11. KAPITEL

Grace saß am Strand und schaute auf den See hinaus. Sie war völlig verunsichert. Was war da eben eigentlich passiert? Sie war aus ihrem Zelt gestürzt, zutiefst verletzt und verzweifelt, und wenig später hatte sie mit Kennedy Archer umschlungen im Wasser gestanden. Und ausgerechnet in diesem Moment hatte sie jenes Verlangen empfunden, das sich bei ihren intimen Momenten mit George nie einstellen wollte. Wie konnte das sein? Warum waren ihre Gefühle so widersprüchlich?

Sie schloss die Augen und erinnerte sich an Kennedys Kuss, an die Liebkosungen seiner Zunge, an seine Erektion, als sie ihn mit ihren Beinen umfasste. Allein die Erinnerung daran verursachte ihr eine Gänsehaut. Wenn sie diese Gefühle George gegenüber empfunden hätte, dann wäre doch alles gut gewesen …

Aber Kennedy?

“Nein”, sagte sie leise und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Sie zitterte heftig und war gleichzeitig froh darüber, dass ihr jetzt so kalt war, denn sie hoffte, diese Kälte würde sie wieder zur Vernunft bringen und sie daran erinnern, dass sie diesem Mann nicht trauen durfte, auch wenn er behauptete, er fühle sich zu ihr hingezogen. Aber sie war doch ganz anders als Raelynn. Und außerdem war da immer noch die Erinnerung an das, was sie einst mit seinen Freunden getan hatte. Wenn sie sich nicht vergeben konnte, wie sollte er es? Sie durften nicht miteinander gesehen werden. Seine Familie würde sie hassen. Und sie konnte auch ihm gegenüber nicht ehrlich über jene Ereignisse sprechen, die vor achtzehn Jahren vorgefallen waren, genauso wenig wie mit George. Wenn die Wahrheit je ans Tageslicht kam, würde sie ihn genauso hart treffen wie sie.

Aber am meisten sorgte sie sich um seine Söhne. Was war, wenn sie sich zu sehr zu ihr hingezogen fühlten?

Sie legte die Stirn auf ihre Knie, umschlang die Beine mit den Armen und versuchte, ihr Zittern unter Kontrolle zu bringen, um endlich klar denken zu können. Das Beste wäre vielleicht, sie würde Stillwater so schnell wie möglich verlassen und wieder in die Großstadt zurückkehren. Aber George wollte sie nicht mehr in seiner Nähe haben, und ihre Familie brauchte sie gerade hier.

“Grace, komm ins Zelt zurück”, hörte sie Kennedys Stimme irgendwo hinter sich. Ihr wurde bewusst, dass sie nicht wieder schlafen gegangen war, wie er verlangt hatte.

Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Er fühlte sich schon wieder verantwortlich für sie. Immer wollte er sich kümmern. Er würde bestimmt einen guten Bürgermeister abgeben.

“Ich komme.” Sie stand auf, wischte sich den Sand von den Beinen und traf mit ihm auf halbem Weg zum Campingplatz zusammen. Sie hatte ihr Bikini-Oberteil wieder angezogen, aber als er sie musterte, fühlte sich wieder entblößt, verwundbar, begierig. Es geht mir nicht um Sex. Ich will dich lieben, Grace

Wie es wohl sein würde? Sie wünschte sich so sehr, sich ganz hinzugeben. Mit diesem Mann könnte es möglich sein.

Trotzdem durfte es niemals geschehen.

Sie gingen schweigend nebeneinander her, ohne sich zu berühren. Als sie ihr Zelt erreichte, sagte sie leise gute Nacht und wollte hineinschlüpfen. Kennedy fasste sie am Arm und hielt sie zurück.

“Grace?”, flüsterte er kaum hörbar.

Sie schaute auf und bemerkte sein ernstes Gesicht.

“Weißt du, was Reverend Barker in seine Bibel hineingeschrieben hat?”

“Hineingeschrieben?”, wiederholte sie verwirrt.

“Hast du jemals gelesen, was er da notiert hat?”

“Nein. Was hat er denn hineingeschrieben?”

“Vor allem sehr viele Bemerkungen über dich.”

Sie wagte kaum noch zu atmen.

“Ich habe es gelesen und mir Gedanken darüber gemacht, ob …”

Sie ahnte, dass jetzt etwas Furchtbares kommen musste, ihr Herz raste. “Was denn?”, stieß sie hervor.

“Ob dein Stiefvater dich …”

Alles in ihr verknotete sich. Ihr Bauch schmerzte. “Ich möchte nicht über ihn sprechen”, sagte sie.

