5. KAPITEL
Nach ihrem Gespräch mit Madeline hatte Grace ein ungutes Gefühl. Als ihre Mutter eingetroffen war, bereitete sie weiter das Frühstück vor, aber sie fühlte sich, als würde der Boden unter ihren Füßen nachgeben und sie in ein so tiefes Loch ziehen, dass sie nie wieder herauskam.
Ihr war von Anfang an klar, dass eine Rückkehr nach Stillwater ihr ganzes Leben durcheinanderbringen würde, und nun machte ihr diese Aussicht Angst. Dennoch konnte sie nicht einfach wieder wegfahren. Dazu war es noch zu früh. Dreizehn Jahre lang hatte sie so getan, als sei sie ein anderer Mensch, jemand ohne quälende Vergangenheit. Aber so konnte sie nicht mehr weitermachen, und das wusste sie genau. Sie wollte endlich in der Lage sein, sich selbst zu vergeben, sich weiterzuentwickeln.
Leider war ihr nicht klar, wie sie das schaffen sollte und ob es überhaupt möglich war. Dennoch war sie sich ziemlich sicher, dass ein Einbruch in Jeds Autowerkstatt nicht die richtige Methode war, ihre Probleme zu lösen.
“Warum bist du denn so still heute Morgen?”, fragte ihre Mutter, als sie sich Sirup über die Pfannkuchen träufelte, die Grace gebacken hatte.
Grace stellte eine Karaffe mit Orangensaft auf den Tisch. Ihr fiel auf, wie erstaunlich einsilbig ihre Mutter war. Sie war recht spät gekommen und wirkte nervös.
“Ich denke nach”, sagte Grace.
“Worüber denn?”
Grace ging zum Küchentresen zurück und legte sich ein paar Scheiben Schinkenspeck auf den Teller, bevor sie am Tisch gegenüber von Irene Platz nahm. “Über Madeline.”
“Wieso denn? Mit ihrer Zeitung hat sie es doch gut getroffen.”
Offensichtlich hatte sie heute Morgen keine Lust, sich über allzu schwere Themen zu unterhalten. Das war typisch für sie. Wenn wirklich große Probleme auftauchten, versuchte sie immer, sie zu ignorieren.
Grace wünschte, sie könnte weiterhin so tun, als wäre die Fassade, die ihre Mutter unbedingt aufrechterhalten wollte, echt. Aber das konnte sie nicht. Deshalb arbeitete sie unermüdlich daran, die Hilflosen zu beschützen und die Schuldigen zu bestrafen. Deshalb war sie nach Stillwater zurückgekommen. “Sie glaubt, sie weiß, wer ihren Vater umgebracht hat”, sagte sie.
Irene verzog das Gesicht. “Mike Metzger ist wirklich ein übler Bursche, nicht wahr?”
Das stimmte schon, Mike war ein schrecklicher Kerl, aber er hatte Lee Barker nicht auf dem Gewissen, und das wusste Irene sehr gut.
“Sie hat ein paar tolle Artikel über dich geschrieben”, sagte Irene. “Sie ist sehr stolz auf dich.”
Grace wusste, dass auch Madeline von ihren sexuellen Eskapaden gehört hatte und das Thema ignorierte. Vielleicht weigerte sie sich auch einfach, es zu glauben, genauso wie sie sich weigerte, die Gerüchte über ihre Familie und deren Schuld zur Kenntnis zu nehmen.
“Sie hat immer zu uns gehalten”, stellte Grace fest.
Ihre Mutter nahm einen Schluck Orangensaft. “Sie ist zwar nicht meine leibliche Tochter, aber ich habe sie immer als eine von uns betrachtet. Und auch sie fühlt sich mit uns sehr verbunden.”
Grace starrte ihre Mutter an. Sie wusste, dass sie es nicht sagen sollte, aber sie konnte sich einfach nicht beherrschen. Es machte sie einfach verrückt, dass Irene sich so wenig verantwortlich fühlte für das, was damals geschehen war. “Aber was ist, wenn sie herausfindet, was wirklich passiert ist?”
Irene sah sie gequält an. “Sie wird es nicht herausfinden.”
Wieder schob sie das Problem von sich fort.
“Sie ist drauf und dran.”
Irene schwieg.
“Wir sollten die Leiche verschwinden lassen”, brach es aus Grace hervor.
Irene schaute sie erstaunt an. Auch Grace konnte kaum glauben, was sie da eben gesagt hatte. Wenn sie übereilt handelten, könnte das alles nur noch schlimmer machen. Aber was konnten sie denn sonst tun? Alles einfach geschehen lassen? Zusehen, wie die Menschen, die sie liebte, in den Abgrund gezogen wurden? Wegen einer Tat, die sie nicht zu verantworten hatten?
Ihre Mutter wurde blass. “Grace, ich bitte dich, ich möchte nicht darüber sprechen.”
