6. KAPITEL

Aus der geöffneten Tür der Billardhalle neben Jeds Autowerkstatt drang Countrymusic. Grace lehnte sich gegen die Mauer. Wenn sie sich nur einen Schritt weiter wagte, könnte sie etwa die Hälfte der männlichen Bevölkerung von Stillwater beim Dart, Billard oder Biertrinken beobachten. Aber von dieser Stelle aus war die Rückseite der Werkstatt am besten zu erreichen. Sie lag nicht weit von Evonnes Haus entfernt an der Kreuzung, die das Geschäftszentrum des Ortes darstellte. Sich durch den Vordereingang Zugang zu verschaffen, war praktisch unmöglich; man würde sie sofort bemerken. Nebenan lag das Grundstück von Walt Eastmans Reifenservice, das von einem großen Wachhund bewacht wurde.

Grace trug ein schwarzes T-Shirt und Jogging-Shorts und hatte ihre langen Haare unter eine Baseballmütze gesteckt. Neben ihr kauerte Madeline auf dem Boden und beschäftigte sich mit ihrem Rucksack. Sie war genauso angezogen.

“Ich will nur hoffen, dass Jed nicht auch einen Hund hat”, flüsterte Grace ihr zu.

Madeline schüttelte den Kopf. “Nein, Walt ist der Einzige mit einem Wachhund. Und für den habe ich dieses saftige Steak eingepackt.”

“Na prima, dann müssen wir uns ja über nichts weiter Sorgen machen, außer dass wir erwischt werden könnten und im Gefängnis landen.”

Madeline hob den Bolzenschneider hoch, den sie aus dem Rucksack geholt hatte. “Niemand wird im Gefängnis landen. Du hast doch den Polizeifunk gehört. Die sitzen gemütlich bei Kaffee und Donuts zusammen wie immer.”

“Leider kriegen wir jetzt nicht mit, was sie als Nächstes tun werden.”

“Willst du das Funkgerät vielleicht mit dir herumschleppen?”

“Nein, danke.” Wichtiger als der Polizeifunk war für Grace, dass sie nicht zu viel bei sich trug – damit sie, wenn es nötig sein sollte, schnell wegrennen konnte.

“Na, siehst du.”

“Und wie geht’s nun weiter?”

Madeline zog den Reißverschluss ihres Rucksacks zu und stand auf. “Kirk hat alles ausgekundschaftet. Im hinteren Teil des Zauns gibt es ein Tor, das mit einem Vorhängeschloss gesichert ist. Wir schneiden ganz einfach die Kette durch, gehen rein und schauen uns um. Das kann ja nicht so schwer sein.”

“Kirk hat dir also Tipps gegeben, wie man einbricht, hm?”

“Weil er ja nicht mitkommen konnte.”

“Warum warten wir nicht, bis er wieder zurück ist, wenn er sich so gut auskennt?”, fragte Grace, immer noch in der Hoffnung, die ganze unangenehme Sache verschieben zu können. Wenn sie doch nur genug Zeit hätte, um Clay dazu zu bringen, die sterblichen Überreste von Lee Barker fortzuschaffen, bevor Madeline noch mehr Aufmerksamkeit auf den Fall lenkte!

“Wir können nicht warten, weil wir sonst Gefahr laufen, dass der Inhalt des Aktenschranks verschwindet.”

“Das kann doch schon längst passiert sein.”

“Je früher wir uns darum kümmern, desto größer ist die Chance, dass das, was wir suchen, noch da ist.” Madeline setzte den Rucksack auf. “Außerdem wissen wir überhaupt nicht, wann Kirk zurückkommt. Womöglich muss seine Mutter tage- oder wochenlang im Krankenhaus bleiben.”

Als Grace noch immer nicht überzeugt war, warf Madeline ihr einen finsteren Blick zu: “Ich weiß gar nicht, was du hast. Wir wollen doch nichts stehlen. Mach dir keine Sorgen. Das ist doch ganz harmlos.”

Es war überhaupt nicht harmlos. Grace’ Puls raste. Sie fand es ganz und gar nicht beruhigend, dass Kennedy Archers Wagen vor der Billardhalle stand. Bestimmt war er mit seinen Freunden da drinnen. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, was hier los sein würde, wenn man sie erwischte …

Als Madeline sie überredet hatte, war Grace nicht klar, dass diese verrückte Aktion in unmittelbarer Nachbarschaft der Billardhalle stattfinden sollte, quasi unter den Augen der Machos von Stillwater. Ausgerechnet heute, am Donnerstag, wurden dort Margaritas zum Preis von nur einem Dollar angeboten, weshalb besonders viele Gäste anwesend waren. Grace hatte nur an ihre Stiefschwester gedacht. Madeline war allein losgegangen, nachdem sie ihr abgesagt hatte, woraufhin Grace sich genötigt sah, sie zu begleiten. Sie konnte doch nicht zu Hause herumsitzen und Däumchen drehen, während ihre Schwester in eine Autowerkstatt einbrach! Grace fühlte sich ebenso schuldig wie verantwortlich – zumal sie alle Antworten kannte, die Madeline so verzweifelt suchte.