Er fasste nach ihren Händen und drückte sie, um ihr zu signalisieren, dass er ihr nichts Böses wollte. “Ist er dir … du weißt schon, zu nahe gekommen, als du noch ein junges Mädchen warst? Hat er dich berührt, wo und wie er es nicht hätte tun dürfen?”

Grace glaubte, ersticken zu müssen. Alles an ihr schien gelähmt. Sie konnte nicht einmal mehr atmen. Einen kurzen Moment lang wollte sie es zugeben, um endlich ihren Schmerz und ihre Wut jemandem enthüllen zu können, um die schwere Last dieses schmutzigen Geheimnisses loszuwerden, eines Geheimnisses, dass sie noch nicht einmal ihrer Therapeutin hatte anvertrauen können.

Aber sie konnte sich nicht über ihr Schuldgefühl hinwegsetzen. War sie nicht selbst für das verantwortlich, was ihr Stiefvater mit ihr gemacht hatte? Wie sie auch für das verantwortlich war, was sie mit Kennedys Freunden in der Schule getrieben hatte? Ihre eigene Schande wog mindestens genau so schwer wie der schlimme Verrat ihres Stiefvaters, der seine Machtposition ausgenutzt hatte. Außerdem durfte sie niemandem gegenüber zugeben, dass sie und ihre Familie ein wirklich gutes Motiv gehabt hatten, den Reverend von Stillwater umzubringen. Schon gar nicht Kennedy gegenüber, denn der besaß ja sogar die Bibel. Bestimmt würde er sie eines Tages gegen sie verwenden. Alle seine Freunde und seine Familie waren gegen sie. Da konnte es sehr schnell passieren, dass er in einem schwachen Moment sie und ihre ganze Familie auslieferte.

“Nein.” Sie versuchte, ihn dabei anzusehen, aber es gelang ihr nicht. Sie hatte Angst, dass er ihr die Lüge ansah, genauso wie vorhin, als sie zusammen im Wasser gewesen waren.

Sie versuchte, sich von ihm loszumachen, aber er hielt sie fest. “Ich glaube, er hat es getan”, sagte er hartnäckig.

Er bedrängte sie, die Wahrheit zu sagen. Sie musste überzeugender sein. “Spinnst du?” Sie zwang sich zu einem höhnischen Unterton. “In dieser Stadt gibt es eine Menge Leute, die dich für verrückt erklären würden, wenn du so etwas behauptest. Der Reverend, er war unantastbar … Das weißt du doch selbst, oder?”

Sein Gesichtsausdruck änderte sich kaum, als er auf sie herabsah und nachdenklich sagte: “Ich bin mir da nicht so sicher. Sag du es mir.”

Er konnte jeden ihrer Gedanken lesen, jede winzige Änderung in ihrem Gesicht deuten. Sie brauchte mehr Abstand zu ihm. “Er … aber natürlich … jeder wusste doch, was für ein … guter Mann er war. Er …” Die Worte schienen in ihrer Kehle stecken zu bleiben. Sie wollte ihren Stiefvater weiter loben, als guten Menschen beschreiben, aber es ging nicht. Nicht hier. Nicht jetzt. Nicht gegenüber Kennedy.

“War er ein guter Mensch?” Kennedy flüsterte nur.

Sie versuchte, sich zusammenzureißen, wieder zu Atem zu kommen. Aber in dieser Nacht war einfach zu viel geschehen. Ihre Gefühle rasten im Kreis wie ein entfesseltes Karussell. Sie spürte Schmerz. Und Wut. Enttäuschung. Erregung. Hoffnung. Kennedy schien der Anker zu sein, den sie so lange gesucht hatte, aber sie wusste, dass das nur eine Illusion war. Wenn sie nach ihm griff, um sich zu retten, würde sie ins Nichts fassen, ganz bestimmt. Denn er war Mr. Stillwater, und sie war nur die willige Gracie.

“Hat er dich missbraucht, Grace?”

Sie hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. “Nein. Hör auf! Ich kann nicht … Ich … hör auf, ich bitte dich!” Endlich gelang es ihr, sich loszureißen und unter die schützende Plane ihres Zeltes zu schlüpfen. Dort blieb sie hocken, versuchte, die Tränen zurückzuhalten und ruhig zu atmen. Sie wartete auf das, was Kennedy als Nächstes tun würde. Sie hoffte inständig, er würde ihr glauben. Aber sie wusste auch, dass sie nicht besonders überzeugend gewesen war.

Kennedy ging draußen unruhig hin und her. “Oh Gott”, hörte sie ihn vor sich hin sagen. “Wenn dieser Dreckskerl nicht schon tot wäre, würde ich ihn eigenhändig umbringen.”

