7. KAPITEL

Grace bekam keine Luft mehr. Sie konnte auch nicht mehr klar denken. Es gab nur einen einzigen Gedanken in ihrem Kopf: Weg! Ich muss hier weg! Sie versuchte, Kennedy abzuschütteln oder beiseitezudrücken, aber sie zitterte bereits am ganzen Körper – und er war einfach zu stark.

“Lass mich los!”

“Hör auf zu schlagen!”

Sie konnte nicht aufhören. Sie war verzweifelt. Wenn er die Bibel bei ihr finden würde, dann wäre noch viel mehr als nur ihr Job in Gefahr.

“Beruhige dich”, sagte er. “Ich … ich wollte dir doch nicht wehtun.” Er drückte ihre linke Hand zu Boden. “Ich dachte …” Er hielt auch ihre andere Hand fest, als er merkte, dass sie auf dem Boden nach etwas suchte, einer Wurzel vielleicht, die ihr helfen könnte, sich von ihm frei zu machen. “… du bist ein Junge.”

Noch bevor sie antworten konnte, hörte Grace eine zweite Stimme. Es war Joe Vincelli. Er arbeitete sich durch das Gestrüpp und rief: “Kennedy? Wo bist du?”

Grace erstarrte. Am liebsten wäre ihr gewesen, der Boden unter ihr würde nachgegeben und sie verschlingen.

Kennedy hob den Kopf, antwortete aber nicht. Sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen, es war einfach zu dunkel.

Nun wandte er sich wieder ihr zu. “Was machst du denn hier?”, flüsterte er barsch. “Wieso bist du in Jeds Werkstatt eingebrochen?”

Sie antwortete nicht, ihr fiel auch gar keine Ausrede ein. Und was spielte es schon für eine Rolle, was sie ihm erzählte? Er hatte sie doch sowieso immer nur für Abschaum gehalten. Jetzt hatte er endlich den Beweis gefunden, dass er schon immer recht gehabt hatte.

“Keine Panik, okay?” Er klang jetzt ruhiger und freundlicher. “Erzähl mir einfach, um was es hier geht. Ich habe nicht die leiseste Idee, was das soll, aber ich hätte es schon gern gewusst.”

Er redete mit ihr wie mit einem verängstigten Kind. Seine Freundlichkeit kam ihr aufgesetzt vor. Sie wusste ja schließlich, was er und seine Freunde von ihr hielten.

Sie bäumte sich auf, um ihre Angst unter Kontrolle zu bekommen, und starrte ihn feindselig an.

“Grace? Was soll das alles?”, drängte er.

Der Regen fiel jetzt noch dichter. Sie spürte die Feuchtigkeit des Bodens und die Tropfen auf ihrem Gesicht. Am Rande ihres Blickfelds bemerkte sie den Lichtkegel von Joes Taschenlampe zwischen den Baumstämmen.

“Hallo?”, rief Joe, während er näher kam. “Kennedy? Wo bist du? Ich sehe doch, dass hier jemand durchgekommen ist.”

Ganz offensichtlich hatte Joe ihre Spuren im Unterholz entdeckt, und es fiel ihm nicht schwer, ihnen zu folgen. Außerdem hatte er ja Licht.

Grace schloss die Augen, weil sie jede Sekunde damit rechnete, dass der Lichtschein sie traf. Aber dazu kam es nicht. Kennedy sprang auf, zog sie hoch, schob sie hinter sich ins Gebüsch und zischte: “Los, hau ab.”

Kennedy konnte nicht fassen, was er da eben getan hatte. Er hatte eine Einbrecherin laufen lassen – und dabei kandidierte er für das Amt des Bürgermeisters.

Er versuchte sich mit dem Argument zu beruhigen, dass eine Festnahme für Grace den Verlust ihres Arbeitsplatzes bedeutet hätte und dass er ihr das nicht zumuten wollte, bevor er nicht die Gründe für ihr merkwürdiges Verhalten kannte. Aber in Wahrheit wusste er, dass sein Motiv ein anderes war. Er hatte gespürt, wie sie zitterte, er hatte ihre Angst bemerkt, und obwohl sie ihn um nichts gebeten hatte, wollte er sie beschützen. Er erinnerte sich an das, was sie zu seinem Sohn gesagt hatte: “Du darfst nicht darauf warten, dass andere dich retten. Du musst versuchen, dich selbst zu retten.”

Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er das Bedürfnis verspürt, sie an sich zu ziehen, um sie vor dem Regen zu schützen. Sie war so unnahbar und gleichzeitig so zerbrechlich. Ganz ruhig, meine Süße. Ich werde dich beschützen.

Aber das war ja der reine Wahnsinn. Für sie war er ein Feind und kein Retter.

Joe tauchte zwischen den Bäumen auf. “Da bist du ja. Warum hast du nicht geantwortet?”

