt wurden.”
“Es ist ein ziemlich … schwieriger Fall”, schaltete Kennedy sich ein.
“Deshalb bin ich jetzt hier. Ich wollte Ihnen mitteilen, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, um diese offenen Fragen für Sie zu beantworten.”
“Das ist sehr nett”, murmelte Grace benommen.
Allie McCormick schob sich eine widerspenstige Strähne hinters Ohr. “Ihre Stiefschwester Madeline ist zu mir aufs Revier gekommen und hat mich gebeten, den Fall noch einmal gründlich unter die Lupe zu nehmen.”
“Der Fall wird also neu aufgerollt?”, fragte Kennedy.
Innerlich zuckte Grace zusammen wie unter einem Peitschenhieb.
“Nein, nicht offiziell. Ich beschäftige mich einfach ein bisschen in meiner Freizeit damit.”
“Es kann natürlich gut sein, dass Sie Ihre Zeit damit verschwenden”, wandte Grace ein.
“Das macht nichts. Ich arbeite gern an solchen Sachen. Manchmal helfen einem ganz kleine, scheinbar unnütze Hinweise weiter, sogar solche, die keinen direkten Bezug zum Fall haben.” Sie griff in ihre Tasche und holte eine Karte hervor. “Das ist meine Telefonnummer. Falls Ihnen irgendwas Neues dazu einfällt.”
Grace nahm die Karte entgegen. “Das ist jetzt schon achtzehn Jahre her. Wieso glauben Sie, wir könnten uns nach so langer Zeit an etwas Neues erinnern?”
“Das weiß man nie. Es sind schon die merkwürdigsten Dinge passiert.” Sie lächelte sie so freundlich an, dass Grace davon ausging, dass sie nichts von Irenes Affäre wusste. “Einem interessanten Kriminalfall kann ich einfach nicht widerstehen. Das geht Ihnen doch bestimmt auch so?”
– ENDE –