Kennedy lag noch lange wach, nachdem Grace aufgehört hatte, sich herumzuwälzen. Er nahm an, dass sie schließlich doch noch eingeschlafen war. Er hoffte es, denn sie musste sich unbedingt ausruhen. Aber er selbst kam nicht zur Ruhe. Immer wieder sah er das vom fahlen Mondlicht angestrahlte blasse Gesicht von Grace vor sich und ihre Panik, als er sie danach gefragt hatte, ob ihr Stiefvater sie missbraucht hatte. Er hatte die Wahrheit erfahren. Sie hatte gar nichts zugeben müssen, der Schrecken stand ihr im Gesicht geschrieben. Blieb nur noch die Frage, wie weit der perverse Reverend mit ihr gegangen war. Hatte er sie vergewaltigt? Wenn ja, wie alt war sie damals? War es nur einmal passiert? Zweimal? Öfter?

Wenn er sich ausmalte, wie dieser Mann seine hilflose kleine Stieftochter zu so etwas gezwungen hatte, kroch in ihm eine kalte Wut hoch, die er kaum im Zaum halten konnte.

Er rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augen, als könnte er so die Bilder vertreiben, die seine Fantasie ihm vorgaukelte. Er spürte, wie ein Gefühl des Ekels ihn packte. Es war einfach furchtbar, sich vorzustellen, wie die hilflose junge Grace, dieses unschuldige Mädchen, von diesem verantwortungslosen Mann zu einer schuldbeladenen und unglücklichen Frau gemacht wurde. Und auf einmal erklärte sich so vieles in ihrem Benehmen …

Er verstand jetzt, warum Grace sich in der Schule in sexueller Hinsicht so merkwürdig benommen hatte. Das war ja ein typisches Verhalten bei Menschen, die als Kind missbraucht worden waren. Er verstand auch, warum sie so zwanghaft um Aufmerksamkeit gebettelt hatte. Ihre Probleme waren übermächtig, und sie hatte sich nach Liebe und Geborgenheit gesehnt. Auch wenn der Reverend schon verschwunden war, als Grace auf die Highschool kam, lastete das furchtbare Geheimnis noch immer auf ihr, schwerer vielleicht sogar, weil sie älter geworden war. Und auch sonst war es für sie schwer, denn ihre Familie wurde abgelehnt. Ihre Mutter hatte keine besonders gute Ausbildung und musste für wenig Geld sehr viel arbeiten. Die Montgomerys wurden argwöhnisch betrachtet und waren das Opfer schlechter Scherze und böser Bemerkungen; angeblich waren sie “asozial”.

Die schöne Frau, die er eben noch unten im See in seinen Armen gehalten hatte, war alles andere als das. Wenn er an die Anspielungen und höhnischen Bemerkungen dachte, die seine Freunde in Bezug auf Grace gemacht hatten, und wenn er sich dann vorstellte wie sie ihn einst bewundert hatte, damals, als er es versäumt hatte, sich für sie einzusetzen, dann fühlte er eine schwere Schuld, die ihm beinahe körperliche Schmerzen verursachte.

“Warum?”, murmelte er vor sich hin. Warum hatte er sich damals nicht überwunden und ihr etwas Mitgefühl geschenkt? Warum hatte er nicht versucht, die anderen abzuhalten?

Offenbar war er auch nicht besser als Joe und die anderen. Er hatte nichts getan. Und sie hatte es trotzdem geschafft. Sie hatte ihren Highschool-Abschluss gemacht, sie war aufs College gegangen und schließlich sogar auf die Universität, um Jura zu studieren. Sie war Staatsanwältin geworden. Eine richtig gute.

Das war beeindruckend. Das, was sie erreicht hatte, nachdem sie Stillwater verlassen hatte, war mehr als beeindruckend. Aber die Narben von früher waren immer noch da. Das wusste er jetzt.

Ihm fiel ein, dass eines Tages Grace’ Bruder Clay in der Schule erschienen war, um Tim zu verprügeln. Clay war auch schon als Jugendlicher unglaublich stark. Er konnte Gewichte von über hundert Kilogramm stemmen. In der Turnhalle hing immer noch eine Plakette, auf der sein Name stand, weil er zu den Besten gehört hatte. Kennedy hatte es im Gewichtheben nie so weit gebracht wie Clay.

Hatten Clay und seine Mutter herausgefunden, dass der Reverend seine Stieftochter missbrauchte, und ihn in einem Wutanfall umgebracht? Oder hatten sie vorher einen Plan geschmiedet, wie sie ihn loswerden könnten, damit er nicht noch mehr Unheil anrichten konnte? Es war auch möglich, dass die kleine Grace selbst sich gewehrt hatte, um sich von ihrem Stiefvater zu befreien, und dass die Familie jetzt zusammenhielt, um sie zu schützen.