Grace senkte die Stimme. Jetzt, nachdem sie den Gedanken, der ihr die ganze Zeit im Kopf herumgespukt war, ausgesprochen hatte, wuchs in ihr die Überzeugung, dass sie genau das wirklich tun sollten. “Ich verstehe ja, dass das schwierig für dich ist, und ich will dich auch nicht beunruhigen. Aber ich bin der Meinung, dass wir die Leiche woandershin bringen sollten.”
“Hör auf damit!”, stieß Irene hervor und schaute sich dabei um, als fürchtete sie, belauscht zu werden. “Wir werden nichts dergleichen tun.”
“Gestern Abend war Joe Vincelli hier und hat gedroht, mit einem Bagger zur Farm zu fahren.”
“Warum sollte er so was tun? Es ist doch achtzehn Jahre her.”
“Weil er glaubt, wir hätten etwas zu verbergen.”
“Aber Lee ist schon so lange verschwunden. Gut, seine Familie redet nicht mit mir, sie grüßen mich nicht mal auf der Straße. Aber Joe Vincelli hat uns doch nie irgendwelche Scherereien gemacht. Warum sollte er jetzt damit anfangen?”
Grace ließ ihre Finger ganz langsam über das beschlagene Saftglas gleiten. “Weil er nicht mehr dreizehn ist. Und weil er rachsüchtig ist.”
Irene strich einige nicht vorhandene Falten auf ihrer Bluse glatt. “Die Polizei hat die Farm doch abgesucht und nichts gefunden. Joe wird auch keinen Erfolg haben.”
“Aber er ist ja nicht der Einzige, der in der Vergangenheit herumstochert. Auch Madeline will unbedingt die Wahrheit herausfinden. Und wenn sie ihre Verdächtigungen erst mal in der Zeitung abdruckt, kommt eine Lawine ins Rollen, die wir nicht mehr aufhalten können. Die Leute hier reden ja schon darüber, wer damals was wann gesehen hat. In einer größeren Stadt würde so ein Skandal mit der Zeit in Vergessenheit geraten, aber nicht in Stillwater. Nicht solange Joe und seine Angehörigen glauben, wir hätten uns des Mordes schuldig gemacht. Und wenn jetzt auch noch Madeline anfängt, Öl ins Feuer zu gießen, wird es erst recht unangenehm.”
“Es ist doch ganz normal, dass sie es herausfinden will.”
Grace packte ihre Mutter am Arm. “Mom, die Haie schwimmen schon seit Jahren um uns herum. Sie warten nur auf eine Gelegenheit, uns anzugreifen. Wir müssen die Leiche wegschaffen, solange es noch möglich ist. Sie irgendwo weit weg im Wald vergraben.”
Ihre Mutter hob das Saftglas, aber ihre Hände zitterten so sehr, dass sie nicht trinken konnte. Sie stellte es wieder ab und schüttelte heftig den Kopf. “Nein, nein! Das halte ich nicht aus.”
“Aber wir müssen etwas tun”, beharrte Grace. “Clay kann doch nicht für immer und ewig auf der Farm bleiben! Er hat es verdient, frei zu sein, zu heiraten, sein Leben zu leben. Wenn wir die Überreste los sind, gibt es nichts mehr, was uns mit dem Verschwinden des Reverends in Verbindung bringt. Aber sollte jemand die Leiche dort finden, wo sie jetzt ist …”
“Dann sei Gott uns gnädig”, flüsterte Irene.
“Amen.”
Ihre Mutter rang die Hände. “Aber es ist doch schon so lange her …” Sie starrte auf ihren Teller. Vor ihrem inneren Auge schienen sich Szenen abzuspielen, die sie lieber nicht beschwören wollte. Sie schüttelte heftig den Kopf. “Nein, wir dürfen nichts tun. Wenn wir etwas verändern an diesem … diesem Ort, machen wir bestimmt einen Fehler, übersehen ein Detail, hinterlassen Spuren – und dann wird Lee am Ende doch noch gewinnen. Und er wird uns alle in den Abgrund reißen, mich, dich und sogar Madeline.”
Irene wurde immer unruhiger.
Plötzlich wurde Grace bewusst, wie zerbrechlich ihre Mutter geworden war, und ließ ihren Arm los. Sie atmete tief durch und schob das Essen auf ihrem Teller hin und her, bis es schließlich kalt geworden war. Irene war nicht mehr so souverän wie früher. Sie würde sich nicht mehr auf sie verlassen können – nicht, wenn Entscheidungen verlangt wurden, die sie in der Vergangenheit mit Clays Hilfe getroffen hatte. Möglicherweise hatte Clay sich ja schon darauf eingestellt. Vielleicht war das der Grund, weshalb er sie so sorgsam behütete.
“Es tut mir leid”, sagte Grace. “Mach dir keine Sorgen, okay? Ich war im Unrecht. Es bleibt alles, wie es ist.”
Irene schaute sich nervös in der Küche um. “Glaubst du wirklich?”
“Ich weiß es.” Grace strich ihr über den Arm. “Ich hab mich nur von Joe nervös machen lassen und überreagiert, das ist alles.”
“Bist du sicher?”
Grace tat so, als wäre sie ganz ruhig, aber das Gegenteil war der Fall. “Ganz bestimmt.”
