9. KAPITEL
Grace öffnete die Tür. Sie trug eine weiße Baumwollbluse, die ihre Bräune zur Geltung brachte, dazu einen rot, orange und pinkfarbenen Rock und ein Goldkettchen um das Fußgelenk. Sie war barfuß, und Kennedy bemerkte, dass sie ihre Fußnägel rosa lackiert hatte. Ihre Füße waren klein und zierlich, und er hätte gern einfach weiter zu Boden geblickt, statt ihr ins Gesicht zu sehen, in dem die Schrammen der letzten Nacht noch zu sehen waren. Sie starrte ihn misstrauisch an. Trotzdem wollte er das tun, was er sich vorgenommen hatte. Er wollte sich entschuldigen. Auch wenn erst Teddy ihn dazu gebracht hatte, sich endlich dazu aufzuraffen, war er froh über seinen Entschluss.
“Hallo.” Er hatte die Krawatte gelockert und die Hände in die Hosentaschen gesteckt. Jetzt trat er außerdem noch einen Schritt zurück, um ihr zu signalisieren, dass sie sich nicht bedrängt fühlen sollte.
Sie stand wachsam neben der Tür, als rechnete sie jeden Moment damit, ihm ins Gesicht schlagen zu müssen. Wie sollte er ihr klarmachen, dass sie vor ihm keine Angst zu haben brauchte?
“Hallo”, erwiderte sie, und es klang sehr unbestimmt und keineswegs einladend.
Kennedy versuchte ein charmantes Lächeln und drehte den Kopf Richtung Verkaufsstand. “Du bist ja ganz schön aktiv gewesen. Gibt’s noch Pfirsiche?”
Sie warf einen kurzen Blick auf den Verkaufsstand und fragte argwöhnisch: “Du bist doch nicht wegen der Pfirsiche gekommen, oder?”
“Eigentlich nicht”, gab er zu.
Sie strich sich mit einer Hand durch das lange dunkle Haar, dass ihr auf die Schultern fiel. “Du bist wegen gestern Abend gekommen.”
“Nein.”
Sie schien erstaunt.
“Es geht um Teddy. Er hat mich vor ein paar Minuten angerufen.”
Sie holte tief Luft und sagte: “Es tut mir leid, ich wollte ihm nicht wehtun. Ich hatte nicht vor, meine Vorbehalte gegen dich und deine Freunde an dem Jungen auszulassen.”
Er zuckte zusammen. Verabscheute sie ihn so sehr, dass es ihr schwerfiel, ihre Abneigung im Zaum zu halten?
“Ich hätte ihn gar nicht reingelassen, wenn ich das gewusst hätte”, fügte sie hinzu, offenbar um ihm klarzumachen, dass sie diesen Fehler aus Unwissenheit begangen hatte. “Aber er wird schon drüber hinwegkommen. Wir kennen uns ja kaum. Erzähl ihm doch einfach … irgendwas … dass ich kein guter Umgang für ihn bin. Ich kann den Stand ja für ein, zwei Wochen abbauen. Dann quält er sich nicht so sehr.”
Kennedy trat ein paar Schritte vor und legte die Hand auf die Tür. Zu seiner großen Überraschung schob sie sie nicht zu.
“Grace, es tut mir leid.”
Sie trat einen Schritt zurück. “Warum denn? Teddy hat doch nichts Schlimmes gemacht.”
“Ich spreche nicht von Teddy. Ich habe ihm erlaubt, hierherzukommen. Ich dachte, er hätte dir gesagt, dass er mein Sohn ist. Aber was ich eigentlich sagen will: Ich schäme mich für das, was ich damals getan habe – und für das, was ich nicht getan habe, damals in der Schule.”
“Ich möchte nicht darüber sprechen”, sagte sie. “Was geschehen ist, ist geschehen. Du kannst dir deine tollen Urkunden anschauen, die du in der Football- oder Basketball-Mannschaft bekommen hast, und wahrscheinlich gibt es jede Menge Fotos von der Abschlussfeier, auf denen du freundlich lächelst … Ich habe so etwas nicht. Ich war naiv und verzweifelt und …” Sie brach ab. “Ich will das alles am liebsten vergessen.”
“Bedeutet das, dass du mir nicht verzeihen kannst?”, fragte er.
Sie schaute nachdenklich an ihm vorbei. Dann sah sie ihm direkt ins Gesicht und fragte unvermittelt: “Gibst du mir zurück, was du gestern Abend gefunden hast?”