Was auch immer geschehen war: Für Kennedy war jetzt klar, dass die Geschichte, die sie immer wieder vom Verschwinden des Reverends erzählt hatten, nicht stimmte. Bevor er die Bibel gefunden und Lee Barkers Eintragungen gelesen hatte, hatte er noch geglaubt, was die Montgomerys bislang behauptet hatten. Angeblich war der Reverend aus unerklärlichen Gründen ganz plötzlich verschwunden. Das konnte Kennedy inzwischen nicht mehr akzeptieren. Ihm war nun klar, dass die Montgomerys tatsächlich an dem Verschwinden ihres Familienoberhauptes schuld waren, so wie alle im Ort es vermuteten.

Aber nach allem, was der Reverend getan hatte, war es schwierig, ein Urteil über sie zu fällen.

Die Sonne brannte auf Grace’ Zelt. Sie drehte sich um, immer noch schläfrig, aber es war jetzt so heiß, dass sie es kaum noch aushielt. Es war noch recht früh am Tag, etwa halb neun. Kennedy und die Jungs waren schon auf. Sie hörte sie reden und roch schon den gebratenen Speck.

“Jetzt weiß sie doch, dass du ein netter Mensch bist, hab ich recht, Dad?”, fragte Teddy.

“Lass uns lieber später darüber sprechen”, antwortete Kennedy leise.

“Ich glaube, sie kann dich ganz gut leiden.”

Kennedy räusperte sich. “Das reicht jetzt, Teddy.”

“Okay, aber du magst sie doch auch, stimmt’s? Sie ist doch hübsch, oder, Dad?”

“Sogar sehr hübsch.”

Grace stöhnte auf, als ihr die Ereignisse der letzten Nacht wieder in den Sinn kamen. Sie hatte Kennedy geküsst und ihm Sex angeboten. Das war mehr als peinlich, aber sie wusste, dass sie es wieder tun würde, wenn es half, ihr Verhältnis zueinander zu klären. Gelang ihr das nicht, würde es nur noch schlimmere Probleme geben. Sie erinnerte sich an Kennedys Gesichtsausdruck, als sie ihn über das Verhältnis zu ihrem Stiefvater angelogen hatte.

Warum ist sie nicht stärker gewesen?

Sie rollte zur Seite und bemerkte ihr Handy. Bis zu diesem Moment hatte sie überhaupt nicht an George gedacht. Aber sie hatte ihn ja ohnehin schon verloren. Ihr ganzes Leben hatte sich in nur einer Nacht völlig verändert.

“Sie ist wirklich sehr hübsch”, meldete Heath sich zu Wort.

“Jetzt nimm mal die Pfanne mit dem Rührei und bring sie her”, befahl Kennedy.

Grace schälte sich aus dem Schlafsack. Sie würde Kennedy gegenübertreten müssen, das stand fest. Also war es besser, sie brachte es gleich hinter sich. Vielleicht konnten sie ihre Begegnung am See ja einfach vergessen, ungeschehen machen, so tun, als wäre nichts passiert. Und dann ihrer Wege gehen.

Aber sie konnte und wollte nicht vergessen, was sie in diesem Moment empfunden hatte.

“Ich bekomme das nie in den Griff”, murmelte sie.

“Ich glaube, sie ist aufgewacht”, rief Teddy erfreut aus, und beim Klang seiner Stimme musste sie trotz allem lächeln.

“Warte, Teddy”, mahnte Kennedy. “Sie muss sich doch erst mal anziehen.”

“Ich wollte ihr doch nur guten Morgen sagen”, nörgelte Teddy.

Grace zog sich ein T-Shirt über, griff nach ihrer Waschtasche, zog die Flip-Flops an und kroch aus dem Zelt. Ihre Frisur musste schrecklich aussehen; sie war mit nassen Haaren schlafen gegangen. Aber Kennedy schien es nicht zu bemerken. Er wandte sich zu ihr um, als er sie hörte. Sie sahen einander an. Irgendetwas Unsichtbares spielte sich zwischen ihnen ab. Sie fühlte sich stark und selbstbewusst in seiner Gegenwart. Das war merkwürdig – nach allem, was letzte Nacht geschehen war.

Sie erinnerte sich daran, wie sie sich an ihn geschmiegt hatte. Gott sei Dank hatten sie etwas angehabt, sonst hätte es ganz anders enden können.

“Morgen”, sagte er und reichte ihr einen Teller mit gebratenem Speck.