Kennedy trat einen Schritt zurück und stand plötzlich mit einem Fuß auf etwas flachem Eckigem. Ein fester Gegenstand, womöglich ein Buch? Jedenfalls war es keine Pflanze und kein Stein. Es war nicht eben gerade vom Himmel gefallen. Ganz offensichtlich hatte Grace es verloren.

Er wollte Joe auf keinen Fall darauf aufmerksam machen, denn womöglich würde eine Entdeckung Grace in Schwierigkeiten bringen. “Da ist noch eine zweite Person aus der Werkstatt gerannt, also bin ich hinterher. Beinahe hätte ich ihn gekriegt.”

Joe leuchtete mit seiner Taschenlampe das Brombeergebüsch ab. Man sah ziemlich deutlich, dass jemand dort hineingelaufen war, aber Joe schien sich zu fragen, wo er in diesem stacheligen Gestrüpp abgeblieben war. “Er muss noch in der Nähe sein”, stellte er fest. “Los, komm.”

Kennedy bückte sich und hob hastig das Ding auf, das Grace dort verloren hatte. Er schob es unter sein T-Shirt in den Hosenbund und hielt Joe am Arm fest: “Da bin ich schon gewesen.”

Joe suchte weiter die Umgebung mit seiner Lampe ab. “Der kann doch nicht weit gekommen sein. Dahinter ist doch der Fluss.”

Das feuchte Ding in Kennedys Hosenbund fühlte sich an wie ein Buch. Aber warum sollte Grace aus Jeds Werkstatt ausgerechnet ein Buch stehlen? Es war wirklich rätselhaft. “Er ist weg. Außerdem hat es angefangen zu regnen. Gehen wir lieber zurück.”

“Nass sind wir doch sowieso schon.”

“Ich glaube, er ist wieder zurückgerannt. Hier ist er bestimmt nicht mehr.”

“Hast du gesehen, wer es war?”

“Ich hab ihn nicht erkannt, aber er war nicht sehr groß. Wahrscheinlich ein Teenager.”

Joe suchte rundum alles ab. “Das war garantiert kein Teenager.”

Der Beschützerinstinkt, den Kennedy einige Augenblicke zuvor so überraschend bei sich registriert hatte, meldete sich erneut. Er verstand gar nicht, warum er sich so stark zu Grace hingezogen fühlte, jetzt, wo sie doch erwachsen waren. Natürlich wollte er, dass sie ihm wegen seines Verhaltens in der Vergangenheit verzieh, aber er wollte auch, dass sie ihn mochte, und das wiederum verstand er nicht.

Vielleicht, weil sie eine echte Herausforderung darstellte. Es war ihm immer sehr leichtgefallen, Freundschaften zu schließen, und er hatte noch nie erlebt, dass jemand ihm so viel Widerstand entgegensetzte.

Es konnte natürlich auch sein, dass er ihr helfen und ihr Leben beeinflussen wollte, wie einst Raelynn sein Leben beeinflusst hatte. Grace brauchte einen Freund. Er spürte die Verpflichtung gutzumachen, was sie früher erlitten hatte.

“Wie meinst du das?”, fragte Kennedy.

“Ich glaube, es war Kirk Vantassel”, sagte Joe.

Sie machten sich gemeinsam auf den Weg, um den Wald zu verlassen.

Kirk war größer als Joe, und da er gerade erklärt hatte, dass der Flüchtige klein gewesen war, wunderte sich Kennedy und fragte nach: “Wie kommst du denn auf Kirk?”

“Weil die andere Person Madeline Barker gewesen ist. Sie ist zusammen mit ihm eingebrochen. Wir haben sie auf der Straße erwischt.”

Der Regen hatte Kennedys Hemd durchgeweicht. Der Baumwollstoff klebte an seinem Oberkörper. Ganz vorsichtig versuchte er, das Buch zur Seite zu schieben, damit Joe es nicht sehen konnte. “Madeline ist doch eine angesehene Bürgerin. Warum sollte sie in Jeds Werkstatt einbrechen?”

“Sie ist überzeugt davon, dass er ihren Vater getötet hat. Hat uns erklärt, sie hätte nach Beweisen gesucht.”

Das machte Sinn. Madeline war ständig dabei, neue Theorien über das Verschwinden ihres Vaters zu erfinden. Einige davon hatte sie sogar in ihrer Zeitung abgedruckt. Vielleicht hatte sie ja eine neue Spur gefunden.

Kennedy konnte sich gut vorstellen, wie erpicht sie darauf war, dieser Spur nachzugehen. Auf ihre Stiefmutter und deren Kinder ließ sie nichts kommen. Viele Jahre lang hatte sie sie verteidigt. Er konnte sich sogar vorstellen, dass sie Grace überredet hatte, ihr bei diesem Einbruch zu helfen. Könnte es also sein, dass das Buch, das er jetzt bei sich trug, ein Beweisstück darstellte?

“Hat Madeline denn zugegeben, dass Kirk bei ihr war?”, fragte er.