“Ich bin Staatsanwältin”, flüsterte sie und atmete tief durch. “Ich kann doch nicht einfach irgendwo einbrechen. Normalerweise klage ich Leute an, die so etwas tun.”

“Du kannst niemanden anklagen, der nicht verhaftet wurde, hab ich recht?” Madeline spähte vorsichtig um die Ecke. “Und wir wissen ja, dass die Polizei im Moment mit was anderem beschäftigt ist, als Einbrecher zu jagen. In Stillwater passiert nie etwas, also rechnen sie auch nicht damit.”

Zu allem Überfluss war es auch noch furchtbar heiß. Aber mit einem Mal wurde Grace von einer merkwürdigen Tollkühnheit erfasst. “Also los”, sagte sie. “Bringen wir es hinter uns. Soll ich vorgehen?” Wenn sie ihre Stiefschwester schon nicht von dieser idiotischen Sache abbringen konnte, dann wollte sie es wenigstens so schnell wie möglich hinter sich bringen. Sie wollte jetzt loslaufen, die Kette aufschneiden, hineingehen, den Aktenschrank durchsuchen und dann sofort wieder verschwinden.

“Nein, ich gehe zuerst. Ich hab mir das schließlich alles ausgedacht.” Madeline rannte los und umrundete den Parkplatz.

Grace zögerte. Sie hörte die Gesprächsfetzen, die aus der Billardhalle drangen, die Musik, aber dann riss sie sich los und folgte ihrer Schwester. Als sie bei ihr ankam, hatte Madeline schon das Steak über den Zaun des Nachbargrundstücks geworfen, und der Wachhund machte sich darüber her, ohne die beiden weiter zu beachten.

Das war ein gutes Zeichen. Aber der zweite Schritt ging nicht so reibungslos vonstatten. Die Kette durchzuschneiden war beileibe nicht so einfach, wie es im Fernsehen immer aussah. Sie mussten den Bolzenschneider gemeinsam mit aller Kraft zudrücken. Mit viel Mühe gelang es dann tatsächlich, die Kette zu durchtrennen, die nun rasselnd zu Boden fiel. Grace kam es so vor, als müsste die ganze Stadt dieses Geräusch gehört haben.

“Na bitte”, sagte Madeline. Es schien ihr gar nichts auszumachen, dass sie einen Höllenlärm verursachten. “Den schwierigsten Teil haben wir schon hinter uns.”

Grace warf einen Blick zurück. Niemand kam aus der Billardhalle, um nachzusehen, was hier draußen los war, und auch in den umliegenden Häusern ging kein Licht an.

Vielleicht hatte Madeline ja recht und Grace übertrieb mit ihrer Vorsicht. Sie wollten doch nur einen Blick in den Aktenschrank in Jeds Büro werfen. Stillwater war eine verschlafene Stadt. Es konnte nicht so riskant sein.

“Auf geht’s.” Madeline ging durch das Tor, aber Grace hielt sie zurück.

“Nicht ohne Handschuhe, Maddy.”

“Das Tor hat doch jeder schon mal angefasst.”

“Das ist egal.”

“Okay. Du bist schließlich vom Fach.”

“Erinnere mich bloß nicht daran.”

Madeline nahm den Rucksack ab und stellte ihn auf den Boden. Sie griff in eine Seitentasche und reichte Grace ein Paar gelbe Gummihandschuhe.

Grace schaute sie erstaunt an. “Soll das ein Scherz sein? Wir wollen doch nicht Jeds Abwasch erledigen.”

“Was Besseres habe ich nicht gefunden.”

“Also weißt du, das gefällt mir alles überhaupt nicht. Jetzt haben wir uns schon des unerlaubten Eindringens auf Privatgelände schuldig gemacht.”

“Du meinst Betreten.”

“Ich meine gewaltsames Eindringen und Sachbeschädigung”, sagte Grace mit Blick auf die zerschnittene Kette. Trotzdem ließ sie sich von Madeline auf den Hof ziehen.

Als sie vor der Werkstatt ankamen, wäre Grace am liebsten gleich hineingeschlüpft, um sich zu verbergen. Aber natürlich war die Tür verschlossen. “Wie kommen wir denn da jetzt rein?”, fragte sie.

Madeline zog sich die Handschuhe aus und reichte sie Grace. “Halt mal kurz”, sagte sie und holte eine Nagelfeile aus ihrem Rucksack.

“Woher weißt du, wie man ein Schloss knackt?”, flüsterte Grace. “Wer hat dir das denn beigebracht?”

“Was glaubst du wohl?”

“Schon wieder Kirk? Da muss man sich ja Sorgen um deinen Umgang machen.”

Madeline lachte vor sich hin. “Als er klein war, hat sein Vater ihm, wenn er böse war, immer das Fahrrad weggenommen und es in den Schuppen eingeschlossen. Also hat Kirk gelernt, wie man so ein Schloss knackt.”