Sie murmelte eine Antwort, aß ein Stück vom salzigen Speck und tat so, als würde sie sich für nichts anderes interessieren. Dabei war ihr mit einem Mal klar geworden, dass dieser Mann mehr über sie wusste als alle anderen Menschen, abgesehen von ihrer Familie.

“Die Pfannkuchen sind in ein paar Minuten fertig”, sagte er.

“Riecht gut”, entgegnete sie nervös. “Habe ich noch genug Zeit zum Duschen?”

“Klar.”

“Ich bring dich hin”, sagte Heath.

Grace nahm den Jungen an der Hand.

“Ich komme auch mit”, sagte Teddy und bestand darauf, ihre Tasche zu tragen.

Das Geräusch eines Motors lenkte Grace ab. Sie wandte sich um; sicher waren das andere Camper, die kamen oder gingen. Aber es war ein wenig anders.

Sie bekamen Gesellschaft.

“Oh nein”, sagte sie, als sie den Fahrer erkannte.

“Was ist denn los?”, fragte Teddy.

Joe Vincelli stieg aus seinem Wagen, und Heath rannte zu ihm, um ihn zu begrüßen. Teddy blieb neben Grace stehen.

“Hallo, Joe. Ich wusste ja gar nicht, dass du auch kommen wolltest”, sagte Heath.

Auch Grace hatte nichts davon gewusst. “Hast du ihn etwa eingeladen?”, flüsterte sie Kennedy zu. Schlagartig wurde ihr wieder klar, dass Kennedy ja ins Lager ihrer Feinde gehörte. Wie lange würde es dauern, bis er seinen Freunden von der Bibel erzählte und von dem, was letzte Nacht geschehen war?

“Nein”, sagte Kennedy, aber er hatte keine Gelegenheit, ihr etwas zu erklären.

“Dachte mir doch, dass ihr hier seid”, sagte Joe.

“Was gibt’s Neues?”, fragte Kennedy.

Joe warf Grace einen Blick zu. “Als du sagtest, dass du zelten willst, hast du nichts davon erzählt, dass du Gracie mitnehmen willst.”

“Sie heißt Grace”, entgegnete Kennedy. “Und du hast mich nicht danach gefragt.”

“Grace, klar.” Joe lächelte süffisant. Er fand Kennedys Zurechtweisung offenbar amüsant. “Macht euch keine Sorgen. Ich bin hier, um den Kandidaten zu entlasten.”

Entlasten?”, fragte Grace.

“Du weißt doch, dass Politiker immer viel zu unvorsichtig sind.”

“Soll heißen …”

“Soll heißen, dass ich es im Gegensatz zu Kennedy nicht nötig habe, mir um meinen guten Ruf Sorgen zu machen.” Er zwinkerte ihr zu. “In dieser Hinsicht ähneln wir beide uns.”

“Wir ähneln uns kein bisschen”, widersprach sie.

Wieder warf er ihr einen wissenden Blick zu. “Wenn du meinst.” Dann beugte er sich in seinen Wagen und holte eine Dose mit Donuts heraus. “Ich hab euch was mitgebracht.”

“Hast du auch welche mit Streuseln drauf?”, fragte Teddy.

Joe schüttelte den Kopf. “Soll das ein Witz sein? Nur Schwächlinge mögen Streusel. Magst du etwa Streusel?”, fragte er Heath.

“Ja, ich mag Streusel”, antwortete der Junge.

Teddy nahm Grace’ Tasche in die anderen Hand und ergänzte: “Grace mag sie auch mit Streuseln.”

Joe warf ihr einen erstaunten Blick zu. “Donnerwetter, du hast ja viele Eroberungen gemacht. Wurde Zeit, dass ich komme.”

“Was meinst du damit?”, fragte Grace.

Er lachte vor sich hin. “Nichts.”

“Das will ich hoffen”, sagte Kennedy.

Joe ignorierte diese Bemerkung und gab Heath einen Stups. “Vielleicht kannst du Grace ja überreden, nett zu mir zu sein, dann fahre ich noch mal in die Stadt zurück und hole Donuts mit Streuseln.”

Sie hob die Hand und sagte: “Mach dir meinetwegen keine Mühe.” Damit drehte sie sich um und ging zu den Waschräumen. Was auch immer gestern passiert war – der heutige Tag würde noch viel schlimmer werden.

Kennedy sah Grace nach, wie sie mit seinen Söhnen davonging. Als sie außer Hörweite waren, wandte er sich an Joe. “Was machst du denn hier? Du musst ja schon um fünf Uhr losgefahren sein, um so früh hier aufzukreuzen.”

“Ich sagte doch gestern, dass ich vielleicht zum Campen nachkomme”, sagte Joe.

“Stimmt nicht”, widersprach Kennedy. “Zum Pickwick-See wolltest du nicht mitkommen.”