Was sollte er dazu sagen? Falls sie etwas mit dem Tod des Reverends zu tun hatte und er ihr die Bibel zurückgab, machte er sich der Unterschlagung von Beweismitteln schuldig. Doch wenn er es der Polizei übergab, würde Grace zweifellos erneut leiden. Behalten konnte er das Buch aber auch nicht. Er wollte nichts damit zu tun haben. Wenn jemand es bei ihm fand, würde er erklären müssen, woher es stammte.
Konnte er ihr vertrauen? Er konnte ihr keine Antwort auf ihre Frage geben, noch nicht. Zuerst musste er sie besser kennenlernen. “Willst du nicht mit mir und den Jungs zum Zelten fahren am Wochenende?”
Sie riss erstaunt die Augen auf. “Wie bitte?”
“Teddy würde sich riesig freuen.” Er selbst auch, aber er glaubte nicht, dass sie ihm das abnehmen würde.
“Nein, natürlich nicht”, sagte sie. “Es sei denn …” Sie hielt inne und senkte die Stimme. “Es sei denn, das soll so eine Art Tauschgeschäft sein.”
“Im Tausch gegen die Bibel?”, fragte er und hasste sich für diese Bemerkung. Normalerweise hatte er es nicht nötig, Frauen zu bestechen, damit sie ihre Zeit mit ihm verbrachten. Aber er wollte Grace besser verstehen, um herauszufinden, wie er sich weiterhin verhalten sollte.
“Gibst du sie mir zurück, wenn ich am Wochenende mitkomme?”
Vielleicht würde er das kleine Buch mitnehmen und es ihr dort überreichen; schließlich wären sie ganz unter sich. Allerdings wollte er ihr nichts versprechen.
“Kommt drauf an.”
“Auf was?”
“Darauf, wie es so läuft.”
Sie verzog angewidert das Gesicht. “Du bist ja noch schlimmer als Joe.”
“Was soll das denn heißen?”
“Was das heißen soll? Das kann ich dir sagen: Ich werde ganz bestimmt nicht mit dir schlafen, Kennedy. Nicht um alles in der Welt.”
“Aber das wollte ich doch damit überhaupt nicht …” Jetzt erst wurde ihm klar, was sie ihm da an den Kopf geworfen hatte. “Na toll. Du hast ja wirklich die seltene Gabe, jemanden fertigzumachen, weißt du das? Wäre es wirklich so ekelhaft, wenn du mit mir schlafen würdest?”
“Ich werde mich dir bestimmt nicht ausliefern. Es ist mir egal, ob du der nächste Präsident der Vereinigten Staaten wirst oder sonst was. Diese Zeiten sind vorbei.”
“Ich wollte doch gar nicht …” Kennedy hielt inne. “Ich verlange doch gar nicht, dass du mit mir schläfst. Wir wollen einfach nur zusammen zelten, okay? Es dauert drei Tage und zwei Nächte. Die Jungs werden dabei sein. Und du bekommst dein eigenes Zelt.”
Sie entspannte sich ein wenig. “Also geht es vor allem um Teddy?”
“Mehr oder weniger.”
“Und du fasst mich nicht an?”
Er ließ seinen Blick über ihr Gesicht gleiten. “Nicht, wenn du es nicht willst.”
“Und du wirst mir die Bibel zurückgeben?”
Wenn sie ihm erklärte, was es damit auf sich hatte … “Vielleicht.”
Vielleicht war besser als gar nichts. Immerhin war dies die einzige Möglichkeit, sie zurückzubekommen. Das schien sie jetzt auch einzusehen und sagte: “Okay. Ich komme mit.”
“Gut.” Er ging zurück zur Einfahrt und drehte sich noch mal um, als er seinen Wagen erreicht hatte. “Ich hole dich dann um acht Uhr morgen früh ab.”
“Soll ich etwas zu essen vorbereiten?”
“Nein, darum kümmere ich mich schon”, sagte er und stieg ein.
Grace sah durchs Fenster zu, wie Kennedy Archer wegfuhr. Ein Campingausflug. Er hatte sie eingeladen. Trotzdem war sie sich nicht sicher, ob es eine so gute Idee war, mitzukommen und mit ihm und seinen Söhnen durch die Wälder zu streifen. Seine Gegenwart rief eigenartige Reaktionen in ihr hervor: Einerseits fühlte sie sich zu ihm hingezogen, andererseits schämte sie sich und war ebenso verbittert wie wütend, wenn sie an die Erniedrigungen der Schulzeit zurückdachte. Er würde sich ihr nicht nähern, wenn sie das nicht wollte. Und sie musste unbedingt diese Bibel wieder zurückbekommen.