“Sie behauptet, sie sei allein gewesen. Aber als Les mir erzählte, dass du hinter einer anderen Person her warst, war mir klar, dass das nicht stimmt.”

Kennedy folgte dem hellen Kreis, den Joes Taschenlampe auf den Boden warf. Er hätte gern einen Blick hinter sich geworfen, aber er traute sich nicht. Grace würde bestimmt so lange warten, bis er Joe losgeworden war, bevor sie sich auf den Weg nach Hause machte. “Habt ihr sie der Polizei übergeben?”

“Nein. Sie hat versprochen, sie würde den Schaden bezahlen, den sie verursacht hat. Also haben wir sie laufen lassen. Sie hat schon genug mitgemacht.”

Sie erreichten das mondbeschienene Brachland.

“Dass ihr Vater verschwunden ist, hat ihr schwer zu schaffen gemacht”, sagte Kennedy. Und weil das Wetter dafür einen guten Grund lieferte, begann er zu laufen. Er wollte Joe so schnell wie möglich von hier weglotsen. Das Buch, das er an seiner Seite spürte, hatte einen Ledereinband und hatte das Format einer Bibel. Aber das war nicht möglich, oder? Soweit er wusste, war Grace nicht besonders religiös, genauso wenig wie ihre Familie. Ein paar Jahre nach dem Verschwinden des Reverends waren die Montgomerys aus der Kirche ausgetreten. Daraufhin hatten die Leute in der Stadt noch einen weiteren Grund gehabt, auf sie zu zeigen und sie als gottlose Menschen zu brandmarken. Andererseits konnte Kennedy auch nicht glauben, dass sie in die Werkstatt eingebrochen war, um eine Bibel zu stehlen. Selbst wenn Jed dort eine gehabt hatte, gab es keinen vernünftigen Grund dafür.

“Das Verschwinden deines Onkels hat bestimmt die ganze Montgomery-Familie schwer getroffen”, sagte er, um das Gespräch nicht abbrechen zu lassen.

“Ach was”, sagte Joe, der auch losgejoggt war und nun neben ihm lief. “Wenn du mich fragst, sollte Madeline mal ein bisschen näher bei sich zu Hause suchen, wenn sie Antworten finden will. Es ist genau so, wie ich dir schon in deinem Büro gesagt habe: Du solltest McCormick dazu bringen, den Fall neu aufzurollen. Das hier wäre jedenfalls nicht passiert, wenn sich die Polizei darum gekümmert hätte.”

Kennedy strich sich die nassen Haare aus der Stirn. “Du meinst, wir würden Madeline einen Gefallen tun, wenn wir ihre Familie verdächtigen?”

Kennedy wusste, dass Joe die Sache nicht zum Wohl von Madeline verfolgte. Wäre das jetzt nicht eine Gelegenheit gewesen, Grace in anderem Licht erscheinen zu lassen, indem er Joe mitteilte, dass sie Madeline bei der Suche nach Beweisen geholfen hatte? Er war es leid, dass Joe immer auf ihr herumhackte. Aber es war wohl doch besser, ihren Namen in diesem Zusammenhang nicht zu erwähnen. McCormick würde Madeline sicher nicht zu hart rannehmen. Sie war ja bei allen beliebt, was man von Grace nicht gerade behaupten konnte. Wenn Kennedy sie beschuldigte, würde sie garantiert angeklagt werden.

“Sollen die Montgomerys denn das Ganze noch mal durchmachen und eine weitere Untersuchung über sich ergehen lassen?”, fragte er, als Joe langsamer wurde. Er wollte ihn so lange wie möglich beschäftigen.

Joe hatte wieder damit begonnen, mit der Taschenlampe den Waldrand abzusuchen. Aber bei dieser Frage drehte er sich wieder um und ging weiter. “Zum Teufel, ja, wenn sie so schuldig sind, wie ich meine, dann ist das gar keine Frage. Die Gerechtigkeit muss zum Zuge kommen.”

“Gerechtigkeit? Und was ist, wenn sie nicht schuldig sind? Was hat es mit Gerechtigkeit zu tun, wenn wir ihr Leben zerstören?”

Joe zuckte mit den Schultern. “Sie sind doch die Unruhestifter. Und wer sich etwas zuschulden kommen lässt, muss zur Rechenschaft gezogen werden.”

Sie überquerten die Bahngleise. “Das sagst du so einfach”, meinte Kennedy. “Das ist aber vielleicht eine ganz komplizierte Geschichte.”

Joe hielt Kennedy am Arm fest. Sie blieben stehen. “Warte mal kurz. Ich stehe auf der Seite des Opfers. Irgendwas ist mit meinem Onkel passiert”, erklärte er. “Und ich meine, es wird höchste Zeit, dass sich die Polizei damit befasst, was geschehen ist.”

