13. KAPITEL
Kennedy stand im Wald. In der Hand hielt er die in eine schwarze Mülltüte eingehüllte Bibel. Die Tüte hatte er aus einem Mülleimer neben den Waschräumen genommen. Jetzt, nachdem er sich entschieden hatte, das Buch nicht zu vernichten, musste er sich überlegen, wo er es verstecken wollte. Er wollte es nicht in seinen Wagen zurücklegen, wo Grace oder seine Söhne es womöglich finden würden, aber von dem Gedanken, die Bibel wieder mit nach Hause mitzunehmen, war er ohnehin nicht begeistert. Wo sollte er dort nur damit hin? Je mehr Aufwand er betrieb, um sie zu verstecken, umso unangenehmere Fragen würde es geben, wenn etwas schiefging.
Das Beste wäre, sie gleich loszuwerden. Warum sollte er die Bibel von Reverend Barker mit sich herumschleppen? Wenn er sie hier vergrub, war die Wahrscheinlichkeit, dass jemand darüber stolperte, relativ gering, erst recht an einem so abgelegenen Ort. Und wenn es nötig war, wusste er, wo er sie finden konnte.
Er fand einen länglichen spitzen Stein und begann, am Fuß einer hohen Kiefer zu graben. Es war schon spät, und er war müde, aber er wollte die Bibel so tief wie möglich vergraben; nicht, dass ein Waschbär oder ein anderes Tier sie wieder ausbuddelten.
Eine Toilettentür fiel zu. Dann schrie ein Kind in einem benachbarten Zelt, wurde aber schnell wieder beruhigt. Die Bäume ringsherum bewegten sich nicht und hielten ihre Äste schützend über ihn, während er konzentriert ein kleines, aber tiefes Loch aushob – bis er die Stimme von Joe hörte.
“Kennedy?”
“Mist”, murmelte er vor sich hin und schaltete seine Taschenlampe aus. Hastig grub er weiter.
“Bist du irgendwo?”
Das Loch war jetzt tief genug. Er legte die Tüte mit der Bibel hinein und begann, es wieder zuzuschütten. Er war gerade dabei, die Erde festzutreten, als es zwischen den Zweigen raschelte.
“Kennedy?”
Er stieß den Stein beiseite, den er als Schaufel benutzt hatte, hob seine Taschenlampe auf und stand gerade wieder aufrecht, als Joes Silhouette vor ihm auftauchte.
“Hier bin ich”, rief Kennedy halblaut.
“Was zum Teufel tust du denn im Wald?”
Kennedy dirigierte Joe ein Stück weit weg von der Stelle, an der er gerade gegraben hatte. “Ich habe nachgedacht.”
“Worüber denn?”
“Über Raelynn”, antwortete er und hoffte, dass sie ihm diese Lüge verzeihen würde.
“Du bist immer noch nicht darüber hinweggekommen, stimmt’s?”, sagte Joe. Es war mehr eine Feststellung.
Kennedy fragte sich, ob er überhaupt jemals über den Verlust von Raelynn hinwegkommen könnte. Sie war ein Teil seines Lebens und würde es immer sein. Allerdings bezweifelte er, dass Joe das verstand, genauso wie er sicher nicht nachvollziehen konnte, dass sich in Kennedys Gefühlswelt etwas geändert hatte. Inzwischen war der akute Schmerz über den Tod seiner Frau einem Gefühl der Leere gewichen, und Kennedy sehnte sich nach einer neuen Beziehung. Nach Liebe – und nach Sex. Nach Lachen und gemeinsamen Unternehmungen. Nach all dem eben, was er mit Raelynn erfahren hatte. “Sie war einfach wunderbar”, sagte er und meinte es auch so.
Joe nickte. “Das ist wahr. Es wird nicht leicht für dich sein, eine andere zu finden.” Er lachte abschätzig. “So eine wie Grace kann ihr ja wohl kaum das Wasser reichen.”
Für Kennedy war klar, dass die meisten Menschen in Stillwater Grace völlig falsch einschätzten. Sie ließen nur ihre Verfehlungen gelten und dachten nicht darüber nach, dass es ihr immer wieder gelungen war, aufzustehen und weiterzumachen. “Wir sind alle ein Produkt unserer Erfahrungen”, sagte er.
Joe warf ihm einen verwirrten Blick zu. “Was meinst du denn damit?”
Kennedy war sich selbst nicht über seine Gefühle im Klaren. Aber er wusste, dass Grace sich ganz eindeutig von den Frauen unterschied, die er bislang kennengelernt hatte. “Stell dir vor, du pflanzt eine Blume an einen perfekten Ort mit genau der richtigen Menge Wasser und Sonne. Wärst du überrascht, wenn sie blüht?”
“Wieso redest du denn jetzt auf einmal von Blumen?”, fragte Joe begriffsstutzig.
“Ist nur eine Analogie.”
“Nein, ich wäre wohl nicht überrascht”, sagte Joe schulterzuckend. Offenbar hatte er nicht verstanden, worauf Kennedy hinauswollte.
