16. KAPITEL

Im ehemaligen Büro des Reverends war es stickig und heiß. In allen Ecken hingen Spinnweben. Es roch nach Schimmel. Durch ein Loch im Dach war Wasser eingesickert und hatte einen Teil der Decke und eine Wand modrig werden lassen. Es war ein Schaden, der Grace an den bösartigen Charakter ihres Stiefvaters erinnerte. Auch er hatte sich ganz langsam an sein unheilvolles Werk gemacht und alles, was mit ihm in Berührung kam, verdorben.

Grace blieb im Eingang stehen und versuchte Kräfte zu sammeln, um in das Reich des Bösen vorzudringen, aber Clay ging ohne zu zögern hinein und zog die Jalousien hoch. Dann griff er nach einem alten Tuch und wischte damit über die schmutzigen Fensterscheiben.

Als er fertig war, drang das Sonnenlicht herein und beleuchtete den Ort, an dem Reverend Barker seine Predigten verfasst und seine Stieftochter missbraucht hatte.

“Stehst du das durch?”, fragte Clay.

Sie nickte.

Er trat zu ihr und sah sie besorgt an. “Bist du sicher? Du siehst aus wie ein Gespenst.”

“Das Gespenst bin ja nicht ich”, sagte sie leise.

“Meinst du, er beobachtet uns?”

“Das will ich doch hoffen.” Sie wollte, dass Lee Barker sah, dass sie noch immer lebte und selbst über ihr Leben bestimmen konnte. Jetzt hatte sie genügend Kraft dafür.

“Er schmort garantiert in der Hölle”, sagte Clay.

Sie machte einen Schritt nach vorn und dann noch einen und ging zum Aktenschrank, in dem der Reverend seine Unterlagen aufbewahrt hatte. Sie hatte keine Ahnung, was er mit all den Polaroidfotos von ihr gemacht hatte, aber sie wusste, dass einige hier versteckt waren. Nachts, wenn alle anderen schliefen, hatte er ihr zugeflüstert, dass er sie ihrer Mutter zeigen würde, wenn sie sich nicht von ihm anfassen ließ. Die Angst davor, die Enttäuschung in den Augen ihrer Mutter zu sehen, hatte sie gefügig gemacht. Sie wollte nicht, dass die Familie in die Brüche ging, ihnen die Existenzgrundlage nehmen und daran schuld sein, dass Madeline von ihnen getrennt wurde. Irgendwann genügte es ihrem Stiefvater nicht mehr, sie in sein Büro zu rufen. Er wurde so dreist, sie in ihrem Zimmer aufzusuchen. Zu diesem Zeitpunkt schämte sie sich schon so sehr, dass er ihr gar nicht mehr drohen musste. Sie hätte fast alles getan, um dieser Demütigung zu entgehen. Du willst doch nicht, dass deine Mom erfährt, was wir miteinander tun, nicht wahr? Sie wird uns beide verlassen, wird dich bei mir lassen …

Grace wusste, dass ihre Mutter sie wahrscheinlich nicht verlassen würde. Aber sie glaubte nicht, dass noch jemand sie würde lieben können, wenn herauskam, was sie über sich ergehen ließ. Schließlich hatte ihr Vater sie verlassen. Er hatte zwar behauptet, sie alle zu lieben, aber es war nicht genug, um zu bleiben. Dann ging er fort und kam nie mehr wieder, und obwohl Irene alles versuchte, ihn ausfindig zu machen, war er einfach verschwunden.

Grace stützte sich an der Wand ab, senkte den Kopf und atmete einige Male tief durch. Ihr war schwindelig. Sie befürchtete, jeden Moment in Ohnmacht zu fallen.

“Setz dich hin”, sagte Clay. “Du kannst zusehen, wie ich alles einpacke.”

“Nein. Das reicht nicht”, murmelte sie. Sie wollte selbst Hand anlegen, um diesen Ort der Schande zu beseitigen. Vielleicht deshalb, weil sie glaubte, sie hätte damals versagt und nicht genügend Widerstand geleistet. Sie hatte sich immer gefragt … Wenn sie weniger gehorsam und durchsetzungsfähiger gewesen wäre so wie ihre Schwestern – wäre sie dann davongekommen? Was an ihr hatte Barker dazu verführt, zu tun, was er getan hatte?