Kennedy riss sich los. “Was treibt dich denn wirklich an, Joe? Das verstehe ich nicht dabei.”

“Ich will die Wahrheit herausfinden, das hab ich doch schon gesagt. Du solltest dich auch dafür interessieren.” Der Regen tropfte aus Joes Haaren, die ihm auf der Stirn klebten. “Willst du mir dabei helfen oder nicht?”

Kennedy erinnerte sich daran, wie Grace ihn auf dem Parkplatz vor der Pizzeria abgekanzelt hatte. Er konnte sich nur einen einzigen Grund vorstellen, warum Joe unbedingt alles in Bewegung setzen wollte, um ihr zu schaden. “Du bist bei ihr abgeblitzt, stimmt’s? Du wolltest so weitermachen wie früher, und sie hat dich weggeschickt. Hab ich recht?”

Joe schaltete die Taschenlampe aus, aber Kennedy konnte seinen finsteren Gesichtsausdruck trotzdem sehen. “Blödsinn! Was sollte ich denn von der willigen Gracie wollen?”

Kennedy erinnerte sich an Grace’ blaue Augen, die wach und intelligent dreingeblickt hatten. Diese Augen zeugten auch von einer Menge Leid, dass sie erduldet hatte. Gleichzeitig waren sie rätselhaft und tief, tief genug, um sich darin zu verlieren. Er glaubte, ganz genau zu wissen, was Joe an ihr so interessant fand. “Sie ist eine sehr schöne Frau und irgendwie was ganz Besonderes.”

“Was Besonderes?” Joe lachte hämisch. “Ich hab’s mit ihr getrieben. Alle haben das getan. Nur du wahrscheinlich nicht, aber auch bloß wegen Raelynn.”

Kennedy ignorierte die Spitze. “Aber das ist doch jetzt alles anders. Damals waren wir noch jung und unerfahren. Sie wusste doch noch gar nicht, wer sie war. Sie war einfach nur ein einsames Mädchen, das uns ihren Körper überlassen hat, weil sie ihn noch nicht als Teil ihrer Selbst ansehen konnte. Aber jetzt ist sie attraktiv und erfolgreich und interessiert sich nicht die Bohne für uns, egal ob für dich oder für mich.”

Joe rieb sich die Regentropfen aus dem Gesicht und ließ den Lichtkegel seiner Taschenlampe ein letztes Mal über den Waldrand gleiten. “Für mich ist sie immer noch die Gleiche”, sagte er und ging weiter. Aber Joe log. Kennedy glaubte nicht, dass es einen einzigen Mann in der Stadt gab, jedenfalls keinen einzigen Single, der nicht davon träumte, mit Grace Montgomery ins Bett zu gehen.

Sogar er selbst wollte das.

Clay ging in der Küche auf und ab, hielt an, warf Grace einen ungläubigen Blick zu, verzog grimmig das Gesicht und sagte: “Das ist nicht wahr.”

“Doch, es stimmt.” Sie wickelte das große Handtuch, das er ihr gegeben hatte, noch enger um sich. Die Nacht war jetzt um drei Uhr morgens noch angenehm warm, aber ihr war kalt. Sie hatte den weiten Weg nach Hause durch den Regen zu Fuß zurückgelegt. Dort hatte sie, ohne sich umzuziehen, die Autoschlüssel genommen und war direkt zur Farm gefahren.

“Aber wir haben die Bibel doch zusammen mit ihm vergraben”, sagte Clay energisch, als könnte er auf diese Weise die Wahrheit ungeschehen machen.

“Sie muss herausgefallen sein. Einmal hab ich es bemerkt. Auf den Stufen der Veranda.”

“Aber das wäre uns doch aufgefallen.”

“Woher willst du das wissen?”, fragte Grace. “Es war doch so dunkel. Und kannst du dich wirklich an alles erinnern? Konntest du noch klar denken?”

Grace fragte sich, ob sie in dieser Nacht überhaupt noch hatten denken können. Clay hatte die Initiative übernommen. Die Leiche zu vergraben und anschließend das Auto ihres Stiefvaters im Steinbruch zu verstecken, das war alles seine Idee. Und damit lebten sie jetzt schon seit achtzehn Jahren.

Was hätten sie auch sonst tun sollen? Die Polizei rufen kam nicht infrage. Grace wusste das heute so gut wie damals. Niemand in Stillwater hätte ihnen geglaubt; niemand hätte ihnen zugehört. Stattdessen hätten alle Vergeltung für den Tod ihres geliebten Reverends gefordert.

“Wir waren doch so vorsichtig”, sagte er.

“Offenbar nicht vorsichtig genug.”

“Aber Jed hat nie etwas von der Bibel gesagt.” Clay rieb sich mit der Hand über die Wangen. “Jedenfalls nicht zu mir. Nicht zu Mom. Nicht zur Polizei. Warum?”

“Ich weiß es nicht.”