“Und wenn eine seltene, besonders schöne Blume an einem kargen Ort ohne viel Licht und mit nur wenig Wasser gedeiht – überrascht dich das?”
“Was redest du denn da?”
“Beantworte einfach meine Frage.”
Joe zögerte, aber dann sagte er störrisch: “Ja, klar. Dann wäre ich wohl überrascht.”
“Du würdest diese Pflanze beschützen, nicht wahr? Du würdest sie als eine Art Wunder betrachten.”
“Willst du damit etwa sagen, dass du Grace für ein Wunder hältst? Sie hat mit fast allen deinen Freunden geschlafen. Was ist daran bewundernswert?”
Joe verstand es einfach nicht, das hätte Kennedy sich eigentlich denken können. Er überlegte, ob er all die wenig bewundernswerten Dinge erwähnen sollte, die Joe sich geleistet hatte, entschied dann aber, dass es keinen Sinn machte. Stattdessen gab er ihm einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter, um die Spannung zwischen ihnen abzumildern, und schob ihn Richtung Campingplatz. “Vergiss es.”
“Wir sind zusammen aufgewachsen”, sagte Joe. “Ich dachte, ich würde dich kennen. Aber so langsam mache ich mir Sorgen.”
Kennedy wurde langsam klar, dass Joe ihn überhaupt nicht kannte. Komischerweise waren sie so sicher besser dran. Es würde ihre Freundschaft höchstwahrscheinlich zerstören, wenn sie sich ihre Unterschiede bewusst machten. “Mach dir keine Sorgen”, entgegnete er schnell. “Es bleibt alles beim Alten.”
“Meinst du wirklich?”, fragte Joe skeptisch.
“Ganz bestimmt”, versicherte Kennedy. In ein paar Wochen oder Monaten würde Grace Stillwater wieder verlassen, und dann musste er sie vergessen.
Joe wartete, bis Kennedy eingeschlafen war, dann kroch er wieder aus seinem Zelt. Er konnte kaum glauben, was Kennedy vorhin zu ihm gesagt hatte – diesen ganzen Unsinn über seltene Blumen, die an kargen Orten blühten und irgendwelche Wunder. Für Joe war Grace keine seltene Blume. Er bezweifelte ja nicht, dass sie sehr gut aussah. Aber sie und ihre Familie hatten einen Mord auf dem Gewissen, und seither führten sie alle an der Nase herum.
Der größte Witz war, dass Grace Staatsanwältin geworden war. Viel weniger verwunderlich aber, dass sie nie einen Fall verlor. Sie konnte sich wahrscheinlich nur allzu gut in die Psyche eines Mörders hineinversetzen und kannte alle Vertuschungsstrategien – entweder aus eigener Erfahrung, oder sie hatte sie am Beispiel ihrer Mutter und ihres Bruders Clay kennengelernt.
Und jetzt hatte sie auch noch die Nerven zu glauben, sie könnte in ihre Heimatstadt zurückkehren und allen eine lange Nase machen, die sie früher gekannt hatte …
Doch genau das wollte Joe nicht zulassen. Er nahm die Taschenlampe vom Campingtisch, wo Kennedy sie hingelegt hatte, und ging damit Richtung Waschräume. Er wollte wissen, was Kennedy und Grace dort gemacht hatten. Es war wirklich kaum zu glauben, dass sie zur selben Zeit ihr Zelt verließen, um unabhängig voneinander mitten in der Nacht durch den Wald zu streifen.
Die naheliegende Antwort war, dass sie miteinander rumgemacht hatten, aber das glaubte Joe gar nicht. Dazu war die Situation nicht entspannt genug. Sie hatten regelrecht unter Strom gestanden, und das brachte Joe zu der Ansicht, dass es nicht um Sex gegangen war.
Aber worum dann? Was hatten sie zusammen im Wald gemacht?
Er lief den Pfad entlang zu der Stelle, wo er Kennedy vorhin aufgestöbert hatte, schaltete seine Lampe ein und suchte nach Spuren, die die beiden hinterlassen hatten. Er wusste nicht genau, wonach er suchte. Eine Kondomverpackung? Eine Decke? Aber Kennedy musste irgendeinen Grund gehabt haben, im Wald herumzulaufen. Joe ist schon dutzende Male mit ihm Zelten gewesen seit Raelynns Tod, und nie zuvor war Kennedy mitten in der Nacht aufgestanden. Es gab nicht viele Leute, die frühmorgens um drei Uhr in den Wald gingen, um “nachzudenken”.
Der Geruch von Kiefernnadeln stieg in seine Nase. Er entdeckte etwas Glänzendes, aber es war nur eine zerbeulte Bierdose. Auch eine Zigarettenkippe und ein nasses Papierhandtuch fand er, aber das war alles nur Müll, den jemand anders hier hinterlassen hatte.
Es war einfach zu dunkel, um etwas zu finden. Er nahm sich vor, am Morgen wiederzukommen, und trottete zurück zu seinem Zelt.