Joe kam näher und vertilgte dabei einen Donut mit zwei Bissen. “Ist doch gar nicht schlecht hier”, stellte er kauend fest.

“Wie kommt es denn, dass du deine Meinung geändert hast?”

“Braucht man denn immer einen Grund, wenn man seinen besten Freund besuchen will?”

“Du wusstest, dass Grace hier ist. Woher?”

Joe zögerte. Offenbar überlegte er, ob er den wahren Grund seines Besuchs leugnen sollte, aber dann zuckte er mit den Schultern. “Buzz hat gesehen, dass du mit einer Frau auf dem Beifahrersitz weggefahren bist.”

Kennedy legte die restlichen Schinkenscheiben auf einen Papierteller. “Und das fandest du so spannend, dass du den ganzen Weg hierhergefahren bist?”

“Seit Raelynns Tod bist du mit keiner Frau mehr zusammen gewesen. Ich war neugierig, wer es sein würde.” Er machte große Augen. “Ich hätte nie damit gerechnet, dass es Grace sein könnte.”

Kennedy glaubte ihm nicht. Joe hatte bei ihrem Anblick nicht besonders überrascht gewirkt. “Dann weißt du es ja jetzt.”

Joe schnalzte mit der Zunge und verschränkte die Arme. “Ja, jetzt weiß ich es. Aber ich hätte es mir gleich denken können. Irgendwie logisch, oder?”

Kennedy wusste, es war ein Fehler, ihn danach zu fragen, aber Joes Verhalten verwunderte ihn so sehr, dass er sich nicht zurückhalten konnte: “Was ist logisch?”

“Ich verstehe jetzt, warum du dich weigerst, McCormick dazu zu bringen, neue Nachforschungen über das Verschwinden meines Onkels aufzunehmen.”

“Ich hab dir doch gesagt, warum.”

“Das hast du.” Joe grinste. “Aber du hast nicht erwähnt, dass dir eine Frau im Bett wichtiger ist als Gerechtigkeit.”

Kennedy legte den Pfannenwender auf den Baumstumpf zu den anderen Küchengeräten. “Wir kennen uns doch jetzt schon sehr lange”, sagte er und senkte die Stimme. “Ich verdanke dir mehr als allen anderen. Aber wenn du so etwas noch einmal zu mir sagst, dann schlag ich dir eins in die Fresse. Und glaub mir, ich werde es tun, obwohl ich mich um das Amt des Bürgermeisters bewerbe.”

Es dauerte einen Augenblick, bis Joe verstanden hatte, dass Kennedy es ernst meinte. Das amüsierte Grinsen verschwand aus seinem Gesicht. “Du willst doch nicht etwa zulassen, dass sich eine Frau zwischen uns drängt? Ausgerechnet die willige Gracie? Ist sie denn so gut im Bett?”

Kennedy bemerkte das bösartige Blitzen in Joes Augen. Er hatte diesen Ausdruck schon öfter gesehen – zum Beispiel, wenn er in der Billardhalle eine Auseinandersetzung provozierte oder einen Streit mit seiner Ex-Frau vom Zaun brach. Aber er sah, dass Teddy und Heath schon auf dem Weg zurück zum Zelt waren. Sie rannten um die Wette. Kennedy griff wieder nach dem Pfannenwender und bemühte sich, die Situation möglichst harmlos erscheinen zu lassen. “Das weiß ich nicht.”

“Aber du willst es herausfinden.”

“Ich wollte Gesellschaft, das war alles.”

Heath gelang es, den Wagen zu berühren, bevor Teddy es schaffte. “Gewonnen!”, rief er aus.

“Du hast gemogelt”, beschwerte sich Teddy.

“Nein, stimmt nicht”, sagte Heath.

“Du bist zu früh losgerannt!”

Heath legte eine Hand auf die Brust, um zu unterstreichen, dass er fälschlich beschuldigt wurde. “Ich hab doch gezählt, eins, zwei, drei, los.”

“Aber ich hab’s nicht gehört!”

“Na gut, dann rennen wir eben wieder zurück.”

“Okay, eins, zwei, drei, los!”, rief Teddy und rannte los, bevor sein Bruder darauf vorbereitet war.

Als die Jungen verschwunden waren, stieß Joe seinen Freund freundschaftlich in die Seite. “Tut mir leid. Ich bin unzufrieden. Und habe es satt, geschieden zu sein, und mein Job geht mir auch auf die Nerven. Ich hab einfach keine Lust auf den immer gleichen Trott, das gebe ich ja zu. Ich gebe sogar zu, dass Grace sich offenbar ganz schön verändert hat. Ich kann ja verstehen, was du an ihr findest. Aber sie ist trotzdem immer noch die Gleiche, Kennedy. Lass dich nicht von ihrem hübschen Gesicht beeindrucken, sonst machst du dich nur zum Narren.”