Er setzte sich auf den Rand des Tisches neben sie. “Und wo, glaubst du, ist sie jetzt?”

“Kennedy Archer oder Joe Vincelli haben sie bestimmt gefunden. Anders kann ich es mir nicht vorstellen.”

Clay schien neue Hoffnung zu schöpfen. “Vielleicht haben sie sie ja gar nicht bemerkt. Wir sollten morgen hingehen und danach suchen.”

Grace schüttelte den Kopf. “Nein. Ich weiß ganz genau, wo ich sie verloren habe.”

Es musste passiert sein, als sie mit Kennedy gerungen hatte. Kurz zuvor hatte sie die Bibel noch bei sich gehabt. Aber sie wollte nichts von dieser kleinen Rangelei erzählen. Niemand musste erfahren, dass Kennedy sie überwältigt und wieder freigelassen hatte. Sie hatte die Bibel verloren, als sie weglaufen wollte. So wollte sie es erzählen.

Dennoch kam sie nicht umhin, sich eine Frage zu stellen, auch wenn sie so tat, als sei das gar nicht wichtig: Warum hatte er ihr geholfen?

“Als die Luft wieder rein war, hab ich den ganzen Platz abgesucht”, sagte sie. “Das Buch war weg.”

Clay stand auf und fing wieder an, hin und her zu gehen. “Joe Vincelli wird es bestimmt der Polizei übergeben.”

“Ich weiß.”

“Und Kennedy Archer auch.”

Grace antwortete nicht sofort. Sie war sich nicht sicher, was Kennedy betraf. Sie konnte noch immer nicht glauben, dass er sie hatte laufen lassen, und fragte sich, ob er es wohl schon bereute.

“Er wird es wohl tun müssen”, stellte sie fest. “Schließlich will er Bürgermeister werden.”

“Es ist wohl besser, wenn ich Mom anrufe”, sagte Clay. “Sie sollte vorbereitet sein, falls …”

Es klopfte an der Tür. War das Joe? Oder Kennedy? Die Polizei?

Grace’ Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Hatte sie nicht genau das erwartet? Dass eines Tages jemand so an die Tür klopfen und dann das Unheil über sie hereinbrechen würde? Als sie noch jung gewesen war, hatte sie jeden Tag die Rückkehr des Reverends gefürchtet. Jetzt fürchtete sie die, die kommen würden, um nach seinem Verbleib zu fragen.

“Geh nach oben”, flüsterte Clay. “Ich krieg das schon hin.”

Grace hatte ihren Wagen auf dem Kiesplatz hinter dem Haus geparkt, damit es von der Straße aus nicht zu sehen war. Sie wollte schon nach draußen laufen, um wegzufahren, solange es noch möglich war. Aber dann hörte sie Madelines Stimme.

“Hallo, Clay! Hörst du mich? Clay, mach bitte auf!”

Clay ging nicht sofort hin. Er schaute Grace an. “Weiß sie von der Bibel?”

“Falls sie davon weiß, wird es nicht lange dauern, und alles bricht über uns zusammen. Sie wird direkt zu Jed gehen und ihn fragen, wo er sie gefunden hat.”

“Aber warum sollte er ihr das sagen?”

Grace ließ den Kopf hängen. “Natürlich wird er es ihr erzählen. Er muss es tun. Sonst werden sie ihn lynchen.”

“Clay?” Madeline schlug mit den Fäusten gegen die Tür. “Beeil dich doch, los! Ich kann Grace nirgends finden.”

Clay drückte Grace’ Arm und ging durch das Wohnzimmer zur Eingangstür.

Madeline drängte sich herein, kaum dass er die Tür geöffnet hatte. “Oh Gott, Clay. Diesmal hab ich es getan. Und ich habe Grace dazu überredet …”

Sie hielt inne, als sie Grace auf dem Tisch sitzen sah. Sie rannte in die Küche und umarmte sie. “Da bist du ja! Es tut mir so leid! Ist alles in Ordnung?”

“Ja, alles okay.” Grace warf Clay über die Schulter von Madeline einen Blick zu. Ganz offensichtlich wusste ihre Stiefschwester nichts von der Bibel, sonst hätte sie bestimmt anders reagiert. Hätte Joe sie gefunden, hätte er sie sofort der Polizei übergeben, damit alle endlich glaubten, was er immer behauptet hatte. Das bedeutete, dass Kennedy Archer sie gefunden hatte.

“Ich bin so froh, dass du in Sicherheit bist”, sagte Madeline. “Es tut mir so leid, dass ich dich dazu überredet habe.”

“Ist schon in Ordnung”, sagte Grace. “Was ist denn nun eigentlich noch passiert?”

“Sie haben mich auf der Straße geschnappt.” Madeline hob stolz den Kopf. “Aber ich habe mich nicht kampflos ergeben.”

Die Prellung an ihrer Wange war der Beweis für ihre Behauptung.