“Du fasst gerade mit ungeschützten Händen den Türknauf an”, ermahnte Grace ihre Schwester. Wenn sie sich unterhielten, wirkte das, was sie taten, irgendwie alltäglich. Aber wenn sie dabei riskierten, dass Madeline ihre Fingerabdrücke hinterließ, war das mehr als leichtsinnig.

“Ich reibe das ab, bevor wir gehen.”

“Maddy, ich bin mir ganz sicher, dass Jed nichts mit dem zu tun hat, was vor achtzehn Jahren passiert ist. Können wir nicht einfach nach Hause gehen?”

Aber Madeline war viel zu beschäftigt, um zuzuhören.

“Und was ist, wenn später jemand vorbeikommt und bemerkt, dass die Werkstatt aufgebrochen ist und etwas stiehlt? Dann wären wir daran schuld.”

“Wer klaut denn Autoreparaturwerkzeug?”

“Du wärst überrascht, was alles gestohlen wird. Ich habe Leute kennengelernt, die praktisch alles mitnehmen, was nicht niet- und nagelfest ist.”

“Aber doch nicht in Stillwater. Die Leute schließen hier oft nicht mal ihre Häuser ab. Wir hinterlassen alles so, wie wir es vorgefunden haben, okay?”

“Das beruhigt mich wirklich sehr”, sagte Grace sarkastisch.

“Hör auf, dir Sorgen zu machen.”

Es dauerte ewig, das Schloss zu knacken. Grace trat in den Schatten des Wellblechhauses und blickte angespannt zur Billardhalle hinüber. “Wahrscheinlich finden wir eine Tüte mit Marihuana oder so was. Und das war dann das große Geheimnis. Interessiert es uns denn, ob Jed Marihuana raucht? Das hat doch mit uns überhaupt nichts zu tun.”

“Wir könnten aber auch etwas viel Interessanteres als Rauschgift finden.”

Falls wir überhaupt jemals da reinkommen.”

Madeline fluchte und zog die Feile aus dem Schloss.

Grace’ Anspannung wurde noch stärker. “Was ist denn?”

“Ich kriege das nicht …”

Zwei Männer kamen aus der Billardhalle und schlenderten die Straße entlang. Als Grace ihre Stimmen hörte, zog sie Madeline mit sich nach unten in den Schatten. Der Drahtzaun, der das Gelände umgab, bot ihnen nicht sehr viel Schutz.

“Wer ist das?”, flüsterte Grace, als die beiden Männer auf dem Parkplatz neben dem Lokal stehen blieben.

“Marcus und Roger Vincelli”, antwortete Madeline leise.

Joes Vater?”

“Und sein Bruder.”

“Oh Gott. Ist Joe auch bei ihnen?”

“Ich glaube nicht.”

Schließlich stiegen die Männer in ihre Autos und fuhren davon. Als nichts mehr außer der Musik aus der Kneipe zu hören war, standen die beiden Frauen wieder auf.

“Beeil dich jetzt”, drängte Grace beunruhigt.

“Ich krieg das Schloss so nicht auf”, stellte Madeline frustriert fest. “Das ist ein anderes als das, das Kirk mir gestern zum Üben gegeben hat.”

“Dann hat es wohl keinen Zweck. Lass uns gehen”, schlug Grace hoffnungsvoll vor.

“Nein, dann müssen wir eben das Stemmeisen benutzen.”

“Das was?”

Ihre Schwester kramte bereits in ihrem Rucksack.

“Madeline, das können wir doch nicht …”

Doch noch bevor Grace zu Ende gesprochen hatte, rammte ihre Schwester das Eisenteil zwischen Tür und Pfosten. Eine Sekunde später ertönte ein grässliches Kratzen, Schaben und Quietschen, und dann schwang die Tür mit einem leisen Knirschen auf. Der Hund auf dem Nachbargelände bellte einmal kurz und wandte sich dann wieder seinem Steak zu.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Grace um sich. Sie war sich ganz sicher, dass man sie jeden Augenblick entdecken würde. Doch mehrere Sekunden vergingen, ohne dass irgendjemand auftauchte.

“Ich hoffe, du hast nicht vor, da drinnen jetzt alle Lichter einzuschalten”, sagte Grace und hielt Madeline die Gummihandschuhe hin, als sie eintraten.

“Natürlich nicht. Hier.” Madeline legte ein langes schweres Gerät in Grace’ Hände. Grace fand einen Schalter, drückte drauf und stellte fest, dass sie eine Taschenlampe in der Hand hielt.

“Du hast ja wirklich an alles gedacht.”

“Du suchst da drüben, ich hier.”

Der Verkaufsraum der Werkstatt war rechtwinklig angelegt und hatte einen Zementboden. Auf der gegenüberliegenden Seite stand ein Tresen, dahinter befanden sich die Toiletten. Es roch nach Motoröl. An den Wänden standen Holzregale, auf denen jede Menge Ersatzteile lagen. Das war kein Ort, an dem Grace sich heimisch fühlte. Aber jetzt, wo sie schon mal eingebrochen waren, entschied sie, dass es besser war, ihr Vorhaben möglichst zügig zu erledigen. Wenn Madeline merkte, dass keine Beweise vorhanden waren, würde sie vielleicht damit aufhören, Jed für den Tod ihres Vaters verantwortlich zu machen.