Ihre Mutter nickte. “Gut. Ich bin froh, dass du das sagst. Ich … Es hat sich doch alles ganz gut entwickelt. Es wäre doch nicht gerecht, wenn wir jetzt …”
“Ich weiß.” Grace griff nach dem Teller ihrer Mutter. “Bist du fertig?”
“Ja.”
“Dann räume ich jetzt ab.”
Sie stand auf und trug das Geschirr zum Waschbecken. Gleichzeitig grübelte sie, wie sie sich verhalten sollte, jetzt, wo ihre Mutter nicht mehr mit der Vergangenheit zurechtkam. “Wie gefällt dir eigentlich deine Arbeit in der Boutique?”, fragte sie, um irgendwie das Thema zu wechseln.
“Ich bekomme dort zwanzig Prozent Preisnachlass”, sagte Irene, die offenbar froh war, über etwas anderes sprechen zu können.
“Du hast einen guten Geschmack. Du siehst immer richtig toll aus”, sagte Grace und lächelte ihr zu. “Ich begleite dich noch zu deinem Wagen. Ich möchte nicht, dass du zu spät kommst”, fügte sie hinzu. Und in diesem Augenblick wurde ihr klar, wie ungeheuer wichtig es war, dass sie nach Stillwater zurückgekommen war. Sie brauchte ihre Familie, aber viel entscheidender war, dass ihre Familie sie jetzt brauchte.
Teddy Archer stand vor der Tür von Evonnes Haus und überlegte, ob er anklopfen sollte oder nicht. Sein Vater hatte ihn schon vor einer Weile bei seiner Großmutter abgesetzt, aber er wusste, dass es noch viel zu früh war, um jemanden zu besuchen. Er hatte sich gezwungen, so lange wie möglich zu warten, und hoffte, dass es nun allmählich genug war. Aber als er die Veranda erreichte, bemerkte er einige Plakate, die für die Bürgermeister-Kandidatin Vicki Nibley warben. Seine neue Freundin gehörte offenbar zum “Lager des Feindes”, wie seine Oma zu sagen pflegte.
Seine Großmutter verabscheute alle, die Mrs. Nibley unterstützten, und behauptete, sie und ihre politischen Freunde würden die Stadt ruinieren. Teddy fand allerdings, dass Grace nicht unbedingt unsympathisch war. Sie hatte ihm einen Dollar gegeben, weil er für sie Unkraut gezupft hatte, und außerdem musste er ja auch noch seine Kekse einkassieren.
Er entschied, trotz allem anzuklopfen, und rückte seine Baseballmütze zurecht, während er darauf wartete, dass die Tür geöffnet wurde.
Kaum stand sie vor ihm, fühlte er sich gleich besser. Sie schien ehrlich erfreut, ihn zu sehen, und sagte lächelnd: “Hallo.”
Er steckte die Hände in die Hosentaschen und drehte sich um. Im Vorgarten waren tiefe Reifenspuren zu sehen. “Da ist ja jemand über den Rasen gefahren”, stellte er fest.
Sie folgte seinem Blick und sagte: “Ja, ich weiß.”
“Wer war das denn?”
Sie zuckte mit den Schultern. “Ein Mann namens Joe.”
“Joe Vincelli?”
“Genau der. Kennst du ihn?”
“Ja. Er ist witzig.”
“Vielleicht finden einige Leute ihn ja witzig, ich aber nicht.”
Es war auch nicht so, dass alle Leute Joe gut leiden konnten. Teddy hatte mal gehört, wie seine Großmutter gesagt hatte, Joes Eltern täten ihr leid, denn Joe sei “nicht gerade ein Musterknabe”. Aber er hatte nicht verstanden, was sie damit meinte. Trotzdem wusste er, dass es eine Aussage war, die man nicht unbedingt wiederholen sollte, also sagte er jetzt lieber nichts dazu. Stattdessen deutete er auf die Plakate: “Wollen Sie Mrs. Nibley ihre Stimme geben?”
“Ja.”
“Warum?”, fragte er und spähte misstrauisch zu ihr hoch.
“Na ja, ich bin nicht gerade ein großer Fan von Kennedy Archer.”
“Oh.” Sie mochte seinen Vater nicht? Was konnte das denn bedeuten?
“Und was ist mit dir?”, fragte sie. “Wenn du alt genug wärst, wen würdest du wählen?”
“Bestimmt nicht Vicki Nibley”, gab er zu.
“Also bist du ein Archer-Anhänger?”
Er nickte.
“Kennst du ihn denn?”
Er nickte wieder. Vielleicht wäre es besser, ihr jetzt zu erzählen, dass Kennedy Archer sein Vater war, aber er fürchtete, dass sie ihn dann auch nicht mehr mögen würde. “Er ist nett”, sagte er stattdessen, in der Hoffnung sich damit Luft zu verschaffen.
“Na ja, wenn du meinst”, erwiderte sie. Sie lächelte immer noch, aber es klang wenig überzeugt. “Und? Bist du bereit für deine Kekse?”