Jetzt erst bemerkte Madeline die Kratzwunden an Grace’ nackten Beinen, ihren Händen und in ihrem Gesicht. “Um Himmels Willen, wie siehst du denn aus!”, rief sie aus. “Dich hat es ja viel schlimmer erwischt als mich.”

“Ich hab mich in den Brombeerbüschen am Fluss versteckt.”

“Sie haben dich also nicht gefunden?”

Grace erinnerte sich, wie der muskulöse Körper von Kennedy sich auf sie gesenkt hatte, an seine kräftigen Arme und Hände, und sie spürte ein merkwürdiges Gefühl im Unterleib. Ich wollte dir doch nicht wehtun …

Eigenartig. Er und seinesgleichen waren doch auf nichts anderes aus, als andere zu verletzen. Das erklärte zwar nicht, warum er sie freigelassen hatte, aber … ganz offensichtlich ist er nicht ganz bei sich gewesen. “Nein, sie haben mich nicht gefunden.”

“Gut. Sie wissen, dass irgendjemand bei mir war, aber ich hab ihnen nicht gesagt, wer es war. Ich glaube auch nicht, dass sie Interesse daran haben, die Angelegenheit an die große Glocke zu hängen. Sie wissen ja, warum ich dort war. Sie wissen, dass ich nichts mitgenommen habe und dass ich für den Schaden aufkomme.”

“Das ist gut”, sagte Grace, aber es fiel ihr schwer, zu lächeln und erleichtert zu tun. Ganz bestimmt würde Kennedy ihr schon bald auf die Pelle rücken. Die Sache mit der Bibel war zu offensichtlich.

Und sie konnte sich jetzt schon ausmalen, wie Madeline reagieren würde, wenn Kennedy die Sache publik machte.

Kennedy saß in seiner Küche. Das Buch, das er im Wald gefunden hatte, war tatsächlich eine Bibel, aber nicht irgendeine Bibel. Diese hier hatte einmal Reverend Lee Barker gehört. Sein Name war auf dem Umschlag eingeprägt, und innen waren die Seiten mit handschriftlichen Anmerkungen von ihm übersät. Kennedy erinnert sich noch sehr gut daran, wie der Reverend das Buch immer aus seiner Tasche gezogen hatte.

Nachdenklich blätterte er die dünnen Seiten durch. Die Anmerkungen an den Rändern waren beunruhigend, denn sie entlarvten den Besitzer der Bibel als rechthaberischen Menschen, dem offenbar mehr daran gelegen war, sein eigenes Wort durchzusetzen als das Wort Gottes. Kennedy war noch jung, als der Reverend verschwand, aber die Anmerkungen in diesem Buch, das er jetzt schon seit Stunden durchblätterte, zeichneten das Bild eines Mannes, der ganz anders war, als Kennedy ihn in Erinnerung hatte – ganz anders auch als der fromme Mann, als der er vor seiner Gemeinde immer aufgetreten war.

Es gab auch eine ganze Seite, auf der der Reverend seine Ansichten über Grace aufgeschrieben hatte. Dort stand, was sie gesagt hatte, was sie tat und wie sie aussah. Einige poetische Ausführungen schienen ebenfalls ihr gewidmet zu sein. Wer weiß, dachte Kennedy, ob nicht noch mehr dahintersteckte als nur das, was hier geschrieben stand …

Er versuchte, seine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Vielleicht war Barker ja einfach nur ganz besonders glücklich über seine Stieftochter.

Aber seltsamerweise gab es keine Bemerkungen über Molly. Warum hatte er sich nur mit Grace befasst?

Kennedy fand keinen vernünftigen Grund dafür. Egal wie er den Text las, er hatte immer ein ungutes Gefühl dabei. Ganz offensichtlich war der Reverend von seiner Stieftochter Grace geradezu besessen.

Kennedy lief es eiskalt den Rücken hinunter. Er klappte die Bibel zu und schob sie von sich, doch der eingeprägte Name des Reverends zog ihn immer wieder an. Vor achtzehn Jahren war Grace noch ein junges Mädchen, genauso alt wie er.

Er stand auf, ging zum Fenster und schaute auf die Straße, die zur Autobahn führte. Was er jetzt dachte, konnte einfach nicht wahr sein. Der Reverend ist doch ein Mann Gottes gewesen. Die sexuellen Fantasien, die Kennedy mit Grace in Zusammenhang brachte, mussten aus seinem eigenen Kopf kommen. Es konnten unmöglich die Obsessionen von Lee Barker sein. Früher hatte Kennedy nie so über Grace gedacht, jetzt aber schon. Er konnte den Anblick von Grace, wie sie nackt am Fenster stand, einfach nicht vergessen.

Nachdenklich wandte er sich vom Fenster ab. Auf seinem Küchentisch lag die Bibel des Reverends. Wenn er wüsste, dass Grace freiwillig zu ihm kommen würde, würde er sie dann dazu auffordern? Jetzt gleich? Heute Abend?