“Sieht wie ein Ersatzteillager aus”, stellte Grace fest.

Madeline ließ den Lichtkegel ihrer Lampe durch den Raum gleiten. “Da drüben sind ein paar Aktenschränke.”

“Da auch”, ergänzte Grace.

“Ich nehme mir die hinter dem Pult dort vor und du die neben der Toilette.”

Die Schubladen des ersten Schranks waren beschriftet: “Aufträge”, “Ersatzteile”, “Rechnungen”, “Kataloge”.

Aus der Toilette hörte man ein andauerndes Pfeifen. Offenbar war die Spülung defekt. Das Geräusch ging Grace ziemlich auf die Nerven. Madeline begann hastig, die Schubladen aus den Schränken zu ziehen, der Lichtschein ihrer Lampe huschte hin und her, während sie weitersuchte, bis sie den verschlossenen Aktenschrank gefunden hatte.

“Das ist er”, stieß sie atemlos hervor.

Grace drehte sich erwartungsvoll zu ihr um. “Soll ich dir helfen?”

“Nein, das muss er sein. Du kannst ja die anderen Schränke durchsehen, ob da vielleicht noch was ist.”

Madeline holte ein weiteres Gerät aus ihrem Rucksack, und Grace wandte sich wieder ihrer eigenen Durchsuchungsarbeit zu. Sie wollte gar nicht wissen, was ihre Schwester jetzt wieder Schreckliches vorhatte. Inzwischen hatten sie sich schon eine ganze Reihe von Gesetzesübertretungen zuschulden kommen lassen.

Als sie einen lauten Knall hörte, wusste sie, dass Madeline es geschafft hatte, die Schublade zu öffnen. Der Gedanke daran, dass Jed morgen früh einen aufgebrochenen Schrank vorfinden würde, war ihr mehr als nur peinlich.

“Bring bloß nicht alles zu sehr durcheinander”, warnte sie. “Es ist schon schlimm genug.”

“Ich musste das Schloss aufbrechen”, sagte Madeline. Sie war viel zu aufgeregt, um Bedauern oder Reue zu empfinden. “Aber so schlimm ist es gar nicht. Er wird kaum merken, dass wir hier gewesen sind.”

“Na klar, er wird bestimmt denken, dass er die Schlösser selbst demoliert hat. So was passiert einem ja ständig.”

Madeline antwortete nicht. Sie stöberte in den Schubladen herum.

“Was gefunden?”, fragte Grace.

“Bis jetzt nicht.”

Grace hörte die pulsierenden Rhythmen der Musik aus der Billardhalle, die bis hierher drangen. Jed war schon sehr lange im Geschäft und schien alle Papiere aufzubewahren.

“Der übertreibt wirklich”, stellte sie fest. “Einige von diesen Ordnern sind ja schon über zehn Jahre alt.” Sie fand sogar welche, die noch viel älteren Datums waren.

Madeline sagte nichts.

“Vielleicht sollte jemand Jed mal klarmachen, dass das Finanzamt nur bis zu sieben Jahre alte Unterlagen prüft.”

“Das kannst du ihm ja mal mitteilen”, murmelte Madeline. Sie hatte einen Ordner aufgeschlagen und blätterte ihn konzentriert durch.

Grace wiederum sichtete die Akten auf ihrer Seite eher nachlässig. “Ich werde ihm bestimmt gar nichts mitteilen.”

“Hm”, brummte Madeline vor sich hin.

“Vielleicht solltest du mal einen Artikel zu diesem Thema in deine Zeitung setzen”, schlug Grace vor. “Du könntest Jed als abschreckendes Beispiel nennen.”

“Gute Idee.”

Madeline hörte gar nicht zu. Grace nahm sich vor, mit dem nervösen Geplapper aufzuhören. Sie schloss die Türen des mittleren Aktenschranks und wandte sich dem dritten zu. Dieser Schrank war sehr alt und sah ziemlich mitgenommen aus. Sie begann im oberen Regal, wo eine Menge Staub lag, ein paar lose hingelegte uralte Unterlagen, ein zerbrochener Kaffeebecher und weitere Ordner mit Papieren, die fünfzehn, sechzehn oder siebzehn Jahren alt waren.

“Ach du meine Güte”, murmelte Grace vor sich hin, als sie sich langsam nach unten arbeitete und die Ordner immer nachlässiger prüfte. Was sollte das auch? Madeline hatte ja den mysteriösen verschlossenen Aktenschrank gefunden und kämmte ihn gerade durch. Was hatte sie schon noch zu tun?

Aber dann bemerkte sie etwas und bekam eine Gänsehaut. Die Zeitangaben auf den Ordnerrücken näherten sich immer mehr dem Datum jener schrecklichen Nacht vor achtzehn Jahren. Und mit einem Mal fragte sie sich, ob Jed wohl die Unterlagen für die Traktorreparatur auf der Farm der Montgomerys aufbewahrt hatte und ob da womöglich etwas zu finden war.