Wie gut, dass sie daran gedacht hatte. Er grinste sie an. “Na klar.”
“Prima. Ich hab gestern Abend nämlich einen ganzen Berg davon gebacken. Wie wär’s, wenn ich bei deiner Mutter anrufe? Wenn sie erlaubt, dass du reinkommst, kann ich dir ein paar Kekse und ein Glas Milch anbieten.”
Teddy linste an ihr vorbei ins Haus. Er roch das leckere Aroma der Kekse und erinnerte sich daran, wie es war, als seine Mutter welche gebacken hatte. Am liebsten wäre er sofort hineingelaufen.
Aber sein Vater hatte ihm ja verboten, dieses Haus zu betreten. Teddy starrte zu Boden und trat von einem Fuß auf den anderen. “Äh, also … meine Mutter ist nicht zu Hause.”
“Wer passt denn auf dich auf?”
“Meine Oma”, sagte er. “Sie weiß, dass ich hier bin.”
“Bist du sicher?”
Er nickte, machte aber noch immer keine Anstalten, hereinzukommen.
“Wir könnten natürlich auch ganz einfach eine Decke da drüben unter den Bäumen ausbreiten und die Kekse im Garten essen”, schlug sie vor.
Obwohl sie seinen Vater nicht leiden konnte, schien sie doch sehr nett zu sein. Und im Garten Kekse zu essen, konnte eigentlich nichts Schlimmes sein. Dann wäre er immer noch außerhalb des Hauses. “Das wäre toll”, sagte er erleichtert. “Und wenn wir sie aufgegessen haben, kann ich einen neuen Auftrag übernehmen. Falls es was zu tun gibt.”
Ihr Lächeln fiel auf ihn wie der allerschönste Sonnenschein.
“Ich war gerade dabei, den Geräteschuppen aufzuschließen und den Keller zu inspizieren. Das ist immer ein Abenteuer.”
“Wieso?”, fragte er.
“Warst du denn schon mal im Keller?”
“Einmal, mit Evonne.”
“Fandest du es nicht gruselig mit all den Spinnweben?”
“Ich hab doch keine Angst vor Spinnen.” Er richtete sich kerzengerade auf, um größer zu wirken. Sie sollte ihm ruhig glauben, auch wenn es da unten tatsächlich ein bisschen unheimlich war. “Aber warum wollen Sie denn unbedingt in den Keller gehen?”
“Um nachzusehen, was von den eingemachten Pfirsichen und Tomaten übrig ist. Ich will Evonnes Laden wiedereröffnen.”
“Den Verkaufsstand?” Er war völlig gebannt von dieser Idee. Als er im letzten Sommer zu seiner Großmutter gekommen war, hatte Evonne ihn oft eingeladen. Bei ihr hatte es ihm immer gefallen, und er war glücklich, wenn er mithelfen durfte. “Ich kann ziemlich gut rechnen”, sagte er.
“Glaub ich dir”, sagte sie lachend. “Und ich bin wirklich froh, dass ich auf dich zählen kann.” Sie zog die Tür ein Stückchen weiter auf. “Willst du mir helfen, die Sachen nach draußen zu tragen? Und wenn wir unser kleines Picknick beendet haben, fangen wir mit der Arbeit an.”
Teddy zögerte nur eine Sekunde lang. Er würde nicht lange drinnen bleiben, also war es nicht ganz so, als gehorchte er seinem Vater nicht. Außerdem würde der von ihm erwarten, dass er half. Es war immer richtig zu helfen. Sogar Großmutter war dieser Ansicht.
“Okay.” Er folgte ihr ins Haus, und schon einen Moment später spürte er, wie die vertraute Umgebung ihn freundlich aufnahm.
Kennedy stand in seinem Büro in der Bank und blickte auf das große Gemälde von Raymond Milton, das an der Wand hing. Kennedys Vater Otis Archer hatte seine Kindheit in einer Nachbargemeinde von Stillwater verbracht, in einem schäbigen Farmhaus, zusammen mit seiner verwitweten Mutter und zehn Geschwistern. Er hatte keinen Highschool-Abschluss machen können, weil er an einer benachbarten Tankstelle hatte arbeiten müssen oder sich um den Hof kümmern. Es war ohnehin kein Geld da, um ihn auf die Universität zu schicken. Trotzdem war es ihm gelungen, Raymond Milton, einen erfolgreichen Fuhrunternehmer, davon zu überzeugen, dass etwas Besonderes in ihm steckte. Milton lieh ihm ein wenig Geld, und Otis Archer gründete im Alter von gerade mal fünfundzwanzig Jahren die Stillwater Kreditbank.
Mit dreißig hatte er bereits sein erste Million verdient und heiratete Miltons jüngste Tochter Camille. Mit vierzig wurde er Bürgermeister und erbte eine weitere Million von seinem verstorbenen Schwiegervater. Im gleichen Jahr wurde Kennedy geboren.
Otis Archer hatte ganz unten angefangen und sich zum wichtigsten Mann von Stillwater emporgearbeitet. Das war ein großes Vermächtnis.