Abgesehen davon hatte sie Gewissensbisse wegen Teddy. Er war viel zu jung, um die komplizierten Gefühle zu verstehen, die sie überwältigten, wenn es um seinen Vater ging. Dass sie ihn ablehnte, weil er ein Archer war, hatte er als ganz persönliche Zurückweisung empfunden.
Ihr Handy klingelte. Sie wandte sich vom Fenster ab und nahm hastig den Apparat in die Hand, in der Hoffnung, dass George endlich zurückrief. Seit ihrem morgendlichen Telefonat hatte er sich nicht mehr gemeldet.
“Gibt’s was Neues über das, was gestern Abend verloren gegangen ist?”, fragte Clay.
Grace versuchte ihre Enttäuschung zu unterdrücken. “Kennedy Archer hat es.”
“Hat er es dir gesagt?”
“Ja, hat er.”
Langes Schweigen am anderen Ende. “Hat er es der Polizei übergeben?”
“Noch nicht. So wie es aussieht, will er es wohl mir zurückgeben.”
“Soll das ein Witz sein?”
“Nein.”
Grace hörte, wie Clay den Fernseher leiser drehte, der im Hintergrund zu hören gewesen war. “Warum sollte er das tun?”
“Ich weiß noch nicht genau. Aber ich kann’s dir am Montag vielleicht erklären.”
“Was soll denn an diesem Wochenende noch passieren?”
“Ich gehe mit ihm zelten.”
Es wurde still am anderen Ende, dann wiederholte ihr Bruder: “Du gehst zelten mit Kennedy Archer?”
“Es ist verrückt, ich weiß.”
“Und was ist mit George?”
Die Sonne schien grell ins Zimmer. Grace schloss die Jalousie. “Hat Mom dir von ihm erzählt?”
“Ja, und Molly auch. Sie sagten, du würdest ihn heiraten. Du glaubst wohl, ich weiß überhaupt nichts von dir.”
George hatte sich zuletzt so eigenartig verhalten, dass sie nicht sicher war, ob sie noch zusammen waren.
“Ich glaube, wir haben uns getrennt”, sagte sie.
“Du glaubst es nur?”
“Ja, aber wenn ich mit Kennedy Archer zelten fahre, hat das nichts damit zu tun.”
“Nein? Bist du sicher?”
“Es ist doch nur ein Ausflug mit seinen Kindern.”
“Ich kann mir nicht vorstellen, dass Kennedy Archer dich zum Zelten mitnimmt, ohne sich für dich zu interessieren.”
“Sein jüngster Sohn Teddy hat mich immer besucht. Um ihn geht es eigentlich.”
Clay lachte ungläubig vor sich hin. “Na, wenn du meinst. Ruf mich an, wenn du wieder zurück bist. Ich bin gespannt, was du mir dann erzählst.”
“Erzähl bitte niemandem, was ich vorhabe”, sagte sie. “Das mit Kennedy muss niemand wissen. Es wird leichter sein, die Bibel zurückzukriegen, wenn die Angelegenheit ohne großes Aufsehen über die Bühne geht.”
“Und was willst du Madeline und Mom erzählen?”
“Ich erzähl ihnen einfach, dass ich nach Jackson fahre und mich mit George treffe.”
“Das dürfte das Beste sein. Wir sprechen uns dann später wieder.”
“Warte noch.”
“Was denn?”
“Wenn Kennedy mir die Bibel zurückgibt und verspricht, den Mund zu halten, sollten wir dann nicht …” Sie räusperte sich. “… die Sache … über die wir gesprochen haben, wegbringen?”
“Nein.”
“Aber auf diese Weise wäre jede Verbindung zu uns getilgt, selbst wenn … es … gefunden werden sollte.”
“Wir müssen vorsichtig sein. Wir können nicht einfach anfangen, hier herumzubuddeln! Kümmere du dich um die Bibel, okay?”
Wie war das nun wieder gemeint? “Bist du sicher, dass es das Richtig…”
“Absolut.”
Sie seufzte. “Na gut.”
Dann hörte sie nur noch das Freizeichen. Sie starrte das Handy nachdenklich an, überlegte, ob sie bei George anrufen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Keine Panik, Grace. Es kann tausend Gründe geben, warum er sich nicht meldet.