Das Gezwitscher der Vögel weckte Joe gleich nach Sonnenaufgang. Heath und Teddy wälzten sich auch schon herum. Sie krochen alle zur selben Zeit aus den Zelten. Joe murmelte, er müsse zur Toilette, und beeilte sich, in den Wald zu kommen, um dort noch mal zu suchen.
Aber selbst im Sonnenlicht, das durch das Blätterdach drang, konnte er nichts Ungewöhnliches an der Stelle entdecken, an der Kennedy und Grace sich letzte Nacht aufgehalten hatten. Es gab keine Hinweise darauf, was sie wohl getan hatten. Das Einzige war eine kleine Senke, vor einem Baum, die so aussah, als ob da gegraben worden wäre, aber …
Er trat näher und stieß gegen einen Erdklumpen.
“Willst du etwa in den Wald pinkeln, so wie im letzten Jahr, Onkel Joe?”
Joe wirbelte herum und stellte fest, dass Kennedy und Teddy ihm gefolgt waren.
“Ja”, sagte er so neutral wie möglich. “Ich hasse diese öffentlichen Toiletten.”
“Da stinkt es immer.” Teddy rümpfte die Nase und blickte hoch zu seinem Vater. “Darf ich auch hier pinkeln? Darf ich, Dad?”
Kennedy warf Joe einen etwas zu langen Blick zu und sagte: “Nein.”
“Warum nicht?”, fragte Teddy.
“Weil die Toiletten nur ein paar Meter entfernt sind.”
“Aber da stinkt es.”
“Du wirst es überleben”, sagte Kennedy und schob seinen Sohn durchs Unterholz.
Joe schaute ihnen nach. Dann pinkelte er gegen den nächstliegenden Baumstamm, einfach um mal etwas zu tun, was ein Archer nicht tun durfte. Es war ihm scheißegal, ob die Toiletten nur ein paar Meter entfernt waren. Er tat, was er wollte – und wenn Grace jetzt zufällig hier auftauchen würde, umso besser. Er würde ihr sehr gern zeigen, dass er inzwischen mehr zu bieten hatte als zu der Zeit, als sie noch jung gewesen waren.
Er streichelte sich ein paarmal und freute sich, als sein Penis anschwoll. Er war so groß, dass sie bestimmt beeindruckt wäre.
Als er Teddys Stimme näher kommen hörte, zog er seinen Reißverschluss hoch. Dennoch merkte er, dass er so scharf war wie schon lange nicht mehr.
Es wurde Zeit, dass er mal wieder Cindy besuchte. Bei ihr durfte er dann und wann über Nacht bleiben, wenn er eine ihrer Rechnungen bezahlt oder ihr Auto oder was anderes repariert hatte. Eigentlich wollte sie ihn aus ihrem Leben ausschließen, aber sie fühlte sich zu einsam, um konsequent zu sein.
Frauen waren so leicht zu handhaben, wenn man wusste, was sie brauchten.
Das würde Grace bestimmt auch bald merken.
Grace wollte sich endlich von Kennedy verabschieden. Sie musste jetzt unbedingt allein sein, sich auf sich selbst besinnen und herausfinden, wie sie zu all dem stand, was an diesem Wochenende geschehen war. Doch als er ihre Tasche auf dem Treppenabsatz abgestellt hatte und fortging, hatte sie das eigenartige Gefühl, etwas zu verlieren.
“Vielen Dank für deine Gesellschaft”, sagte er ganz formal. Er war den ganzen Vormittag so zurückhaltend.
Seit ihrer Begegnung im Wald verhielt er sich distanziert. Er war höflich, und sie hasste es. Sie mochte es lieber, wenn er Scherze machte oder sie anlächelte. Wenn er ihr diesen fröhlichen und etwas geheimnisvollen Blick zuwarf, hatte sie immer das Gefühl, jemand anderes zu sein, ein Mensch ohne die Last einer schwierigen Vergangenheit.
Aber es war lächerlich, wegen dieses Gefühls auf mehr zu schließen, das wusste sie auch.
“Kennedy?”
Er war schon wieder auf dem Weg zu seinem Wagen. Teddy und Heath winkten zum Abschied durch die Fenster. Sie lächelte und winkte zurück.
“Was denn?”, fragte Kennedy. Als er sich umwandte, zuckte ein Muskel in seinem Gesicht unkontrolliert.
“Du bist wütend auf mich”, stellte sie fest und wunderte sich über ihren plötzlichen Anfall von Offenheit.
“Nein”, erwiderte er. “Ich bin wütend auf mich selbst, weil ich mich in eine Situation gebracht habe, die ich hätte vermeiden sollen.”
Sie atmete angestrengt aus und straffte die Schultern. “Es ist noch nicht zu spät.”
Irgendwann hatte es so kommen müssen, aber jetzt wünschte sie fast, er würde ihr widersprechen. Es war sein Kuss, der all ihre Schutzmechanismen hatte einstürzen lassen. Es war seine Berührung, die ihren Körper mit einer Hitze … einem Feuer durchflutet hatte, vielleicht … heiß genug, um die hasserfüllten Erinnerungen zu verbrennen, die sie immer wieder heimsuchten, wenn ein Mann sie begehrte.