Kennedy meldete sich nicht, als seine Sekretärin anklingelte. Nach dem Anruf vom Polizeichef, den er gerade erhalten hatte, war klar, dass es nur Joe sein konnte. Er wollte jetzt nicht mit ihm reden, und er musste gleich zu einem Auswärtstermin aufbrechen. Aber irgendetwas fesselte ihn am Porträt seines Großvaters. Obwohl die Stadt nicht so mondän und weltoffen war wie so viele andere, liebte Kennedy Stillwater. Er war überzeugt davon, dass er ein guter Bürgermeister sein würde. Im Grunde war ihm dieser Posten schon in die Wiege gelegt worden, und er fühlte sich wohl mit dem Weg, der vor ihm lag. Und doch brachte ihn der Gedanke, dass er womöglich bald schon ein Bild seines Vaters neben das des Großvaters aufhängen musste, aus dem Gleichgewicht. Ein weiterer Verlust nach dem Tod von Raelynn wäre einfach zu viel für ihn.
“Ich hab ihr gesagt, dass dein Wagen noch auf dem Parkplatz steht.”
Kennedy drehte sich um, als Joe Vincelli sein Büro betrat. “Was für eine Überraschung.”
Joe reagierte nicht auf den sarkastischen Unterton in Kennedys Stimme. “Warum hast du nicht reagiert, als Lilly durchgeklingelt hat?”
“Ich hatte zu tun.”
Joe hob zweifelnd die Augenbrauen; das war selbst für seine Verhältnisse eine flaue Entschuldigung. Doch weder Joe noch sonst jemand ahnte, dass Otis Archer an Krebs litt, und es sollte auch niemand erfahren. Die Bank würde wahrscheinlich in eine schwere Krise geraten, wenn bekannt wurde, dass ihr Vorsitzender unter Umständen an Weihnachten nicht mehr am Leben war. Außerdem fürchtete Kennedy sich vor all den Mitleidsbekundungen.
Ob sie den Zustand von Kennedys Vater noch geheim halten konnten, wenn er sich im kommenden Monat einer Chemotherapie unterzog, wussten sie nicht. Aber zum Wohle der Bank und ihrer Angestellten – und um die Privatsphäre der Betroffenen zu schützen, worauf Kennedys Mutter großen Wert legte – gaben sie sich alle Mühe.
“Was gibt’s denn?”, fragte er, obwohl er sowieso schon wusste, was Joe ihm gleich mitteilen würde.
“Ich will, dass McCormick den Fall meines verschwundenen Onkels wieder aufrollt.”
Kennedy sah Joe verwundert an. Warum, fragte er sich, wollte er, dass man sich wieder mit diesem alten Fall befasste? Nun gut, Lee Barker war ein Verwandter der Vincellis, aber Joe war erst dreizehn, als der Reverend verschwunden war, und er hatte bis heute kein besonderes Interesse an der Aufklärung dieses Falls an den Tag gelegt. “Chief McCormick hat mich vor ein paar Minuten angerufen.”
“Er kann den Fall nicht erneut bearbeiten, wenn es keine neuen Erkenntnisse gibt”, sagte Joe. “Aber ich weiß, dass du ihn dazu bringen kannst.”
“Warum sollte der Fall denn wieder aufgerollt werden?”, fragte Kennedy.
“Vielleicht finden wir ja diesmal etwas heraus.”
“Vielleicht aber auch nicht.”
“Ach komm schon, Kennedy, wir wissen doch alle, dass Clay oder Irene oder beide zusammen den Reverend auf dem Gewissen haben. Es wird Zeit, dass wir es endlich beweisen. Und überleg mal, was es für deinen Wahlkampf bedeutet, wenn wir Erfolg haben! Vicki Nibley würde keinen Fuß mehr auf den Boden bekommen, wenn du herausfindest, was damals auf der Farm passiert ist.”
Kennedy ging zu seinem Schreibtisch und lehnte sich dagegen. Als sie zwölf gewesen waren, hatte Joes Vater sie zum Campen mitgenommen. Kennedy war auf einem glitschigen Stein ausgerutscht und in den Fluss gefallen. Es war sehr früh am Morgen, Joes Vater hatte noch geschlafen. Wäre Joe nicht ins Wasser gesprungen, um ihm zu helfen, wäre Kennedy in der reißenden Strömung zweifellos ertrunken. Joe wäre bei der Rettungsaktion beinahe selbst umgekommen.
Es war klar, dass Kennedy Joe eine Menge verdankte, aber von ihm zu verlangen, dass er Druck auf den Polizeichef ausübte, war nicht in Ordnung. “Ehrlich gesagt, mache ich mir keine Sorgen um die Wahl”, sagte Kennedy. “Falls ich verliere, werde ich ja nicht direkt arbeitslos. Hier in der Bank gibt es eine Menge zu tun.”
“Was redest du denn da? Du träumst doch seit Jahren davon, eines Tages in die Fußstapfen deines Vaters zu treten.”
“Trotzdem wird es mich nicht aus der Bahn werfen, wenn ich dieses Amt nicht bekleiden darf.”