Fieberhaft durchsuchte sie die Unterlagen aus dem Monat August, konnte aber kein Papier mit dem entsprechenden Datum finden. Aber sie fand die Kopie einer Rechnung vom Folgetag.

Sie zog ihre Handschuhe aus, um das Papier aus dem Ordner zu nehmen. Die Rechnung war auf den Namen ihrer Mutter ausgestellt. Das war eigenartig; der Reverend hatte sich doch sonst immer um die “Männersachen” gekümmert.

Sie hielt den Zettel mit einer Hand fest und durchsuchte den nächsten und übernächsten Ordner. Alle vorherigen Rechnungen waren auf den Namen ihres Stiefvaters ausgestellt. Hatte Jed etwa schon am Morgen nach der Tat gewusst, dass Lee Barker für immer verschwunden war? Falls ja, war er der Einzige. Die Gemeinde hatte zwei Tage gebraucht, um überhaupt mit der Suche nach dem Vermissten zu beginnen. Noch nie zuvor war ein erwachsener Mann in Stillwater vermisst worden. Und da auch das Auto des Reverends unauffindbar war, gingen zunächst alle davon aus, dass er bald wiederkommen würde.

Grace warf einen kurzen Blick auf Madeline. Die hatte gerade eine Zigarrenkiste mit Briefen und Papieren geöffnet. Grace wandte sich wieder der Rechnung zu. Jed hatte alle Ersatzteile, die er für den Traktor bestellt und eingebaut hatte, wie auch die aufgewendete Arbeitszeit akribisch notiert. Aber im Gegensatz zu den anderen Rechnungsformularen fehlte hier der Vermerk “bezahlt”.

Hatte er das Geld nicht eingefordert? Grace konnte sich nicht daran erinnern. Natürlich wusste sie, dass Jed in dieser Nacht nicht bei ihnen angeklopft hatte. Aber vielleicht war er ja später noch mal gekommen.

“Hier ist nichts”, sagte Madeline niedergeschlagen. “Nur ein paar alte Liebesbriefe von einer Frau namens Marilyn, ein Zwei-Dollar-Schein, auf den jemand ’Ich liebe dich’ geschrieben hat, und Bilder von drei Kindern, die ich nicht kenne.”

“Ich hab auch nichts gefunden”, sagte Grace. Sie legte die Rechnung zurück und wollte den Ordner schon schließen, als sie etwas schwarzes Glänzendes zwischen den Hängeregistern bemerkte. Neugierig wandte sie sich von Madeline ab und griff danach, doch als sie sah, was sie da in den Händen hielt, zuckte sie zusammen. Beinahe hätte sie ihren Fund wieder fallen lassen.

Es war die Taschenbibel, die Reverend Barker immer bei sich getragen hatte.

Sie hätte Stein und Bein schwören können, dass sie sie mit ihm vergraben hatten.

Kennedy wollte Joe schnell besiegen. Wenn er das nächste Mal zum Zug kam, wollte er die Achter-Kugel versenken und sich anschließend aus dem Staub machen. Er ging regelmäßig donnerstags in die Billardhalle. Es gefiel ihm dort. Seit Raelynns Tod war dies das einzige gesellschaftliche Ereignis, an dem er regelmäßig teilnahm. Glücklicherweise kamen die Jungs gut mit Kari Monson aus, der alleinstehenden Nachbarin seiner Eltern. Kari arbeitete tagsüber, passte abends aber gern mal auf die Kinder auf. Bestimmt waren sie längst im Bett. Es war schon spät. Er hatte einen anstrengenden Tag vor sich. Er sollte wirklich so schnell wie möglich nach Hause gehen.

Auf der anderen Seite des Tischs beugte Joe sich über den grünen Filz und drehte den Queue zwischen den Fingern, während er überlegte, wie er seinen nächsten Stoß durchführen wollte. Es waren noch drei Kugeln von Joe auf dem Tisch und eine letzte von Kennedy; es gab also keinen Grund, sich zu hetzen, das Spiel war sowieso bald vorbei. Trotzdem machte es Kennedy nervös, wenn er zusah, wie viel Zeit Joe sich für seinen nächsten Stoß nahm. “Komm schon”, ermahnte er seinen Gegner. “Ich will heute noch irgendwann ins Bett.”

“Moment”, stieß Joe hervor, während er zum anderen Ende des Tischs ging. Obwohl Joes Besuch in Kennedys Büro eher unerfreulich verlaufen war, hatten sie nicht mehr darüber gesprochen, auch nicht über Grace. Trotzdem spürte Kennedy, wie die Spannung zwischen ihm und Joe wuchs. Joe wollte dieses Spiel auf Teufel komm raus gewinnen.

“Du kannst von mir aus einen zusätzlichen Stoß machen, wenn es dir hilft”, sagte Kennedy. “Aber jetzt mach endlich.”

“Du brauchst mir nichts zu schenken”, widersprach Joe. “Ich will nicht, dass du mir entgegenkommst.”

Kennedy schüttelte den Kopf, als die Kellnerin nachfragte, ob er noch etwas trinken wolle. “Komm schon! Wir müssen jetzt doch keinen verbissenen Wettbewerb draus machen! Es geht doch nur um fünfzig Dollar.”