Er schaute sie stirnrunzelnd an, sagte aber nichts.
“Du hast zwei tolle Jungs, Kennedy. Du hast wirklich Glück … trotz des Unglücks mit Raelynn. Aber dennoch … tut es mir sehr leid für dich.” Sie bereute, dass sie überhaupt nur den Anflug eines Gedankens gehabt hatte, sich selbst anstelle von Raelynn zu sehen. Raelynn und Kennedy sind füreinander bestimmt gewesen. “Du wirst bestimmt eines Tages eine Frau finden, die ihren Platz einnehmen kann.”
“Hör auf”, stieß er hervor.
Sie merkte, dass es ihn noch immer schmerzte, über seine verstorbene Frau zu sprechen, und wechselte das Thema: “Vielen Dank für den schönen Ausflug und dafür, dass du dich … um diese Sache gekümmert hast.”
Er schaute sie durchdringend an. “Tu mir bitte einen Gefallen, ja?”
Sie nagte an ihrer Unterlippe: “Was für einen?”
Er senkte die Stimme, damit nur sie hören konnte, was er sagte: “Vergiss deinen Stiefvater. Vergiss die Vergangenheit.”
Sie wollte kein Mitleid, schon gar nicht von ihm. Sie nickte folgsam, als hätte sie schon damit angefangen. “Natürlich.”
Er sah immer noch aus, als würde er ihr nicht glauben. Aber wie sollte sie ihn davon überzeugen? Sie kam nicht mehr dazu, darüber nachzugrübeln. Sie hörte ein Hupen von der Straße.
Es war ihre Mutter. Sie parkte direkt hinter Kennedys Geländewagen ein.
Unter anderen Umständen hätte sie sich über Irenes heruntergeklappten Unterkiefer sicherlich amüsiert, aber heute war ihr ganz und gar nicht zum Lachen zumute. Joe würde sicherlich sehr bald herumerzählt haben, dass er Grace und Kennedy zusammen auf dem Campingplatz ertappt hatte. Warum sollte er auch mit dieser sensationellen Neuigkeit hinterm Berg halten? Und ihre Mutter würde sich wahrscheinlich alles Mögliche ausmalen.
Nach allem, was sie durchgemacht hatte, konnte Grace ihr keinen Vorwurf machen. Sie wünschte, niemand würde von diesem Campingausflug Notiz nehmen. Sie weigerte sich, Kennedy zu benutzen, um ihre Glaubwürdigkeit oder ihren sozialen Status aufzupolieren.
“Na so was. Kennedy Archer. Wie schön, Sie zu sehen!”, sagte Irene und ließ jede Menge Südstaatencharme in ihre Stimme fließen, während sie ausstieg und auf ihn zuschritt.
Kennedy gab sein Politikerlächeln zum Besten – Grace kannte inzwischen den Unterschied zwischen seiner professionellen Freundlichkeit und echter persönlicher Anteilnahme – und streckte ihr seine Hand entgegen. “Hallo, Mrs. Barker! Wie geht es Ihnen?”
“Danke, aber nennen Sie mich doch Irene.” Sie ließ ihre Augenlider flattern. “Wir kennen uns doch schon so lange.”
“Das stimmt natürlich.”
“Wie kommt Ihre Kampagne voran?”
“Nicht so gut.” Er blickte demonstrativ zu dem Plakat in Grace’ Vorgarten. “Wie es scheint, leisten manche erbitterten Widerstand.”
Irene errötete. “Ich werde meinen Einfluss geltend machen. Aber Sie wissen ja, dass meine andere Tochter Madeline Sie mit Ihrer Zeitung unterstützt.”
“Dafür bin ich ihr auch sehr dankbar.”
Irene genoss noch einen Augenblick lang seine Aufmerksamkeit, dann wandte sie sich ihrer Tochter zu, und ihre Augen weiteten sich: “Oh weh! Ist das da Ruß auf deiner Wange?”
“Ich muss unbedingt unter die Dusche”, sagte Grace und rieb sich über die fragliche Stelle.
Kennedy schaute auf seine Jeans. “Wir sind wohl alle ein bisschen schmutzig geworden.”
Irene legte eine mit zahlreichen Ringen geschmückte Hand auf ihr Herz. “Aber … ihr beiden habt doch nicht etwas die Nacht gemeinsam im Wald verbracht?”
Grace biss die Zähne zusammen, als Kennedy antwortete.
“Wir waren zwei Nächte da draußen. Selbstverständlich in zwei verschiedenen Zelten.”
“Das ist aber nett”, sagte Irene und warf Grace einen vielsagenden Blick zu. “Grace hat mir gar nicht erzählt, dass sie am Wochenende etwas vorhatte.”
“Es war auch eher eine spontane Entscheidung”, murmelte sie.
“Die dich davon abgehalten hat, nach Jackson zu fahren. Ich verstehe.”
Kennedy sah Grace an. “Ich hoffe, du bekommst jetzt keine … Probleme deswegen.”