“Interessiert dich denn gar nicht, was mit meinem Onkel passiert ist?”
Natürlich hätte Kennedy das gern gewusst. Alle fragten sich schließlich, was aus dem Reverend geworden war. Einige behaupteten, sie hätten gesehen, wie Lee Barkers Auto am fraglichen Abend zu seiner Farm gefahren war, andere hatten den Reverend auf der entgegengesetzten Seite der Stadt gesehen. Chief McCormick hatte Kennedy vor wenigen Minuten sogar berichtet, eine Frau habe Lee Barker erst vor wenigen Monaten in einem Einkaufszentrum in Jackson erkannt. Die meisten aber gingen davon aus, dass Clay oder Irene am Verschwinden des Seelsorgers schuld waren. Einige glaubten, dass Grace ihren Stiefvater umgebracht hatte, obwohl sie damals ja noch ein junges Mädchen gewesen war. Nur Madeline, die am fraglichen Abend nicht zu Hause gewesen war, wurde nicht beschuldigt.
Kennedy hatte seine eigene Theorie, aber wie alle anderen konnte auch er keine Beweise vorlegen. Inzwischen fand er allerdings, dass die Gerüchte überhand nahmen. Darüber hinaus interessierte er sich viel mehr für die neue Grace als für das Schicksal des Reverends. Hinter ihrem strengen und gefestigten Äußeren glaubte er eine verletzliche und verwundbare Frau mit einer geradezu tragischen Ausstrahlung entdeckt zu haben. Außerdem war er fasziniert von ihrer Schönheit, die in auffälligem Kontrast zu ihrer düsteren Vergangenheit stand.
Er hatte in der letzten Nacht lange wach gelegen und darüber nachgedacht, was sie alles erreicht hatte, nachdem sie Stillwater den Rücken gekehrt hatte – und auch darüber, was er frühmorgens an ihrem Fenster gesehen hatte.
“Natürlich interessiert mich das”, antwortete er. “Aber nicht so sehr, dass ich die Montgomerys anschwärze, bevor ich neue Beweise in der Hand habe.”
Joe streckte seine langen Beine aus. “Dann tu es für mich.”
Kennedy hatte befürchtet, dass es darauf hinauslaufen würde. Obwohl Joe die Rettungsaktion am Fluss noch nie als Druckmittel verwendet hatte – was Kennedy ihm hoch anrechnete –, war klar, dass er tief in der Schuld seines Lebensretters stand. Niemandem war er so verpflichtet wie Joe.
Aber der Gedanke daran, was das für Grace bedeuten würde, ließ ihn innehalten. “Das geht nicht. Ich bin nicht befugt, so etwas zu verlangen.”
Joe verzog das Gesicht. “Ach komm, deinem Vater gehört diese Stadt doch praktisch. Und jetzt will er sie dir übergeben. Sprich mit McCormick und bring ihn dazu, etwas zu unternehmen.”
Joe konnte ein netter Kerl sein. Er war ein toller Zechkumpan und jemand, der seinen Freunden gern unter die Arme griff, wenn Not am Mann war. Aber er hatte auch seine dunklen Seiten. Er war bereits zweimal von derselben Frau geschieden, und wenn seine Eltern ihm nicht eine Stelle im familieneigenen Straßenbauunternehmen gegeben hätten, wäre er wahrscheinlich arbeitslos. Offiziell war er Leiter der Firma, tatsächlich aber die meiste Zeit unterwegs, traf sich mit Freunden, saß in Kneipen herum, baggerte Frauen an oder versuchte, Kennedy dazu zu überreden, ihm Geld zu leihen.
“Aber warum?”, fragte Kennedy.
“Weil ein Verbrechen verübt wurde.”
“Aber das wissen wir doch gar nicht.” Kennedy hatte ohnehin den Eindruck, dass Grace schon genug für diese Nacht bezahlt hatte, ob sie schuldig war oder nicht. Und auch wenn er Joes Ansichten über die Familie Montgomery im Großen und Ganzen teilte, zögerte er.
“Wir sollten es herausfinden”, drängte Joe. “Wenn du dich darum kümmerst, kann ich mit einem Bagger auf die Farm fahren und alles umgraben. Falls dort eine Leiche liegt, werde ich sie finden.”
“Die Polizei hat die Farm doch durchsucht. Sie haben nichts gefunden.”
“Ach komm! Das war zu Zeiten des alten Jenkins. Dass der nichts gefunden hat, wundert mich nicht, so schusselig wie er war.”
“Trotzdem müsste McCormick einen neuen Durchsuchungsbefehl bekommen. Das dürfte nicht einfach sein, nachdem die Polizei schon mal zum Zug gekommen ist. Es mag dich erstaunen, aber kein Richter gibt leichtfertig die Erlaubnis, die Privatsphäre anderer Leute zu durchsuchen”, erklärte Kennedy. “Und Clay ist ein Wachhund, das weißt du ja. Er wird niemals seine Erlaubnis geben.”