Aber tief in ihrem Herzen ahnte sie, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte das deutliche Gefühl, dass er sich von ihr losgesagt hatte.
Als Kennedy im Haus seiner Eltern ankam, fragte Teddy ihn glücklicherweise nicht aus über seinen Besuch bei Grace. Sein Sohn sagte nur leise: “Hast du es gemacht?”, und Kennedy nickte. Kennedys Mutter, die gerade am Waschbecken stand und Kartoffeln schälte, drehte sich um und redete darüber, dass sie ja schon von Anfang an gewusst hätte, dass Grace bestimmt nicht sehr lange nett zu Teddy sein würde. An diesem Punkt sahen Kennedy und sein Sohn sich an, lächelten wissend und schwiegen.
Obwohl Kennedy es ablehnte, zum Abendessen zu bleiben, brauchte er fast eine Stunde, um die Kinder aus dem Haus zu lotsen. Zuerst musste er seiner Mutter helfen, einen neuen Drucker zu installieren. Dann sollte er für seinen Vater eine Jack-Nicholson-Biografie finden. So war es kein Wunder, dass die beiden Jungen furchtbar hungrig waren, als sie endlich loskamen, und sich auch noch die Klagen von ihrer Oma anhören mussten, die ein warmes Abendessen fertig hatte. Aber Kennedy wollte den Abend nutzen, um den Campingausflug vorzubereiten.
Sie erreichten die Hauptstraße, und Kennedy gab bekannt, dass Grace mit ihnen mitkommen würde.
Diese Nachricht ließ die über Hunger klagenden Jungs augenblicklich verstummen.
“Wirklich wahr?”, fragte Teddy schließlich in freudiger Erwartung.
“Sie hat es versprochen”, sagte Kennedy fröhlich und fühlte sich selbst ein bisschen wie ein kleiner Junge dabei.
“Wie hast du es bloß geschafft, sie zu überreden, Dad?”
Er hatte sie ein bisschen dazu erpresst, aber er tat es nicht aus niederen Motiven. Im Gegenteil, er hatte gute Gründe, denn er wollte die wahre Grace kennenlernen. Und dann musste er entscheiden, ob er noch auf der Seite seiner Mutter und der anderen stand, die sie ablehnten, oder ob er sich gegen sie entschied – um den Preis, dass er dann allein stand.
“Wann soll’s denn morgen losgehen?”, fragte Heath.
Kennedy bog auf den Parkplatz vor Rudy’s Big Burger. Er wollte heute Abend nicht noch kochen, es gab viel zu viel vorzubereiten. “Gleich morgen früh.”
“Yippie!”, rief Teddy aus.
Kennedy sah seinen älteren Sohn an. “Und was ist mit dir, Heath? Freust du dich nicht, dass sie mitkommt?”
Heath zögerte. “Oma findet das bestimmt nicht gut.”
Kennedy parkte ein. “Wir müssen Oma ja nicht alles haarklein erzählen, oder?”
“Nein.”
“Gut, dann behalten wir es erst mal für uns.”
“Okay”, sagte Heath und stieg aus.
Kennedy ging hinter seinen Söhnen auf den Eingang des Burger-Restaurants zu. Noch bevor er die Tür erreicht hatte, sah er, wie Buzz in seinem Wagen auf den Parkplatz einbog.
Sein bester Freund ließ das Fenster herunter und rief: “He!”
Kennedy versicherte sich, dass Teddy und Heath im Lokal angekommen waren, und ging zu Buzz, um ihn zu begrüßen. Als er näher kam, bemerkte er Joe auf dem Beifahrersitz. Seine Freude verflog.
“Na, wollt ihr euch ein paar Burger holen?”, fragte er.
“Nee, wir haben deinen Wagen gesehen und dachten, wir sagen mal kurz Hallo.”
“Kommt doch mit rein und setzt euch zu uns.”
“Geht nicht. Sarah hat Joe zum Abendessen eingeladen.” Buzz zwinkerte. “Und ihre Nichte Melinda kommt auch rüber.”
“Klingt nach Eheanbahnung.” Kennedy fragte sich, wie er es geschafft hatte, in Sarahs Augen nicht als potenzieller Heiratskandidat für ihre kürzlich geschiedene Nichte zu erscheinen, aber er war sehr dankbar dafür. Melinda war zu jung für ihn. Außerdem war er es leid, dass alle im Ort ständig darüber nachdachten, mit wem sie ihn zusammenbringen könnten.
“Sie hält mich für die perfekte Wahl.” Joe streckte sich auf seinem Sitz wohlig aus.