So wie er das Wort “Probleme” aussprach, war klar, dass er George damit meinte. “Nein”, sagte sie. “Es wäre sowieso so gekommen.”
Bevor Irene fragen konnte, worüber sie da eigentlich sprachen, schaltete sich Teddy ein. “Mrs. Barker, Mrs. Barker, wissen Sie was?”
Irene gelang es, dem Jungen ein freundliches Lächeln zu schenken, auch wenn sie eigentlich viel mehr an Kennedy interessiert war. “Was denn, mein Junge?”
“Ich kann fast genauso lange unter Wasser die Luft anhalten wie Grace.”
“Das ist ja toll. Da habt ihr wohl eine Menge Spaß gehabt.”
“Es war super!” Er legte sein Kinn auf die Hände, mit denen er sich am Autofenster festhielt. Dann reckte er sich erneut. “He, Dad! Kann Grace wieder mitkommen, wenn wir nächste Woche zum Feuerwerk fahren?”
Kennedy räusperte sich. “Das werden wir sehen, Teddy.”
Grace schüttelte den Kopf. Sie wollte in Zukunft darauf achten, eine gesunde Distanz zu Kennedy aufrechtzuerhalten. “Tut mir leid, Teddy, aber ich habe schon was anderes vor.”
“Was denn?”, fragte Irene mit schneidender Stimme. Für sie konnte es eindeutig nichts Wichtigeres geben als eine Verabredung mit Kennedy Archer.
Grace suchte verzweifelt nach einem Grund. Am vierten Juli, dem Nationalfeiertag, gab es in der Stadt nicht gerade viel zu tun. Fast alle gingen zum Stadion und breiteten ihre Picknickdecken auf dem Rasen aus, um dem Feuerwerk zuzuschauen. “Ich … ich bin mit Madeline verabredet”, sagte sie lahm.
“Ich bin sicher, Maddy hätte nichts dagegen, wenn sie sich mit dir einen Tag früher oder später trifft”, stellte Irene fest.
Grace warf Kennedy einen Hilfe suchenden Blick zu. Aber der schlug sich jetzt auf Irenes Seite. “Meinst du nicht, dass das möglich wäre?”, fragte er. Seine Augen funkelten. Offensichtlich machte ihm diese Unterhaltung großen Spaß.
“Das ist doch wirklich zu viel der Mühe für eine einzige Wählerstimme”, entgegnete sie.
Er legte verschmitzt den Kopf zur Seite: “Jede Stimme zählt.”
Grace seufzte. “Ich ruf dich an.”
“Bitte, Grace, komm mit!”, rief Teddy ihr aus dem Auto zu.
“Du könntest doch Madeline einfach mitbringen”, schlug Heath vor.
Grace schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr. “Ich frag sie, okay, Jungs?”
“Sie wird bestimmt gern mitkommen”, versicherte Irene und schaute Kennedy ermunternd an.
“Großartig. Ich hoffe, es klappt.” Kennedy lächelte Grace’ Mutter jetzt schon viel herzlicher an. “Ich bin wirklich froh, dass wir mal Gelegenheit hatten, miteinander zu sprechen, Irene.”
“Mir geht’s genauso”, entgegnete sie ganz offensichtlich geschmeichelt.
Grace schaute genervt in den Himmel. “Wir sprechen später darüber”, sagte sie zu Kennedy.
Der lachte leise vor sich hin, als er in seinen Wagen einstieg. Aber kaum war er aus der Einfahrt herausgefahren, hielt er an, stieg aus und nahm das Nibley-Plakat an sich, das im Garten stand.
“Darf ich das wegnehmen?”, fragte er.
Grace sagte gar nichts. Sie nahm an, dass er es ohnehin mitnehmen würde. “Wenn du dich dann besser fühlst.”
Er warf es in den Kofferraum.
“Ich werde bestimmt für Sie stimmen”, versicherte Irene.
Schließlich riefen Teddy und Heath noch mal auf Wiedersehen, winkten eifrig, und dann fuhren sie davon. Irene drehte sich mit einem wissenden Lächeln zu ihrer Tochter um. “Warum hast du mir denn nicht erzählt, dass Kennedy Archer sich für dich interessiert?”
Grace schloss die Haustür auf. “Weil er nicht an mir interessiert ist.”
“Das sah aber ganz anders aus eben.”
“Wir sind nur befreundet.”
“Er scheint aber großen Wert darauf zu legen, dass du mit ihm zum Feuerwerk gehst.”
“Genau das werde ich nicht tun.”
Irene blieb auf der Veranda stehen und schaute Kennedys Wagen hinterher. “Warum denn nicht?”
“Er ist weg, Mom. Du kannst jetzt ruhig reinkommen.” Grace hielt ihr die Tür auf, und Irene ging endlich hinein.
“Warum solltest du dich nicht mit ihm treffen können?”, hakte ihre Mutter nach. “Noch bist du ja nicht mit George verheiratet.”
Grace legte die Hausschlüssel auf den kleinen Schreibtisch im Wohnzimmer. “George hat sich von mir getrennt.”