Seufzend fuhr er sich mit einer Hand durchs Haar und ging dann leise in sein kleines Musikzimmer neben der Eingangstür. Vielleicht vermisste er Raelynn nur so sehr. Vielleicht rief Grace in ihm ja nur ein instinktives, geradezu primitives Gefühl wach, dass ihn antrieb, sie zu erobern. Aber er hatte diesen Drang noch nie so deutlich gespürt wie jetzt. Trotzdem ging es zunächst einmal um die Tatsache, dass Reverend Barker eines Tages unter mysteriösen Umständen verschwunden war. Und darum, dass die Familie von Grace verdächtigt wurde, etwas damit zu tun zu haben. Und nun hielt er diese Bibel in der Hand, die der Reverend immer bei sich getragen hatte. Grace hatte sie verloren.

Er musste das Buch der Polizei übergeben. Etwas anderes kam gar nicht infrage. Oder?

Aber er konnte sich schon denken, wie es dann ablaufen würde. Alle in der Stadt würden mit dem Finger auf Grace und ihre Familie deuten, allen voran Joe Vincelli. Die Montgomerys würden dann eine weitere quälende Untersuchung über sich ergehen lassen müssen. Wenn alles gut ging, kam wieder nichts dabei heraus, aber wenn es schlecht lief …

Seine Schritte waren auf dem dicken Teppich nicht zu hören, als er hin und her ging. Er wollte sich gar nicht ausmalen, was passieren würde, wenn es schlecht lief. Vor allem deshalb, weil ganz offensichtlich etwas Merkwürdiges, ja Beunruhigendes zwischen dem Reverend und der Familie Montgomery vor sich gegangen war. Etwas Düsteres, etwas Schlimmes vielleicht sogar. Er spürte es ganz deutlich. Aber er schreckte davor zurück, es sich auszumalen – und vermutete, dass Grace es ihm wohl niemals erzählen würde.

Er umkreiste das Klavier und setzte sich in einen der Ledersessel. Noch einmal erinnerte er sich an das Zittern ihres Körpers, das er gespürt hatte, als er sie überwältigt hatte. Aber sie hatte ihn nicht um Nachsicht angebettelt, keinen Gefallen verlangt. Sei hatte unter ihm gelegen, und ihr Herz hatte gepocht wie das eines erschreckten Kaninchens. Sie hatte von Kopf bis Fuß gebebt, während sie darauf gewartet hatte, dass Joe aus dem Dickicht treten und sie zum Schafott bringen würde.

Kennedy griff nach dem Telefon, das auf dem Tisch neben ihm stand. Er war an Grace’ Haus vorbeigefahren und hatte gesehen, dass alles dunkel war. Da ihm zu diesem Zeitpunkt schon klar gewesen war, dass er Lee Barkers Bibel gefunden hatte, hatte er darauf verzichtet, bei ihr zu klopfen. Zuerst wollte er darüber nachdenken, was das alles bedeutete, dann mit ihr sprechen. Aber jetzt, nachdem er in dem Buch gelesen hatte, wusste er überhaupt nicht mehr, wie er sich verhalten sollte.

Er nahm den Hörer ab und wählte die Nummer der Auskunft.

Eine Frauenstimme meldete sich. “Auskunft, schönen guten Abend.”

“Ich möchte eine Nummer in Stillwater, eine neue Nummer. Der Name ist Grace Montgomery.”

Es dauerte einen Moment, dann sagte die Stimme: “Es tut mir leid, aber eine Grace Montgomery ist in Stillwater nicht registriert. Soll ich es woanders versuchen?”

“Nein, vielen Dank”, sagte er und legte auf. Grace hatte kein eigenes Telefon angemeldet. Das war nicht verwunderlich, denn er hatte gehört, dass sie ohnehin nur ein paar Monate in Stillwater bleiben wollte. Wahrscheinlich hatte sie ein Handy und brauchte gar keinen Festnetzanschluss. Leider wusste er nicht, wie er ihre Handynummer herausfinden konnte.

Er warf einen Blick auf die Standuhr im Hausflur. Inzwischen war es sowieso schon zu spät, um sie anzurufen.

In der Küche nahm er die Bibel vom Tisch und ging ins Schlafzimmer, wo er sie in die Sockenschublade legte. Er würde später entscheiden, was damit zu tun war. Im Moment interessierte ihn viel mehr, was in den Monaten vor dem Verschwinden des Reverends passiert war.

Vermutlich würde das, was damals geschehen war, alles Weitere erklären.

Als Grace nach Hause kam, entdeckte sie einen Zettel, der unter der Tür hindurchgeschoben worden war.