“Buzz ist wohl zu loyal, um die Wahrheit zu sagen, hm?” Das war einer der üblichen Scherze zwischen Kennedy und Joe. Sie neckten sich gern. Heute allerdings meinte Kennedy durchaus ernst, was er sagte.
Joe lachte fröhlich, aber Kennedy brachte nur ein halbherziges Grinsen zustande.
“Komm doch mit deinen Jungs mit. Sarah kocht sowieso immer für eine ganze Armee.”
“Daddy!”
Kennedy drehte sich um und sah Teddy aus dem Lokal kommen. Nachdem er sich versichert hatte, dass keine Autos in Reichweite waren, winkte er ihn zu sich und legte ihm die Hände auf die Schultern. Dann wandte er sich wieder an seine Freunde: “Danke für die Einladung, aber wir essen lieber hier.”
“Weißt du, was wir morgen machen, Buzz?”, fragte Teddy aufgeregt.
“Da bin ich aber gespannt. Was denn?”
“Wir fahren zum Camping!”
Kennedy packte seinen Sohn etwas fester an, um ihm zu signalisieren, dass er nicht zu viel erzählen sollte.
“Ihr fahrt zelten?”, fragte Joe sehr interessiert. “Wo soll’s denn hingehen?”
“Zum Pickwick-See”, sagte Kennedy, weil er wusste, dass Joe normalerweise ein ganzes Stück weiter fuhr.
“Warum denn zum Pickwick-See?”, wunderte sich Joe. “Da wart ihr doch schon so oft.”
Kennedy zuckte mit den Schultern. “Wir haben uns ganz spontan dazu entschlossen.”
“Habt ihr nicht Lust, zum Arkabutla-See zu fahren? Dann komme ich gern mit.”
Joe liebte nichts so sehr wie fischen und auf die Jagd zu gehen. Und da seine Freunde fast alle verheiratet waren, suchte er ständig nach Möglichkeiten, mit jemandem loszuziehen. Kennedy hatte aber nicht die geringste Lust, ihn mitzunehmen. Nach dem Vorfall in der Pizzeria konnte er sich ungefähr vorstellen, wie Grace auf die Anwesenheit von Joe reagieren würde. Deshalb sagte er: “Da fahren wir dann das nächste Mal hin.”
Buzz sah auf die Uhr. “Wir sollten lieber mal losgehen. Sarah ist bestimmt sauer, wenn wir zu spät kommen.”
Kennedy schlug zum Abschied mit der flachen Hand auf die Motorhaube. “Na dann viel Spaß und schöne Grüße an Sarah und die Kinder.”
“Geht klar.”
“Und sei nett zu Melinda, Joe”, fügte er hinzu.
“Meinst du mich?” Joe grinste ihn an. “Ich bin doch der Netteste von allen.”
Kennedy lachte. Als die beiden endlich davongefahren waren, seufzte er erleichtert. Ihm hätte gerade noch gefehlt, dass Joe herausfand, mit wem er und seine Jungs das Wochenende verbringen wollten. Der hätte sich doch das Maul darüber zerrissen.
Grace erwartete Kennedy und seine Söhne. Sie war nervös und spielte mit den Ringen an ihren Fingern. Gestern Abend hatte Madeline angerufen. Sie wäre gern vorbeigekommen, aber Grace hatte Kopfschmerzen vorgeschützt und behauptet, sie würde früh ins Bett gehen. Sie wollte nicht ihrer Stiefschwester gegenüberstehen und vorgeben müssen, dass sie in Jeds Werkstatt nichts mitgenommen hatte, wo sie sich doch nicht sicher war, ob sie diese Bibel wiederbekommen würde. Sie wollte nicht als Lügnerin dastehen. Auch mit ihrer Mutter wollte sie nicht sprechen. Sie hatte keine Lust, so zu tun, als gäbe es keinen Grund, sich über die Zukunft Sorgen zu machen. Bestimmt wäre ihre Mutter nur nervös geworden. Deswegen und weil alle in der Stadt darüber spekulierten, was es mit dem Einbruch von Madeline in Jeds Werkstatt wohl auf sich hatte, war Grace froh, für ein paar Tage rauszukommen.
Auch wenn sie dafür mit Kennedy Archer zusammen sein musste.