“Ich dachte, ihr seid sowieso schon auseinander.”
“Waren wir auch, jedenfalls beinahe. Aber jetzt ist es richtig zu Ende, und es gibt kein Zurück mehr.”
Das Gesicht ihrer Mutter hellte sich auf. “Na, umso besser.”
“Danke für das Mitgefühl”, sagte Grace.
“Aber Kennedy Archer ist der perfekte Mann für dich. Ich mag George, aber …”
“Aber was?”, unterbrach Grace sie. “Du hast ihn doch bloß ein einziges Mal getroffen.”
“Mir war gleich klar, dass er zu altbacken für dich war.”
“Altbacken?”
“Na, zu steif eben.”
Grace fühlte sich verpflichtet, den Mann, den sie so lange geliebt hatte, zu verteidigen. “Er ist ein guter Mensch und grundsolide.”
“Mag sein, aber er ist bestimmt nicht so charmant und attraktiv wie Kennedy.”
“George kann auch sehr charmant sein. Er war nur sehr beschäftigt an dem Tag, an dem wir ihn besucht haben.”
Irene setzte sich auf den Rand des Ledersofas. “Außerdem sieht er nicht so gut aus”, murmelte sie.
“Na ja, also …” Grace wollte darauf hinweisen, dass man nicht aufgrund von Äußerlichkeiten urteilen sollte, aber dann brachte sie es nicht über die Lippen. Sie war ja längst auch schon der Meinung, dass Kennedy ein sehr netter Mann war. “Das mag ja so sein, Mutter, aber du musst bedenken, dass ich mich unmöglich mit Kennedy in der Öffentlichkeit zeigen kann. Die ganze Stadt wird sich das Maul zerreißen.”
“Ach, lass sie doch reden!”, rief ihre Mutter aus. “Es wird Zeit, dass die Leute in Stillwater kapieren, dass wir genauso gut sind wie alle anderen. Und jetzt, wo du dir Kennedy Archer angelacht hast …”
“Ich habe ihn mir nicht angelacht”, sagte Grace. “Sein Sohn ist ab und zu hergekommen. Ich bin einfach nur eine … eine Freundin der Familie.”
“Er braucht dringend eine Ehefrau. Stell dir doch nur mal vor, Grace, du heiratest Kennedy Archer!”
Das konnte Grace sich nicht im Geringsten vorstellen. Dazu war sie völlig ungeeignet. “Nein, ich bin nicht sein Typ.”
“Das weiß man nie”, sagte Irene. “Hat das Zelten Spaß gemacht?”
Grace erinnerte sich daran, wie Kennedy sie im Wasser umarmt hatte, spürte wieder seine Lippen an ihrem Hals – und die plötzliche Hitze in ihrem Unterleib. Sie hatte Spaß gehabt, ja, so war es wohl. Genau genommen hatte sie sich niemals so gut gefühlt wie in diesem Moment. Aber wenn sie sich auf Kennedy versteifen würde, konnte das eigentlich nur in eine Enttäuschung münden.
“Es war sehr schön, bis Joe Vincelli auf der Bildfläche erschien.”
Irene presste die Hände zusammen und senkte die Stimme. “Hat Joe irgendwas über Lee gesagt?”
“Nichts”, log Grace. Sie wollte ihre Mutter nicht unnötig aufregen. Gegen Joe konnte Irene sowieso nichts unternehmen.
“Dann ist es ja gut.” Irene griff nach ihrer Handtasche und stand auf.
“Willst du schon wieder los?”
“Ich bin auf dem Weg zu Madeline. Wir wollen zusammen zu Abend essen. Ich hab nur kurz angehalten, als ich dich mit Kennedy zusammen gesehen habe. Willst du nicht mitkommen?”
“Nein, danke. Ich hab nicht viel geschlafen letzte Nacht. Ich lege mich jetzt in die Badewanne, und dann gehe ich zu Bett.”
“Na gut.” Irene eilte zur Tür. “Ich kann es kaum erwarten, Madeline zu erzählen, dass du dich mit Kennedy Archer verabredet hast. Vielleicht bringt sie ja eine Meldung darüber in der Klatschspalte.”
“Nein!”, rief Grace aus. “Mom, bitte, du musst mir versprechen, dass du niemandem erzählst, dass ich mit Kennedy Archer zum Zelten gefahren bin.”
“Soll das ein Scherz sein? Das ist das Beste, was unserer Familie seit vielen Jahren passiert ist.”
“Trotzdem. Ich meine es ernst.”
“Ich werde diskret sein.”
Grace wollte ein richtiges Versprechen. Aber andererseits wollte sie sich ja ohnehin nicht mehr mit Kennedy treffen. Aus einem einzigen Campingausflug konnte man ja keine große Skandalgeschichte machen.
“Ja bitte, sei so lieb”, sagte Grace. Aber sie war ein wenig besorgt, als ihre Mutter eilig aufbrach. Sie war einfach nicht der Mensch, der eine aufregende Neuigkeit für sich behalten konnte.