Sofort drehte sie sich um und schaute nach, ob jemand sich im Gebüsch versteckt hatte, auf der Straße lauerte oder irgendwo im Schatten der Garage oder dem Ende der Veranda. Vielleicht war der Absender der Nachricht ja noch in der Nähe. Nach allem, was passiert war, erwartete sie jeden Moment das Schlimmste. In den vergangenen Stunden hatte sie sich wie eine Gefangene ihres Schicksals gefühlt, wie jemand, der an Eisenbahngleise gekettet war und schon das Signal des herannahenden Zuges hörte … die Schranke am Bahnübergang senkte sich … die Lokomotive rollte immer näher … Was jetzt passierte, war unvermeidlich. Sie wusste nur nicht, wann es so weit war.

Aber niemand war in der Nähe des Hauses zu sehen.

Sie hob den gefalteten Zettel auf, trat ein, schloss die Tür hinter sich ab und setzte sich ins dunkle Wohnzimmer, wo die Uhr leise vor sich hin tickte. Sie war sich nicht sicher, ob sie diese Mitteilung überhaupt lesen wollte. Aber wenn sie das Signal des Zuges überhörte, würde er trotzdem heranrollen …

Seufzend stand sie auf und durchquerte das Zimmer, um das Licht einzuschalten. Dann faltete sie den Zettel auseinander.

Wo bist du, schöne Frau? Ich glaube, wir haben uns gestern Abend auf dem falschen Fuß erwischt. Ich bin gar kein so übler Bursche, und wenn du es auch bist, bin ich bereit, zu vergeben und zu vergessen. Die Schulzeit ist lange vorbei. Lass uns noch mal von vorn anfangen. Ruf mich an.

Darunter standen Joes Name und seine Telefonnummer.

Grace verzog das Gesicht, als sie seine schlampige Handschrift ansah. Er hatte es einfach nicht kapiert. Er dachte wohl, mit ein bisschen Druck würde er schon bekommen, was er wollte.

Kopfschüttelnd ging sie durchs Zimmer und zündete die Kerzen an. Eine kleine Kerze in der einen, den Zettel in der anderen ging sie zum Ausguss und steckte das Papier in Brand.

So viel zu Joe. Er würde ganz sicher nie von ihr hören.

Nachdem sie die Asche weggespült hatte, rief sie George an. Sie wollte sich daran erinnern, dass sie auch noch ein anderes Leben hatte, jenseits von Stillwater, und dass es noch schönere Aussichten in ihrem Leben gab – eine gemeinsame Zukunft mit ihm, eine Familie.

Aber George meldete sich nicht.

Sie sah auf die Uhr. Es war schon fast fünf Uhr morgens. Wahrscheinlich schlief er. Das hatte sie auch erwartet, aber sie sehnte sich nach dem Klang seiner Stimme. Bisher hatte er immer abgenommen, wenn sie ihn angerufen hatte, egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit.

Sie versuchte es noch einmal. “Hallo, hier spricht George E. Dunagan. Leider kann ich im Moment nicht ans Telefon kommen …”

Sie legte auf und trat vor die Tür, die auf die hintere Veranda hinausführte. Die Bäume wiegten sich im Wind. Grace fühlte sich sehr allein in diesem fremden Haus. Wahrscheinlich schlief George in dieser Nacht einfach nur fester als sonst, weil er einen anstrengenden Tag hinter sich hatte. Bestimmt verausgabte er sich mit diesem Einbruchsfall mit Vergewaltigung, von der er gesprochen hatte, als er vor einer Woche ihre Möbel gebracht hatte. Sie wusste ja, wie anstrengend die Arbeit eines Anwalts war. Und der ständige Zwang, Tatsachen anders zu interpretieren, zu verschleiern oder zu verstecken, konnte wirklich sehr ermüdend sein.

Jetzt tat sie ihm Unrecht, stellte sie fest. Aber sie wusste ja, mit welchen Tricks die Verteidiger vor Gericht arbeiteten, und George machte da keine Ausnahme. Wie auch immer, sie würde ihn einfach morgen früh anrufen, ganz sicher würde er dann in seinem Büro zu erreichen sein. Sie ging nach oben.

Der Regen hatte aufgehört. Sie war froh über das Unwetter, denn es hatte bewirkt, dass es nicht mehr so heiß und trocken war. Das Heulen des Windes aber mochte sie nicht. Dieser Klang erinnerte sie immer an jene Zeit, als sie zitternd unter ihrer Bettdecke gelegen hatte, sich kaum traute zu atmen und viel zu verängstigt war, um sich zu bewegen. Es war genau so eine stürmische Nacht, als sie zum ersten Mal das leise Knirschen im Flur gehört hatte, kurz bevor der dunkle Schatten ihres Stiefvaters in der Tür zu ihrem Schlafzimmer erschienen war …

“Er ist tot. Tot und begraben”, flüsterte sie vor sich hin. Sie hatte mitgeholfen. Sie hatten alle geholfen. Aber wenn sie die Augen schloss, sah sie trotzdem, wie er durch ihr Fenster starrte.

Er war zurück. Und er versuchte hereinzukommen.