Sie fragte sich, worüber sie beide sich unterhalten sollten. In der Highschool hatte sie ihm oftmals sehnsüchtig hinterhergeblickt, wenn er den Flur entlanggegangen war. Oder sie hatte ihn heimlich von einer Ecke des Klassenzimmers aus beobachtet, wie er einen Arm um Raelynn legte, und sich gewünscht, sie könne an ihrer Stelle sein. Aber er hatte sie ja kaum bemerkt. Nun war sie wieder zurück, und das Erste, was er von ihr mitbekommen hatte, war, dass sie sich auf der Toilette der Pizzeria einschloss. Und zum zweiten Mal waren sie zusammengetroffen, nachdem sie einen Einbruch verübt hatte und geflüchtet war. Das waren nicht gerade die idealen Voraussetzungen für den Beginn einer Freundschaft.
Immerhin würde Teddy auch dabei sein. Ihn hatte sie ins Herz geschlossen. Sie hatte noch nie ein liebenswerteres Kind getroffen. Ihrer Meinung nach verdiente Kennedy diesen netten Jungen genauso wenig, wie er Raelynn verdient hatte. Aber das Leben war nun mal nicht fair, das hatte sie schon vor langer Zeit herausgefunden.
Sie hörte das Auto in die Einfahrt einbiegen und nahm die Tasche mit den Keksen, die sie gebacken hatte, und die andere mit den Toilettenartikeln, den Shorts, T-Shirts und Tennisschuhen, nicht zu vergessen die Sonnencreme und den Badeanzug. Allen in ihrer Familie bis auf Clay hatte sie mitgeteilt, dass sie übers Wochenende nach Jackson fuhr, um George zu sehen – der sich nicht wieder gemeldet hatte –, und deshalb musste sie schnell in Kennedys Wagen einsteigen, bevor jemand sie bemerkte.
Sie eilte zur Tür, damit Kennedy gar nicht erst aussteigen und anklopfen musste. Als sie sie aufzog, stand er schon davor, auf dem Gesicht ein entwaffnendes Lächeln. Beinahe vergaß sie, dass sie sich ja ganz fest vorgenommen hatte, ihn nicht zu mögen.
“Wahnsinn”, murmelte sie leise vor sich. “Ich bin ja wohl blind gewesen.”
Er schaute sie erstaunt an. “Was hast du gesagt?”
“Vergiss es.” Sie gab ihm ihre Taschen und schloss die Tür ab. Er blieb neben ihr stehen, warf einen missbilligenden Blick auf ihre Flip-Flops und sagte: “Du hast hoffentlich auch noch andere Schuhe eingepackt.”
Sie nickte und ging auf den Wagen zu, dann hielt sie an. “Das ist doch idiotisch”, sagte sie. “Ich sollte nicht mitkommen.”
“Warum nicht?”
“Ich verstehe gar nicht, was das soll.”
“Die meisten Leute fahren zelten, weil sie mal rauskommen und sich entspannen wollen.”
Sie wollte wirklich unbedingt weg hier. “Aber …”
“Es wird bestimmt schön”, sagte er. “Du willst doch meine Jungs jetzt nicht enttäuschen, oder?” Er ging zum Auto. Teddy lehnte schon mit dem ganzen Oberköper zum Fenster heraus. Ein anderer Junge saß neben ihm und reckte sich, um besser sehen zu können.
Sie seufzte. “Nein, natürlich nicht.”
“Prima.” Er ging um sie herum und brachte die Taschen zum Kofferraum. Dann kam er mit den Keksen zurück.
“Hallo Grace”, sagte Teddy, nachdem sie eingestiegen war.
Sie lächelte ihn an. “Hallo, Teddy.”
“Und das ist Heath.” Kennedy deutete auf seinen anderen Sohn, während er sich hinter das Lenkrad setzte. “Er ist zehn.”
“Noch so ein hübscher Junge”, sagte sie und bekam als Dankeschön ein schüchternes Lächeln.
Sie sahen alle ziemlich gut aus, stellte Grace fest. Vor allem Kennedy. Wenn die beiden Jungs erwachsen waren, würden sie ihrem Vater ähneln und zweifellos jede Menge Herzen brechen.
Sie seufzte unvermittelt auf und schaute durchs Seitenfenster nach draußen.
Kennedy strich ihr aufmunternd über den Arm. “Mach’s dir einfach erst mal gemütlich, okay?”
Sie warf ihm einen Blick zu und stellte fest, dass sein Lächeln einfach unwiderstehlich war. Sie lächelte zurück, schnallte sich an und nahm den Becher mit Kaffee entgegen, den er ihr reichte. “Vorsicht, heiß.”