Das Telefon klingelte, kaum dass Grace aus der Badewanne gestiegen war. Sie schlang ein Badetuch um sich und eilte zum Nachtschränkchen neben dem Bett.
“Hallo?”
“Wie geht’s denn so?”, hörte sie die Stimme ihrer Schwester Molly aus New York. “Was gibt’s Neues in Stillwater?”
“Ich weiß auch nicht so genau”, sagte Grace. “Jedenfalls ist alles ganz anders gekommen, als ich erwartet hatte.”
“Madeline hat mir von Jeds Werkstatt erzählt. Ich kann einfach nicht glauben, dass du dich zu so etwas überreden lässt! Ihr könntet beide im Gefängnis landen!”
“Erinnere mich bloß nicht daran”, stöhnte Grace.
“Was hast du dir bloß dabei gedacht?”
“Was hättest du denn gemacht?”, gab Grace zurück. “Sie hätte es sowieso getan, auch wenn ich nicht mitgemacht hätte. Ich konnte sie doch nicht allein lassen.”
Molly schwieg eine Weile, dann murmelte sie. “Zumindest ist nichts Schlimmes passiert.”
Grace überlegte, ob sie ihrer Schwester von der Bibel berichten sollte. Und dann war da ja noch die Sache mit Kennedy Archer. Sie wusste, dass sie ein viel innigeres Verhältnis zu Molly haben könnte, wenn sie nicht so zurückhaltend wäre. Aber dann entschied sie sich doch, nichts zu erwähnen. Ihr Verhältnis zu Kennedy konnte sie sowieso nicht erklären. Das war viel zu kompliziert. Und außerdem wollte sie Molly nicht achtzehn Jahre zurückversetzen. Ihre Schwester war damals noch so klein, dass sie nichts weiter tun konnte, als weinend in der Ecke zu hocken. Sie hatte am allerwenigsten von allem mitbekommen. Bis heute war sich Grace nicht sicher, ob Molly wirklich verstand, was damals der Auslöser der schrecklichen Ereignisse gewesen war.
Abgesehen davon, stellte die Bibel jetzt ja keine Gefahr mehr für sie dar. “Hast du mit Clay gesprochen?”, fragte sie.
“Nicht in den letzten Tagen. Wie geht’s ihm denn?”
“Gut.”
“Mom ist ja richtig begeistert davon, dass du zurückgekommen bist”, sagte Molly.
“Meinst du?”
“Sie hat mich gestern Abend angerufen und mir gesagt, dass ihr beiden besser miteinander auskommt als je zuvor.”
Ganz offensichtlich war es nicht schwer, mit ihrer Mutter gut auszukommen. Sie hatten früher nicht besonders viel miteinander zu tun gehabt, aber wenn sie ein entspanntes Verhältnis zu ihrer Tochter aufbauen konnte, war Irene schon glücklich. “Ja, stell dir das mal vor!”
“Sie behauptet immer noch, sie würde sich mit niemandem treffen.”
“Ich habe bisher auch keine Hinweise darauf gefunden.”
“Sie hat sich merkwürdig verhalten am Telefon.”
“Wie denn?”
“Sie schien mit den Gedanken ganz woanders zu sein. Und sehr fröhlich dabei.”
“Wer auch immer es ist, so wie es aussieht, werden sie wohl auch weiterhin ihre Beziehung geheim halten.”
“Und darüber mache ich mir schon ein bisschen Sorgen.”
Hätte Grace nicht ohnehin schon genug Ärger gehabt, wäre sie vielleicht auch mehr beunruhigt gewesen. “Wahrscheinlich ist es alles halb so dramatisch.”
“Und du?”, fragte Molly. “Bei dir alles in Ordnung?”
“Mir geht’s gut.”
“Glaubst du, du hältst es dort wirklich drei Monate lang aus?”
Wenn sie aus Stillwater weggehen würde, wäre es auch nicht einfacher. Grace dachte an die Fälle, die sie den Geschworenen über die Jahre vorgelegt hatte. Sie waren in ihrem Gedächtnis gespeichert, zusammen mit anderen, persönlicheren Bildern. Außerdem würde es schwierig sein, George wiederzusehen. “Ich bleibe jetzt erst einmal hier.”
“Und du bist ganz sicher, dass ich nicht kommen soll?”
“Hast du denn Urlaub?”
“Nein, aber ich könnte mir freinehmen.”
“Lass mal. Hier ist alles in bester Ordnung.”
“Wirklich?”
Die Anklopf-Funktion meldete ein zweites Gespräch und bewahrte Grace davor, nach weiteren Argumenten suchen zu müssen, um ihre Schwester zu beruhigen. “Ich kriege gerade einen anderen Anruf rein”, sagte sie. “Kann ich mich später noch mal bei dir melden?”
“Na klar”, sagte Molly.
Es war Clay. “Hast du sie?”, fragte er sofort.
“Was meinst du?”
“Na, was glaubst du wohl?”
Er meinte natürlich die Bibel. Grace seufzte vernehmlich. “Nein.”
Eine ganze Weile hörte sie nichts. Dann fragte er: “Was ist passiert?”
“Er hat sie vernichtet.”