Buzz, der gerade mit seinem eigenen Spiel fertig war, kam mit seinem Bier in der Hand herüber, um zuzusehen. “Na, wer gewinnt heute?”

Die beiden Männer antworteten nicht. Das sagte eigentlich schon genug. Wenn Joe gewann, redete er gern darüber.

“Das da ist die beste Ecke”, sagte Buzz, um das Spiel voranzubringen. Aber Buzz war enger mit Kennedy befreundet als mit Joe, weshalb Joe seinen Rat ignorierte und sich für eine andere Ecke entschied.

Joe beugte sich über den Tisch, sein Stock stieß gegen die Kugel. Sie schoss auf das Eckloch zu. Im letzten Moment bekam sie einen seitlichen Drall und verfehlte ihr Ziel.

Nun war Kennedy in der perfekten Position, das Spiel zu beenden. Aber bevor er das tun konnte, kam Ronnie Oates, der vor drei Minuten gegangen war, in die Billardhalle gestürmt.

“Ich glaube, jemand bricht gerade in die Werkstatt ein!”, rief er aus. Er war so aufgeregt, dass er atemloser klang, als er eigentlich war, denn er hatte ja nur den kurzen Weg vom Parkplatz hierherlaufen müssen.

“Wer will denn den alten Jed beklauen?”, brummte Joe. “Mann, wenn jemand unbedingt einen Schraubenschlüssel braucht, kann er ihn gern von mir kriegen.”

“Ich habe den Lichtschein einer Taschenlampe gesehen”, sagte Ronnie. “Wir sollten rübergehen und nachschauen.”

Kennedy blickte sehnsüchtig auf den grünen Filz. Nur noch ein Stoß … nur ein einziger noch, und das Spiel würde beendet sein. Aber Joe und die anderen stürmten schon aus dem Lokal. Selbst wenn er die Kugel jetzt ordentlich versenkte, wäre es umsonst, weil keine Zeugen mehr da waren. Er konnte genauso gut mitgehen und nachschauen, was da los war. Wahrscheinlich irgendwelche Halbstarken, die mal wieder über die Stränge schlugen. Andererseits war heute Donnerstag, und deshalb war es eher ungewöhnlich. Außerdem war Jeds Werkstatt ein ziemlich untypischer Ort für Jugendliche, die ihre Kräfte erproben wollten.

“Ruf die Polizei”, sagte er zu Pug, dem Barkeeper.

Er sah noch, wie der Mann zum Telefon griff und die Nummer wählte, dann rannte er nach draußen auf den Parkplatz.

Grace starrte die Bibel an, die sie gerade gefunden hatte. Draußen wurden Stimmen laut, und sie schreckte zusammen. Einen Moment lang gaben ihre Knie nach, als der panische Gedanke durch ihr Gehirn schoss: Jetzt kriegen sie uns! Es war genau das eingetreten, was sie befürchtet hatte.

Sie hörte ein dumpfes Geräusch. Madelines Taschenlampe war zu Boden gefallen. Sie hob sie wieder auf und machte sie aus. “Da kommt jemand”, flüsterte sie. “Wir müssen hier raus.”

Der Hund auf dem Nachbargrundstück wurde unruhig und begann zu bellen.

Grace war ratlos. Sollte sie die Bibel im Aktenschrank liegen lassen oder mitnehmen?

In ihrer Panik war sie zu keinem Entschluss fähig. Sie knipste ihre Taschenlampe aus und schob die Bibel wieder an die Stelle, wo sie sie gefunden hatte. Dann wurde ihr klar, dass der Einbruch schon verdächtig genug war und jede Menge Fragen provozieren würde. Natürlich würden alle sich fragen, was dahintersteckte, und wenn sie dann die Bibel mit dem Namen und den Randbemerkungen des verschwundenen Reverends fanden, würden sie Jed danach fragen. Und dann wäre er gezwungen zu erzählen, wo er sie her hatte. Er konnte sie doch nur in der Nacht an sich genommen haben, als Lee Barker ums Leben gekommen war. Grace wusste noch, dass die Bibel aus der Jackentasche ihres Stiefvaters gefallen war, als sie seine Leiche über die Verandatreppe gezerrt hatten. Sie hatte versucht, das Buch wieder zurückzustopfen, aber vielleicht war es ja ein zweites Mal herausgerutscht und irgendwo im Schatten zu Boden gefallen.

So könnte es gewesen sein. An diesem Abend war sie nicht mehr ganz bei sich. Das war allen so gegangen.

“Grace!”, rief Madeline, die schon an der Tür war.

Grace presste ihre Hand gegen die Stirn. Denk nach! Oh, Gott. Was soll ich nur tun?

Aber es war keine Zeit mehr zum Nachdenken. Die Rufe und Schritte von draußen kamen näher. Sie konnte sogar schon die Stimmen unterscheiden.