“Danke.”
“Milch und Zucker sind da unten in der Tasche zu deinen Füßen.”
“Donuts haben wir auch noch dabei”, erklärte Teddy und hob eine große weiße Tüte hoch.
“Toll”, sagte sie.
“Wir haben schon überlegt, welche Sorte du wohl am liebsten magst”, sagte Teddy.
Natürlich war er der festen Überzeugung, dass er gewonnen hatte.
“Welche Sorten habt ihr denn da drin?”
“Für dich? Haben wir natürlich von jeder Sorte einen”, sagte Kennedy. “Einen Schokoladen-Donut mit Streuseln, einen mit Apfelfüllung und einen mit Ahornsirup.”
Teddy lehnte sich über den Vordersitz. “Und was ist deine Lieblingssorte?”
“Wer hat denn die Streusel ausgesucht?” Sie vermutete, dass einer der Jungs sich melden würde. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Kennedy so was mochte, aber er lächelte jetzt wissend.
“Ich war’s.”
Sie war ehrlich erstaunt. “Du magst Schokostreusel?”
“Nein. Ich hab sie für dich ausgesucht. Die magst du doch am liebsten, stimmt’s?”
Sie räusperte sich und schaute zur Seite. “Eigentlich sind das die Einzigen, die ich nicht mag.”
“Lügnerin”, brummte er, und sie musste lachen.
“Sei bloß vorsichtig, wenn du unseren Dad anlügst”, sagte Teddy. “Sonst wirst du nämlich gefoltert.”
“Gefoltert? Was soll das denn heißen?”
“Er hält dich fest und kitzelt dich, bis du um Gnade winselst”, sagte Heath.
“Oder er reibt seine Bartstoppeln so lange an deinem Hals, bis du dich ergibst”, fügte Teddy hinzu.
“Ich würde mich nie ergeben! Jedenfalls nicht euerm Vater.”
Kennedy bog in die Mulberry Street ein und fuhr Richtung Tennessee. Auf seine Söhne wirkte er so ruhig wie immer, aber sie bemerkte ein ironisches Aufblitzen in seinen Augen. “Dann schlage ich vor, dass du mich niemals anlügst”, sagte er sanft. “Sonst werde ich es dir beweisen.”
“Er kriegt jeden so weit”, ergänzte Teddy und nickte voller Überzeugung.
Grace warf Kennedy einen langen prüfenden Blick zu. “Das schafft er nicht, nicht bei mir.”
“Du hast keine Chance”, beharrte Heath. “Er ist viel zu stark.”
“Ich kämpfe einfach nicht, sondern stelle mich tot”, sagte sie.
Kennedy schaute sie fragend an. “Du stellst dich tot?”
Sie lehnte sich zurück. “Es macht doch keinen Spaß, jemanden zu quälen, der nicht reagiert.”
“Geht denn das so einfach?”
“Man kann es sich angewöhnen.”
“Aber es gibt auch Momente, wo man sich gehen lassen sollte, Grace.”
Die beiden Jungen hatten längst den Faden verloren, schauten die Erwachsenen aber neugierig an.
“Warum?”, fragte Grace.
“Wenn du dich so sehr abkapselst, verpasst du vielleicht die tollsten Sachen.”
“Ach, na ja”, sagte sie und verschränkte die Arme. “Aber zumindest werde ich überleben.”
Das schien ihn getroffen zu haben, aber sie konnte sich nicht vorstellen, wieso.
“So kann man nicht leben”, stellte er fest.
Sie lächelte ausdruckslos. “Manchen Menschen bleibt nichts anderes übrig.”
Grace erinnerte Kennedy an einen Kaktus. Sie konnte sehr abweisend sein. Aber dieser Charakterzug schien nicht in ihrer Persönlichkeit zu liegen, sondern hatte etwas mit ihren Erlebnissen in der Vergangenheit zu tun. Sie versuchte, ihre Gefühle im Zaum zu halten, so gut es ging, und so wenig wie möglich an sich heranzulassen. Er hatte noch nie jemanden getroffen, der so wenig von den Menschen um sich herum verlangte und sich so deutlich gegen alle abschottete.
“Was würde wohl passieren, wenn wir uns gerade erst kennengelernt hätten?”, fragte er, nachdem er auf den Weg eingebogen war, auf dem sie innerhalb von fünfzehn Minuten den See erreichen würden.
Sie war eingenickt, richtete sich aber auf, als er sie ansprach. Bevor sie antwortete, schien sie ihren Schutzpanzer zu aktivieren. Jedenfalls kam es ihm so vor. “Wie meinst du das?”