Da ist ja meine hübsche Kleine. Bleib ganz still, dann wird es dir dieses Mal gefallen. Ich verspreche es dir.

“Grace?”

Es kam ihr vor, als wäre es erst gestern passiert. Sie konnte sogar noch seinen Atem riechen …

Clay rief sie noch einmal, und endlich konnte sie sich von der grausigen Erinnerung losmachen. Sie wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn und drehte sich zu ihrem Bruder um. “Was ist?”

“Wo sollen wir anfangen?”

“Hier”, sagte sie. Als sie den Aktenschrank öffnete, fühlte sie sich, als hätte sie ein Beruhigungsmittel genommen. Es gelang ihr kaum, den Arm zu heben, so schwer und kraftlos war er.

Endlich gelang es ihr, die oberste Schublade aufzuziehen. Sie hatte gewusst, dass sie nicht verschlossen war. Grace warf einen Blick hinein. Clay und ihre Mutter hatten den Schlüssel weggeworfen, in der Nacht, in der sie den Reverend vergruben – gleich, nachdem sie die Bilder zerstört hatten.

Grace wusste, dass es noch viel mehr gegeben hatte als die, die sie damals fanden. Die Fotos waren für das perverse Verlangen ihres Stiefvaters ganz wichtig. Wahrscheinlich hatte er selbst den Großteil davon weggeschafft, weil er Angst bekam, sie könnten entdeckt werden. Jedenfalls hatte die Polizei bei ihrer Durchsuchung nichts gefunden. Sie hatten andere Gegenstände als Beweismittel mitgenommen – einen Brief ihrer Mutter, in dem sie androhte, sie werde ihn verlassen, wenn er sie nicht besser behandelte; ein von Grace gemaltes Bild von einem Mann, der am Ast eines Baumes hing und ihrem Stiefvater verdächtig ähnlich sah; ein Auszug vom Konto ihrer Mutter, auf dem mehrere geplatzte Schecks dokumentiert waren, was in krassem Gegensatz zu Reverend Barkers gut gefülltem Bankkonto stand; die Police der Lebensversicherung, auf der vermerkt war, dass Irene Montgomery nach dem Tod ihres Mannes 10 000 Dollar bekommen sollte, eine Summe, die sie allerdings nie eingefordert hatte. Abgesehen von den Auszügen und der Versicherungspolice waren das Dinge, die Irene und Clay in der Eile, die Leiche loszuwerden, die Blutspuren zu beseitigen und den Wagen in den Steinbruch zu fahren, einfach vergessen hatten.

Es genügte, um bei der Polizei einen Verdacht zu erzeugen, reichte aber glücklicherweise nicht aus, um Anklage zu erheben.

In der kleinen Holzkiste, in der Barker die Fotos aufbewahrt hatte, lagen jetzt nur noch seine Sammlung von Silberdollars, eine Krawattennadel in Form eines Kreuzes und sein Führerschein. Grace’ Hand zitterte, als sie die Dinge berührte. Zwanzig Silberdollar und einige wertlose Schmucksachen, das war alles, was von diesem Menschen übrig geblieben war. Das und eine ganze Menge Hassgefühle, die sich in den wenigen Menschen aufgestaut hatten, die seinen bösen Charakter wirklich gekannt hatten.

“Betrug!”, rief sie aus und warf die Kiste gegen die Wand. Sie zerbarst und fiel in Einzelteilen zu Boden.

Clay schaute bei ihrem Wutausbruch auf. Aber er hielt sie nicht auf, als sie alle Schubladen und Ordner aus dem Schrank zerrte und zu Boden warf, den Schreibtisch in Unordnung brachte und die Bilder von den Wänden riss. Sie zerschlug die kleine Klimaanlage, deren Summen direkt neben ihrem Kopf zu hören gewesen war, wenn sie auf dem Boden gelegen hatte und sein Gewicht auf sich gespürt hatte. Auch das Radio hob sie hoch und warf es in hohem Bogen gegen das Fenster.