“Da mach dir mal keine Sorgen.”

“Du willst sie gar nicht rumkriegen?”

Kennedy wollte schon zustimmen, aber es gelang ihm nicht. Vielleicht war Grace ja wirklich nicht gut für ihn, aber im Augenblick begehrte er sie nun mal. “Soweit ich weiß, hat sie einen Freund in Jackson”, lenkte er ab.

Joe schnappte sich ein Stück Speck. “Trotzdem bist du das Risiko eingegangen, sie hierher mitzunehmen.”

“Risiko?”

“Du weißt doch, wie die Leute reden.”

“Ich habe sie zum Zelten mitgenommen. Was ist schon dabei?”

Joe nahm sich noch ein Stück Speck und grinste breit.

“Was soll denn dieses Grinsen?”, fragte Kennedy.

Joe deutete hinter den Jungs her. “Du brauchst eine gute Mutter für die beiden. Und wenn du Karriere machen willst, muss es eine Frau mit untadeligem Ruf sein. Das wirst du ja wohl kaum vergessen haben.”

Er hatte recht, aber Kennedy wollte nichts davon hören. Schon gar nicht von Joe. “Ich werde vielleicht ein paarmal mit ihr ausgehen, wenn wir zurück sind”, sagte er.

Joe starrte ihn an. “Wieso?”

“Wieso nicht?”

“Weil deine Eltern das bestimmt nicht gut finden.”

“Ich bin einunddreißig Jahre alt, Joe. Ich werde nicht jede Entscheidung davon abhängig machen, was meine Eltern davon halten.” Andererseits sollte er sich angesichts des Gesundheitszustandes seines Vaters besonders rücksichtsvoll verhalten.

“Auch vielen anderen wird es nicht gefallen”, sagte Joe.

“Meinst du dich selbst damit?”

“Sie hat meinen Onkel auf dem Gewissen.”

Kennedy warf einen prüfenden Blick auf den Speck in der Pfanne. Inzwischen glaubte er mehr als je zuvor, dass dies der Wahrheit entsprach. “Gibt es Beweise dafür?”

“Das ist ja das Problem.”

“Du steigerst dich da nur in etwas hinein. Und du musst dir wirklich keine Sorgen darüber machen, dass wir jemals heiraten.”

“Das beruhigt mich wirklich.” Joe nickte vor sich hin, als hätte er etwas verstanden. Kennedy war sich nicht sicher, was das war. Aber ihm war klar geworden, dass Grace ihm mehr bedeutete, als Joe es tat. Und er war bereit, seine Freundschaft mit dem Mann zu riskieren, der ihm das Leben gerettet hatte – ausgerechnet für die Frau, von der er am allerwenigsten erwarten konnte, dass sie seine Gefühle erwiderte.

Grace duschte sehr lange. Sie hoffte, dass Joe wieder fort war, wenn sie zurückkam. Aber so war es leider nicht. Er hatte sich auf einem Baumstamm neben dem Picknicktisch niedergelassen und frühstückte.

Kaum war sie da, schaute er sie unverwandt an, bis sie sich ihm gegenüber auf einen der drei Klappstühle gesetzt hatte. Auch Kennedy sah sie die ganze Zeit an. Sie wünschte, sie wäre niemals mitgekommen. Mit Joe hielt sie es einfach nicht aus, und Kennedy wusste inzwischen so viel über sie, dass es ihr unangenehm war, in seiner Nähe zu sein.

“Willst du was essen, Grace?”, fragte Teddy.

Sie nickte, und Kennedy reichte seinem Sohn einen Teller mit zwei Pfannkuchen und Speck und einem Ei, damit er es ihr bringen konnte.

“Willst du ein bisschen Saft?”, fragte Heath, der schon bereitstand, um ihr etwas einzuschenken.

Sie lächelte. Sie mochte Kennedys älteren Sohn inzwischen genauso gern wie Teddy. “Gern.”

Joe half ihm beim Einschenken und nahm dann den Becher, bevor Heath die Gelegenheit dazu hatte, und brachte ihn selbst zu ihr. “Es geht doch nichts über Pfannkuchen mit Speck, wenn man zeltet.”

“Aber die Marshmallows, die wir gestern Abend gegrillt haben, waren noch besser”, sagte Teddy.

Grace stimmte zu. Aber Joe war so erpicht darauf, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen, dass er Teddy völlig ignorierte. “Ich kann einen ziemlich guten Beerenauflauf machen, stimmt’s, Kennedy?”