“Ich frage mich, was du wohl Schreckliches erwartest.”
“Ich weiß nicht.”
“Ich glaube nicht, dass etwas Schreckliches passieren wird.”
“Weil dir nie etwas Schlimmes passiert”, sagte sie. “Du bist eben unter einem Glücksstern geboren.”
Er senkte die Stimme, auch wenn die Jungs auf der Rückbank ganz mit ihren Gameboys beschäftigt waren und ganz bestimmt nicht zuhörten. “Ich habe doch schon gesagt, dass ich dich zu nichts zwingen werde. Warum machst du dir dann noch Sorgen? Etwa darüber, dass du Spaß haben könntest? Dass jemand dich kennenlernt?”
“Du kennst mich doch schon.”
Ihm fielen die Gerüchte ein, die über sie und ihre Familie in Umlauf waren, die Bibel, die sie verloren hatte, ihre abweisende Art. “Nein, tue ich nicht.”
“Das ist komisch”, stellte sie fest. “Ich kenne dich nämlich gut.”
“Bestimmt nicht. Wir sind nie …”
Sie unterbrach ihn. “Ich erinnere mich noch an dein Referat über die Delfine in der fünften Klasse. Du hast ein Mosaik aus Glasscherben gemacht. Du hast es weggeworfen, nachdem du deine Eins bekommen hattest, aber ich habe es aus dem Mülleimer geholt und mit nach Hause genommen.” Sie lachte vor sich hin. “Für mich war es das Schönste, das ich je gesehen habe. Es hing vier Jahre lang in meinem Zimmer.”
Sie zog gedankenverloren an ihrem Sicherheitsgurt. “Ich erinnere mich auch noch, wie du dir beim Basketball den Arm gebrochen hast. Das war in der siebten. Es muss furchtbar wehgetan haben, denn du fingst an zu weinen.” Ihre Stimme versagte, als würde sie noch einmal mitleiden. “Deine Mutter hat dich in eurem nagelneuen Cadillac abgeholt.”
“An dieser Verletzung war Joe schuld”, sagte Kennedy. Er fühlte sich unbehaglich, weil er sich an keine anderen Details erinnerte, außer den hässlichen Dingen, die seine Freunde über sie gesagt hatten. “Er hat mich ganz übel gefoult, als ich vor dem Korb zum Wurf ansetzte.”
Sie antwortete nicht. Offenbar war sie viel zu sehr damit beschäftigt, sich an weitere Ereignisse aus der Vergangenheit zu erinnern. “Ich sehe dich noch vor mir, wie du im Cabriolet deines Vaters mitgefahren bist, nachdem du dein Stipendium bekommen hattest”, sagte sie. “Ich wusste von vorneherein, dass du gewinnst.” Sie lachte wieder. “Und so kam es dann ja auch.”
Wenn sie doch nur aufhören würde, dachte er.
“Und dann gab es eine Zeit, da hast du dir zusammen mit den anderen Spielern der Footballmannschaft den Kopf rasiert. Es war nicht gerade vorteilhaft, das steht mal fest, aber bei dir sah es immer noch besser aus als bei den meisten anderen. Du warst es, der den entscheidenden Treffer gegen Cambridge erzielt hat, und dann war da noch deine Abschlussrede und die Feier …”
“Hör auf”, sagte er leise. Auch er erinnerte sich an die Abschlussfeier, als sie zu ihm gekommen war und ihn angelächelt hatte, als wollte sie ihm alles Gute wünschen – und er hatte sich abgewandt und so getan, als ob sie gar nicht da wäre.
Sie sagte nichts mehr, und sie fuhren schweigend weiter, bis sie den Campingplatz erreichten. Nachdem er die Gebühr bezahlt und den Wagen auf dem zugewiesenen Platz geparkt hatte, sprangen die Jungs raus und sprachen erwartungsfroh über die Marshmallows, die sie später grillen würden. Als Grace ebenfalls aussteigen wollte, hielt Kennedy ihre Hand fest. Er fühlte sich schuldig, weil er sie damals so schlecht behandelt hatte, und wollte etwas sagen, das seine Schuld ausmerzen würde. Leider fehlten ihm die richtigen Worte.
Er drehte ihre Handfläche nach oben und fuhr mit dem Finger eine der Linien entlang. “Ich glaube, du kennst mich viel besser, als ich dachte”, sagte er und öffnete die Tür.