“Bist du sicher?”
“Ziemlich. Ich hab es nicht gesehen, aber er hat es mir versprochen.”
“Und du glaubst ihm?”
“Warum sollte er mich anlügen? Was hätte er davon, ein solches Beweisstück zu behalten? Wenn er damit ertappt würde, wäre es peinlich für ihn.”
“Weiß er denn, wo du es gefunden hast?”
Im Hintergrund hörte sie, wie eine Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde, und vermutete, dass ihr Bruder gerade dabei war, für die Nacht abzuschließen. “Er hat mich danach gefragt, aber nicht sehr darauf gedrängt. Ich glaube, er will die Einzelheiten gar nicht wissen.”
Wieder längeres Schweigen. “Das bedeutet, dass er sich für dich interessiert. Hab ich doch gleich gesagt”, murmelte er schließlich.
Grace widersprach nicht. Es stimmte ja. Kennedy war interessiert an ihr, das hatte er eindeutig zu verstehen gegeben. Aber ob er je so weit ging, mit ihr öffentlich eine ernsthafte Beziehung einzugehen, war eine ganz andere Geschichte. Sollte er es versuchen, würde sie es bestimmt nicht zulassen. “Ich glaube, er will einfach nur das haben, was er nicht kriegen kann.”
“Und du bist nicht an ihm interessiert?”
Sie hörte die Skepsis in Clays Stimme und beeilte sich, sie zu zerstreuen. “Nein, bestimmt nicht”, sagte sie, und das klang selbst in ihren eigenen Ohren sehr fadenscheinig. Gerade noch hatte sie in der Badewanne ihren Fantasien über Kennedy gefrönt.
“Wegen George?”
“George hat damit nichts zu tun”, sagte sie. “Er ist jetzt mit einer anderen zusammen.”
“Seit wann denn das?”
“Samstagnacht hat er es mir gesagt. Es kam aus heiterem Himmel.”
Clay stieß einen Pfiff aus. “Ist ja nett von ihm, dass er dich so damit überrascht hat.”
“Er hat es verdient, glücklich zu sein. Ich freue mich für ihn.”
“Du hättest es auch verdient”, sagte ihr Bruder.
“Und was ist mit dir?”, gab sie zurück, aber er sprang nicht darauf an.
“Das war ja ein aufregendes Wochenende für dich”, fuhr er stattdessen fort.
Grace stellte den Ventilator an, um die Hitze erträglicher zu machen, und schlüpfte ins Bett. “Du weißt ja noch nicht mal die Hälfte.”
“Wie meinst du das?”
“Am Samstag hat sich Joe Vincelli zu uns gesellt.”
“Im Ernst? Wieso das denn?”
“Angeblich wollte er seinen Freund Kennedy besuchen, aber der hatte ihn überhaupt nicht eingeladen. Ich glaube, er wollte einfach nur verhindern, dass Kennedy und ich uns zu nahe kommen. Es gefällt ihm nicht, dass wir Freunde werden könnten.”
“Hat seine Anwesenheit irgendetwas an Kennedys Verhältnis zu dir geändert?”
“Offenbar nicht.”
“Also müssen wir uns über Joe keine Sorgen machen.”
“Doch müssen wir! Joe ist sehr argwöhnisch. Er verdächtigt uns.” Sie zögerte, bevor sie weitersprach. “Ich weiß ja, dass du anderer Meinung bist, aber ich glaube, wir sollten … das Problem … woanders hinbringen.”
“Jetzt fang bloß nicht wieder damit an!”
“Aber wir können doch nicht einfach die Augen schließen und das Beste hoffen!”
“Wenn wir jetzt herumbuddeln, bekommen wir nur noch mehr Schwierigkeiten.”
“Nicht, wenn wir es so tun, dass keiner was davon merkt.”
“Wir müssen uns einfach zusammenreißen und abwarten, bis der Sturm vorüber geht”, sagte Clay. “Sonst nichts.”
Grace war sich nicht sicher, ob es so einfach sein würde. Ihrer Erfahrung mit polizeilichen Ermittlungen nach wäre es sehr viel besser zu beseitigen, was immer von Lee Barker übrig war – und sich dabei nicht erwischen zu lassen.
“Du kümmerst dich jetzt erst mal um deinen Garten und Evonnes Stand und um Madeline und Molly und das alles und lässt die Vergangenheit ruhen, okay?”, sagte Clay. “Darum kümmere ich mich schon.”
Grace zog sich die Bettdecke bis zum Kinn. Clay zu widersprechen, führte meistens zu nichts. Er war störrisch. Er hatte immer die Verantwortung getragen, und deshalb war sie manchmal versucht, ihm die Geschehnisse vor achtzehn Jahren ebenso vorzuwerfen wie sich selbst.
“Die Vergangenheit ruhen lassen?”, wiederholte sie ungläubig. Genau den gleichen Rat hatte Kennedy ihr gegeben.
“Genau.”
“Das ist unmöglich”, widersprach sie. Joe würde sie nicht ruhen lassen, da war sich Grace ganz sicher.