Es prallte ab, hinterließ feine Risse im Glas und zersprang auf dem Boden in tausend Teile. Erst dann blieb sie keuchend in der Mitte des Raumes stehen.

“Besser?”, fragte Clay ruhig.

Grace starrte ihre Hände an. Sie schmerzten, rote Striemen waren auf den Handflächen zu sehen, so heftig hatte sie zugepackt. “Er pflegte, Big-Band-Musik zu spielen, um mein Wimmern zu übertönen. Er war so ein vorsichtiger Mann. So besorgt um den äußeren Schein.”

“Er hat seine Strafe bekommen, Grace.”

“Nein, hat er nicht”, stammelte sie. “Ich hoffe nur, du hast recht und er ist wirklich in der Hölle.”

Clay trat zu ihr und fasste sie an der Schulter. “Bitte, Grace, du darfst nicht zulassen, dass er dein ganzes Leben ruiniert.”

Genau darum ging es. Ob es ihr gelang, die Oberhand zu behalten, würde sich erst noch herausstellen.

Sie nickte und atmete tief ein. Bald würde sie wieder in ihren Garten gehen und jäten und umgraben, bis der Schmerz endlich verging.

Aber dann sah sie diesen Raum plötzlich mit den Augen ihrer Stiefschwester, und ihr wurde klar, was sie gerade getan hatte. “Aber was sagen wir denn, was hier passiert ist?”, fragte sie.

Clay schob sie sanft auf einen Stuhl. “Wir sagen einfach, dass jemand eingebrochen ist, um nach Spuren zu suchen, und dabei alles verwüstet hat.”

“Ob Madeline uns das glaubt?”

Clay wischte einen Bluttropfen von ihrer Hand, sie hatte sich geschnitten. “So, wie die Leute in der Stadt sich uns gegenüber benehmen, wird sie uns bestimmt glauben.”

Grace senkte den Kopf und schlug die Hände vors Gesicht. “Die arme Maddy. Er war doch ihr Vater. Ich hätte das nicht tun dürfen. Wer weiß, vielleicht wäre er ja kein so schlechter Mensch geworden, wenn es mich nicht gegeben hätte.”

“Das glaubst du doch wohl selbst nicht. Natürlich war er schlecht”, sagte Clay.

Aber genau das hatte ihr Stiefvater ihr immer wieder erzählt. Jetzt, mit einunddreißig, weigerte sie sich, das zu glauben. Aber damals hatte er ihr das einreden können. Und tief in ihrem Herzen glaubte sie noch immer, dass da etwas dran war.

Clay legte eine Hand unter ihr Kinn und zwang sie, zu ihm aufzusehen. “Mach dir keine Sorgen”, sagte er. “Du kannst nichts dafür.”

Sie legte ihre Hand auf seine. Clay hatte immer versucht, die Last von allen anderen zu tragen. Aber sogar seine Schultern waren nicht breit genug für das Leid, das der scheinheilige Reverend seinen Mitmenschen zugefügt hatte.

An diesem Abend ging Kennedy wie jeden Donnerstag in die Billardhalle. Diese Woche wollte er nicht spielen, aber es gab keinen besseren Ort, sich über Klatsch und Tratsch zu informieren. Er wollte wissen, wer auf seiner Seite stand und wer auf das Drängen der Vincellis ins Lager von Vicki Nibley gewechselt war.

Joe, Buzz, Tim und Russ Welton, ein Freund, den er lange nicht gesehen hatte, waren schon da, als Kennedy eintrat. Sie riefen ihm eine Begrüßung entgegen, als er hereinkam, und winkten ihn an ihren Tisch. Kennedy hatte schon mehrmals mit Joe telefoniert, seit er das Flugblatt gelesen hatte. Joe behauptete, er wolle sich aus dem Streit heraushalten. Kennedy aber hatte den Verdacht, dass jemand ganz gezielt an diesem Zerwürfnis zwischen den Archers und den Vincellis arbeitete. Als sie erfahren hatten, dass er das Wochenende mit Grace verbracht hatte, waren sie wütend geworden. Normalerweise hätten sie ihn angerufen und gefragt, was zum Teufel ihn denn bloß dazu gebracht hatte. Dass sie gleich so heftig reagiert hatten, ohne überhaupt mit ihm zu reden, war eher ungewöhnlich.