Sie schloss die Tür des Aktenschranks und sprang auf, um Madeline zu folgen. Kaum war sie bei ihr angelangt, wurde ihr jedoch klar, dass sie die Bibel auf keinen Fall zurücklassen durfte. Sie konnte ihre ganz Familie ins Unglück stürzen.

“Wir müssen uns trennen”, sagte sie. “Du gehst dort lang und ich …” Sie suchte verzweifelt nach einer Alternative. “… ich klettere durchs Fenster in der Toilette.”

“Aber was ist, wenn …”

“Los!”, kommandierte Grace und gab ihrer Stiefschwester einen Schubs.

Madeline drückte ihren Arm, um ihr zu zeigen, dass sie verstanden hatte, und huschte nach draußen.

Lauf, dachte Grace, lauf! Aber sie selbst hatte das Gefühl, nur im Zeitlupentempo voranzukommen. Sie tastete sich durch die Dunkelheit zurück zum Aktenschrank, holte die Bibel wieder heraus und steckte sie in den Bund ihrer Shorts.

Sie hörte die Männer an der Eingangstür und beeilte sich, in die Toilette zu kommen. Wenn sie sich nicht unter Jeds Schreibtisch verstecken wollte, war dies die einzige Möglichkeit zur Flucht.

Instinktiv tastete sie nach der Taschenlampe. Sie hasste die Dunkelheit, und jetzt hatte auch noch vergessen, wo sie das verdammt Ding hingelegt hatte.

Dann hörte sie jemanden rufen. “Da! Ich seh ihn! Da drüben!” Und schon entfernten sich die Schritte in die andere Richtung.

Madeline! Ob es ihr gelang, den Verfolgern zu entkommen? Aber das war jetzt für sie zweitrangig. Sie musste die Bibel wegbringen und so schnell wie möglich vernichten.

Endlich hatte sie sich durch die Dunkelheit bis in die Toilette vorgearbeitet und schaute nach oben zu dem kleinen Fenster über dem Klosett. Das Mondlicht fiel hindurch und schien ihr den Weg zu zeigen. Aber wie sollte sie das schaffen? Das Fenster lag zwar günstig nach hinten, aber es war zu hoch. Selbst wenn es ihr gelingen sollte hindurchzukriechen, fürchtete sie, sie könnte auf der anderen Seite hinunterfallen und sich den Hals brechen.

Sie musste das Gebäude vorne verlassen, eine andere Möglichkeit gab es nicht. Es ging nicht anders. Auch wenn die Polizei bereits auf dem Weg hierher war und sie womöglich entdeckte, wenn sie die Werkstatt verließ.

Sie umrundete den Verkaufstresen und spähte durch die Eingangstür, die einen Spaltbreit offen stand, nachdem Madeline hinausgeschlüpft war.

Draußen waren noch keine Sirenen zu hören, nur die Geräusche der Verfolgungsjagd in einiger Entfernung und das Bellen des Hundes auf dem Nachbargrundstück.

Ihr blieb nur wenig Zeit. Bald würden einige der Verfolger zurückkommen, um nachzusehen, ob etwas gestohlen oder zerstört worden war.

Sie spürt den ledernen Einband der Bibel auf ihrer nackten Haut, und es kam ihr so vor, als würden die Hände des Reverends sie an dieser Stelle berühren. Am liebsten hätte sie sie weit weg geworfen. Sie wollte mit diesem unheilvollen Buch nichts zu tun haben. Aber das durfte sie nicht. Sie musste es verbrennen, damit niemand es je wieder zu Gesicht bekam.

Sie setzte alles auf eine Karte, trat nach draußen und rannte um das Gebäude herum. Es gelang ihr, den Werkstatthof zu durchqueren, ohne ein nennenswertes Geräusch verursacht zu haben. Sie erreichte die Straße und schöpfte Hoffnung.

Sie war draußen. Aber was nun?

Am besten wäre, sie würde über den Zaun zum Nachbargrundstück klettern und dann in diese Richtung flüchten. Ihre Verfolger waren gerade woanders beschäftigt und würden sie dort nicht vermuten.

Kennedy traute seinen Augen nicht. Er lehnte gegen die Rückseite seines Wagens und wartete, ob die anderen den Einbrecher stellen würden. Plötzlich bemerkte er einen zweiten Schatten auf dem Gelände der Werkstatt. Eine schwarz gekleidete Gestalt rannte zur Straße hin und begann dann, Lorna Martins Zaun zu erklimmen.

Das war doch ein Kind! Die Person war viel zu klein für einen erwachsenen Mann. Außerdem war diese Klettertechnik ziemlich ungewöhnlich.

Kennedy wandte sich um, aber die anderen Männer waren schon ein ganzes Stück entfernt. Er musste sich wohl allein um diesen Einbrecher kümmern.

“He! Stopp! Stehen bleiben!”, rief er.

Der Junge hatte den Zaun hinter sich gebracht und rannte so schnell er konnte davon. Kennedy blieb nichts anderes übrig, als ihn zu verfolgen. Er sprang über den Zaun und kam direkt vor Lorna Martins Ehemann Les zum Stehen, der im Bademantel aus dem Haus stürzte.