Kennedy war heute Morgen sehr zurückhaltend. “Ja”, gab er zu. Es klang so neutral, das Grace nicht heraushören konnte, ob er nun über die Gegenwart von Joe erfreut war oder nicht. Dennoch schien er sich nicht gerade zu überschlagen, um seinen Freund willkommen zu heißen.

“Ich kann euch heute Abend einen backen, wenn ihr wollt”, sagte Joe.

Grace verging augenblicklich der Appetit. Wollte Joe etwa den ganzen Tag hierbleiben?

“Magst du Pfirsiche lieber oder Brombeeren, Grace?”, fragte Joe, und falls sie sich nicht täuschte, lächelte er sie dabei sogar an.

“Ist mir beides gleich”, sagte sie. Sie wollte vorschlagen, dass sie zurückfahren sollten, aber sie wusste, dass Teddy und Heath furchtbar enttäuscht sein würden, und brachte es nicht über sich. Irgendwie würde sie bis morgen durchhalten. Immerhin hatte Joes Anwesenheit den Vorteil, dass sie nicht auf den Gedanken kommen konnte, irgendetwas Dummes mit Kennedy anzufangen.

“Ich mag Brombeeren am liebsten”, erklärte Teddy.

Joe warf seinen leeren Teller in den schwarzen Müllsack und ging zum Tisch. “Also dann Brombeeren. Möchte jemand mit mir in die Stadt fahren, um die Zutaten zu besorgen?”

Heath meldete sich, aber Joe stieß Grace mit dem Fuß an. “Was ist mit dir?”

“Nein, danke.”

“Grace geht mit mir schwimmen, stimmt’s?”, sagte Teddy.

“Stimmt”, antwortete sie.

“Hurra!”, rief Teddy aus. “Ich zieh mir gleich die Badehose an.”

“Und was ist mit dir, Kennedy?” Joe warf Grace einen Blick von der Seite zu, was wohl besagen sollte, dass er seinen Freund nicht mit ihr allein lassen wollte.

“Nein, danke. Ich muss noch saubermachen.”

Ganz offensichtlich war Joe nicht sehr erfreut darüber, dass Heath als Einziger mitkommen wollte, aber schließlich zuckte er mit den Schultern und sagte: “Okay, dann also los.”

Nachdem er in seinen Wagen eingestiegen war, ließ er das Fenster herunter und sagte: “Wir sind ungefähr in einer Stunde wieder zurück.”

“Pass auf, dass Heath den Sicherheitsgurt anlegt”, mahnte Kennedy.

Joe macht eine abschätzige Handbewegung. “Reg dich nicht auf. Das sagst du mir jedes Mal, wenn ich ihn mitnehme. Es gibt eine Anschnallpflicht, das weißt du doch.”

“Die du offenbar nicht so ernst nimmst”, antwortete Kennedy.

“Persönliche Freiheit gegen persönliche Sicherheit”, sagte Joe mit einem anzüglichen Grinsen. “Das musst du mir nicht erklären.”

Angesichts von Joes Verhalten und Raelynns Unfall war es kein Wunder, dass Kennedy sich sorgte, aber Grace sagte nichts, bis Joe und Heath davongefahren waren. Dann ging sie zu der Plastikwanne, die Kennedy gerade mit Seifenwasser gefüllt hatte, und sagte: “Ich bin mit dem Abwasch dran. Und du gehst mit Teddy schwimmen.”

“Ich mach das schon. Es geht doch ganz schnell”, sagte er.

Sie wollte schon widersprechen, ließ es dann aber bleiben und ging zu ihrem Zelt. Es war bestimmt besser, jeden allzu nahen Kontakt mit Kennedy zu vermeiden.

“Grace?”

Sie drehte sich zu ihm um. “Was denn?”

“Wer hat dich letzte Nacht angerufen?”

Sie zögerte kurz, fand dann aber, dass es nichts schaden konnte, wenn sie ihm die Wahrheit sagte. “George.”

“Der Mann, den du heiraten möchtest?”

“Genau der.”

“Und?”

Sie zuckte mit den Schultern. “Ich würde sagen, die Hochzeit ist geplatzt.”

“Und eure Beziehung?”

“Auch.” Sie versuchte möglichst neutral zu klingen, aber an seinem besorgten Blick erkannte sie, dass ihr dies nicht besonders gut gelungen war.

Kennedy stand da, in der einen Hand die Pfanne, in der anderen die Bürste, und schien nicht so genau zu wissen, was er mit beidem anfangen sollte. “Das tut mir leid.”

“Das muss es nicht. Es ist besser so für ihn”, sagte sie und schlüpfte ins Zelt.