“Richter Reynolds wird sicher ein offenes Ohr für dich haben.”
Kennedy erinnerte sich daran, wie Joe sich in der Pizzeria aufgeführt hatte. “Es geht dir doch eigentlich gar nicht um deinen Onkel, stimmt’s?”
“Nein”, knurrte Joe finster.
“Es wirkt auf mich, als wärst du vor allem damit beschäftigt, Grace zu quälen.”
“Die willige Gracie?” Joe zuckte mit den Schultern. “So ein Quatsch. Warum sollte ich was gegen sie haben?”
“Weiß ich nicht. Aber falls das deine Absicht sein sollte …” Kennedy hob einen Papierbeschwerer aus Glas hoch, den seine Angestellten ihm zu Weihnachten geschenkt hatten. “Du hast ihr auf der Highschool schon genug angetan.”
“Leck mich!” Joe sprang auf. “Ich habe ihr überhaupt nichts angetan.”
Das Telefon klingelte. Kennedy hob die Hand; er wollte das Gespräch annehmen und hoffte, dass die Unterbrechung die Spannung im Raum abschwächen würde. Aber Joe fluchte nur und marschierte zur Tür.
“Du bist ja ein toller Freund”, murmelte er vor sich hin. Fehlte nur noch, dass er hinzufügte: “Ohne mich wärst du gar nicht mehr hier.” Aber das tat er nicht. Er verschwand einfach nach draußen.
Kennedy wäre gern hinter ihm hergelaufen, um ihm klarzumachen, dass es besser war, die alten Zeiten ruhen zu lassen – und dass dies auch für Grace gelten musste. Aber am anderen Ende hörte er die Stimme seiner Mutter.
“Hallo? Kennedy? Bist du dran?”
Camilles Stimme klang sehr angespannt. Er begann, seine Schläfen zu massieren, weil er fürchtete, dass dieser Anruf ihm noch mehr Kopfschmerzen bereiten könnte. “Was gibt’s denn?”, fragte er.
“Du musst mal ein ernstes Wort mit deinem Sohn reden.”
Es war sofort klar, dass sie nicht Heath meinte, sondern Teddy. “Was hat er denn jetzt wieder angestellt?”
“Er ist schon heute Vormittag zu Grace Montgomery rübergegangen.”
“Darüber habe ich mit ihm schon gesprochen. Ich habe ihm erlaubt, ihren Rasen zu mähen.”
“Aber er sollte schon vor einer Stunde zurück sein.”
Kennedy warf einen Blick auf die Uhr. “Vielleicht hat er nicht auf die Zeit geachtet.”
“Das ist keine Entschuldigung. Ich kann ihn doch nicht aus dem Haus lassen, wenn er nicht mal die einfachsten Regeln beachtet! Er sollte um zwei zurück sein.”
Damit hatte sie natürlich recht. Teddy musste sich an die Abmachungen halten. “In Ordnung”, sagte Kennedy. “Ich werde heute Abend mit ihm darüber sprechen. Und dann sehen wir weiter.”
“Nein, du musst jetzt gleich dort hingehen. Er ist jetzt drei Stunden weg, Kennedy. Das gefällt mir gar nicht. Grace ist kein guter Mensch.”
“Ich glaube nicht, dass sie so schlimm ist, wie du denkst, Mom. Immerhin ist sie Staatsanwältin. Und soweit ich gehört habe, sogar eine ziemlich gute.”
“Das ist mir egal. Du weißt ganz genau, dass sie kein vorbildliches Leben geführt hat, als sie noch hier lebte. Und du willst doch wohl nicht riskieren, dass deinem Sohn etwas geschieht?”
Damit hatte sie einen besonders wunden Punkt getroffen. Seit dem Verlust von Raelynn rechnete er ständig mit dem Schlimmsten. “Natürlich nicht”, lenkte er ein und seufzte. “Ich sehe gleich nach.” Obwohl er dann zu spät zu seinem Termin kommen würde.
“Tu das. Und Teddy soll bitte sofort nach Hause kommen!”
Kennedy vermied es, sich festzulegen, und sagte nur: “Ich rufe dich dann zurück.”
Niemand machte auf, als Kennedy an Grace’ Haustür klopfte, also spähte er durchs Fenster. Drinnen sah es aus, als hätte sie sich inzwischen häuslich eingerichtet. Auf dem Boden des Wohnzimmers lag ein neuer Teppich, auf dem Sofa und den Sesseln jede Menge Kissen, es gab einen kleinen Tisch, der als Zeitschriftenablage diente, einen Couchtisch und in der Ecke einen altmodischen Sekretär. Im angrenzenden Esszimmer stand ein breiter Tisch aus Mahagoni. Die Möbel waren eine Mischung aus alt und neu – nichts davon übertrieben – und die Kombination der einzelnen Stücke zeugte von Geschmack.
“Ist jemand zu Hause?”, rief er laut und klopfte erneut gegen die Tür.
Keine Antwort, obwohl der BMW in der Garage stand. Das hatte er gleich bemerkt, als er gekommen war.