“Kennedy?”, fragte er aufgeregt. “Was ist denn los? Was machst du denn hier?”

Kennedy hatte so viel Schwung, dass er ihm beinahe in die Arme gefallen wäre. “Zwei Jungs sind in Jeds Werkstatt eingebrochen. Der eine ist hier über den Zaun. Hast du ihn gesehen?”

“Nein, aber ich hab Geräusche gehört, da drüben.” Er deutete in die entgegengesetzte Richtung.

“Sie haben sich getrennt. Der andere ist hier entlang.” Kennedy rannte weiter und konnte nicht mehr verstehen, was Les hinter ihm her rief. Er wollte diesen Jungen unbedingt fangen. Es ging nicht an, dass jemand nach einem Einbruch ungeschoren davonkam. Der Täter musste auf jeden Fall zur Verantwortung gezogen werden.

Kennedy erreichte jetzt die Straße und sah, wie der Schatten vier Häuser entfernt um eine Ecke bog. Offenbar wollte er im Wald Schutz suchen. Wenn er ihn nicht bald erreichte, würde er ihn niemals kriegen. Nicht allein und nicht in dieser Dunkelheit.

Er erreichte die Ecke. Der Täter war verschwunden. Da war nichts als eine Reihe kleiner Häuser, die schwach von den Straßenlaternen angestrahlt wurden. Der schwarze Asphalt glänzte in ihrem Schein.

Es begann zu regnen. Kennedy atmete tief durch und spähte in die Nacht. Wo konnte der Junge hingelaufen sein? Der Regen wurde stärker. Zweifellos würden sie beide schnell durchnässt sein, was nicht gerade eine angenehme Aussicht war.

Trotzdem wollte Kennedy nicht so einfach aufgeben. Er schaute hinüber zu den Eisenbahngleisen, die das Brachland am Rand der Stadt durchschnitt. Der Junge hatte längst das Weite gesucht; andernfalls müsste er irgendwo zu sehen sein.

So, wie er sich bewegt hatte, kannte sich der Einbrecher in dieser Gegend nicht besonders gut aus. Wenn er in diese Richtung lief, würde er zweifellos am Fluss ankommen. Doch wie wollte er ihn überqueren? Schwimmen? Im Dunkeln? Wenn er dieses Risiko nicht eingehen wollte, würde er nicht weit kommen. An dieser Stelle beschrieb der Fluss einen Bogen. Das Land wurde an drei Seiten von Wasser begrenzt.

Kennedy durchquerte im Dauerlauf das Brachland, ließ die Eisenbahnschienen hinter sich und erreichte das kleine Wäldchen am Fluss. Leider war hier kaum noch etwas zu erkennen. Das Dickicht und die Blätter versperrten die Sicht und ließen das Mondlicht nicht bis zum Erdboden durchdringen. Der Junge konnte in mehrere Richtungen gelaufen sein. Vielleicht aber auch nicht. Es war auch möglich, dass Kennedy falsch lag und der Junge sich hier in der Gegend doch gut auskannte. Vielleicht hatte er sich flach auf den Boden gelegt und wartete ab.

Kennedy blieb stehen und horchte. Er hörte den Schrei einer Eule, sonst nichts.

Er drang tiefer ins Gestrüpp ein, bemühte sich, so leise wie möglich voranzukommen, und näherte sich dem Fluss. Ab und zu hielt er an und horchte. Dieses Spielchen konnte man natürlich ewig fortsetzen. Er ging zehn Minuten lang das Waldstück ab und bemerkte nichts.

Er fragte sich, ob es nicht vielleicht besser wäre, zurückzugehen und ein paar Männer mit Taschenlampen zu holen. Gerade als er sich entschlossen hatte, genau das zu tun, hörte er einen Schreckensschrei. Gar nicht weit entfernt, sogar viel näher, als er gedacht hatte. Offenbar war der Junge verletzt.

Jetzt hatte er ihn.

Kennedy arbeitete sich durch das Gestrüpp und bemühte sich, in der Finsternis etwas auszumachen. Plötzlich drang das blasse Mondlicht durch das Blätterdach. Er konnte einen Schatten auf dem Boden erkennen. Offenbar hatte sich der Junge in dem dichten, stacheligen Brombeergebüsch verheddert, das am Flussufer wucherte.

Kennedy arbeitete sich durch das Dickicht hindurch, packte den Jungen am T-Shirt und zerrte ihn aus dem Buschwerk. Dann setzte er ihn unsanft vor sich auf den Boden.

“Was glaubst du eigentlich …”, begann Kennedy seine Schimpftirade. Aber der Junge drehte sich zur Seite und sprang auf die Füße. Er wollte flüchten. Kennedy hielt ihn fest. Der Junge wehrte sich.

“Was soll das denn?”, rief Kennedy aus, als sie zusammen zu Boden gingen. Aber mit einem Mal wurde ihm klar, dass der Körper unter ihm viel zu weich war, um zu einem Jungen zu gehören.

Er riss ihm die Baseballmütze vom Kopf und erstarrte verwundert.

Das war ja eine Frau, und zwar nicht irgendeine. Es war Grace Montgomery.