Er spürte, wie er nervös wurde, und ging um das Haus herum, in der Hoffnung, eine offene Tür auf der Rückseite zu finden. Aber kaum hatte er das Gartentor geöffnet, hörte er die Stimme einer Frau und hielt inne.
War das Grace?
Er blieb hinter der Pappel stehen, deren Äste ihn gut verbargen, und spähte zwischen den Blättern hindurch.
Sie war es tatsächlich. Teddy war bei ihr. Sie saßen auf der Terrasse. Grace las ihm ein Buch vor.
“Warum, glaubst du, ist er in diese dunkle Höhle gegangen?”, fragte sie und deutete auf eine Illustration.
“Wahrscheinlich war er neugierig”, sagte Teddy.
“Du würdest das aber nicht tun, oder?”
“Nein, aber ich finde es gut, dass er es macht. Du nicht auch?”
Sie lachte. “So spricht ein mutiger Junge. Du liebst die Gefahr, hm?”
“Glaubst du, er wird sich wehtun?”
“Vielleicht verirrt er sich auch”, sagte sie. “Schauen wir mal nach.” Sie drehte die Seite um und las weiter. Sie trug ein T-Shirt und Shorts, keine Schuhe, und hatte die Füße unter ihrem Stuhl über Kreuz gelegt.
Kennedy konnte kaum fassen, was er da sah.
“Da ist es auch schon passiert.” Teddy holte tief Luft, als er sah, wie der Junge im Buch einen Abhang hinunterrutschte und in einem finsteren Loch landete. “Aber da wird ihm doch jemand heraushelfen, oder?”
“Vielleicht”, sagte sie. “Aber du darfst nicht darauf warten, dass andere dich retten. Du musst versuchen, dich selbst zu retten. Das solltest du dir merken.”
“Aber warum kann ich denn nicht auf die Hilfe anderer Leute warten?”
Sie zögerte einen Moment, dann sagte sie: “Manchmal können die anderen nicht hören, wenn du um Hilfe schreist.”
Kennedy hatte das merkwürdige Gefühl, dass sie gar nicht mehr über die Geschichte im Buch sprach, sondern von eigenen Erfahrungen, die sie in ihrer Jugend gemacht hatte. Wahrscheinlich von dem, was sie auf der Highschool erlitten hatte. Jedenfalls stand fest, dass Teddy nicht in Gefahr war. Im Gegenteil, sein Sohn bekam hier ein wenig von der Nähe und Zuneigung, die er seit dem Tod seiner Mutter so schmerzlich vermisste.
Kennedy brachte es nicht übers Herz, die beiden zu stören. Er zog sich zurück, schloss das Gartentor mit einem leisen Klicken und eilte davon.
Im Auto rief er seine Mutter zurück und sagte: “Teddy geht es gut. Du musst dir keine Sorgen machen.”
“Kommt er jetzt nach Hause?”
Er bog auf die Hauptstraße ein. “Ja, aber nicht gleich.”
“Warum denn nicht?”
“Er hat zu tun.”
“Ist er etwa immer noch bei ihr?”
Kennedy wollte die Szene trauten Zusammenseins nicht beschreiben, die er gerade beobachtet hatte. Er war zutiefst dankbar, dass Grace so lieb zu Teddy war, obwohl sie ihn nicht leiden konnte. “Er fegt ihre Garage”, log er, weil er glaubte, dass seine praktisch veranlagte Mutter mit einer solchen Antwort etwas anfangen konnte.
Leider hatte er ihre Abneigung gegen Grace unterschätzt.
“Sie lässt ihn den ganzen Tag lang schuften? Findest du es etwa gut, dass sie den Jungen ausbeutet?”
“Das tut sie überhaupt nicht”, rief er aus. “Ich hab das alles geregelt, hörst du!”
Nach diesem Ausbruch schwieg seine Mutter erstaunt, während er sich bemühte, seine Gefühle im Zaum zu halten. Es mochte ja sein, dass seine Mutter ihm dann und wann auf die Nerven ging, aber sie tat es nur in guter Absicht und weil sie für ihn und seine Söhne nur das Beste wollte. Außerdem belastete ihre Situation sie natürlich auch, manchmal vielleicht sogar zu viel. Er hatte oft schon überlegt, ob er ein Kindermädchen für seine Söhne einstellen sollte, aber damit wäre ihnen wahrscheinlich auch nicht geholfen. Seine Jungs sehnten sich nach ihrer verlorenen Mutter, nicht nach einem Aufpasser. Seine Mutter wiederum wäre sicherlich sehr pikiert, wenn er ihr auf diese Weise zu verstehen gäbe, dass er sie nicht für stark genug hielt, mit den beiden fertig zu werden.
“Ich bin dort gewesen”, fuhr er mit ruhiger Stimme fort. “Es ist alles in bester Ordnung. Er kommt nach Hause, wenn er so weit ist.”
“Du hättest ihm sagen sollen, dass er sofort gehen muss.”
“Wieso? Willst du ihm etwas vorlesen?”
“Wie bitte?”
“Ach, vergiss es”, sagte er und legte auf.