Eigentlich kam nur Joe infrage. Sicherlich tat er nur so, als sei er eine unbeteiligte Randfigur. Wahrscheinlich wollte er nicht, dass seine Eltern von den Spielschulden erfuhren, die er angehäuft hatte. Kennedy war sich über seine Beweggründe nicht ganz im Klaren, aber als Joe dann beim Billard gegen ihn verlor, beklagte er sich nicht lautstark über seine Niederlage. Das sah gar nicht nach ihm aus.

“Du bist ja gut in Form heute”, lobte Joe und nahm einen Schluck von seinem Bier.

Kennedy stellte seinen Queue in den Ständer und zuckte mit den Schultern. Wer heute gewann oder verlor, interessierte ihn gar nicht, und es hatte keinen Sinn, Joe zu provozieren. “Ich habe diese Woche eben Glück”, sagte er.

“Vielleicht sogar in mehr als nur einer Hinsicht?”, fragte Joe grinsend.

Kennedy merkte, wie die Blicke der anderen Männer sich ihm zuwandten. “Was willst du denn damit sagen?”

“Du triffst dich immer noch mit Grace, stimmt’s?”

“Wir sind befreundet.”

“Sie ist ja eine echte Schönheit geworden”, sagte Buzz, um zu verhindern, dass es zu einer Auseinandersetzung kam.

Joe wog eine Billardkugel in der Hand. “Nur befreundet?”

Kennedy griff nach seinem eigenen Bierglas. “Warum fragst du? Willst du deiner Familie Bericht erstatten?”

Joe warf die Kugel auf den Tisch zurück, wo sie herumrollte und gegen mehrere andere stieß. “Ich hab dir doch schon gesagt, dass ich mich da raushalte. Aber ich kann verstehen, dass sie enttäuscht sind, dass du Grace ihnen vorziehst. Unsere Familien sind seit langer Zeit befreundet, und die Vincellis haben die Archers immer unterstützt.”

“Deine Eltern können wählen, wen sie wollen”, sagte Kennedy. “Mir ist das egal.”

“Es wird dir nicht mehr egal sein, wenn du deswegen die Wahlen verlierst.”

“Ich werde die Wahl nicht verlieren.”

Joe grinste schlau vor sich hin. “Ich sage ja nur, es wäre schade, wenn es passieren würde. Vor allem, nachdem du so viel Unterstützung bekommen hast – jedenfalls, bevor du dich mit Grace eingelassen hast.”

“Ich kann mich einlassen, mit wem ich will”, entgegnete Kennedy scharf.

“Natürlich. Ich sag doch gar nichts dagegen.”

Kennedy glaubte ihm kein Wort. Aber bevor er etwas erwidern konnte, berührte ihn jemand am Arm. Er drehte sich um und sah Janice Michaelson vor sich. Sie war vier Jahre älter als er und lebte zurzeit mit einer Freundin zusammen, die sie im Internet kennengelernt hatte. Da sie nie geheiratet hatte und nie mit einem Mann gesehen wurde, ging das Gerücht herum, sie und ihre Freundin seien lesbisch. Sie trug das Haar kurz, benutzte kein Make-up und zog sich burschikos an. Alles passte ins Klischee. Janice aber hatte nie zugegeben, dass sie sich zu Frauen hingezogen fühlte. Kennedy machte ihr aus alledem keinen Vorwurf. In einer Stadt wie Stillwater war es nicht leicht, homosexuell zu sein.

“Wollen wir tanzen?”, fragte sie.

Joe machte eine oberschlaue Bemerkung darüber, wer dabei wohl führen würde, und Tim und Randy lachten. Buzz tat so, als hätte er nichts gehört.

“Gern.” Kennedy legte seine Hand um Janice und hoffte, sie außer Hörweite zu bekommen, bevor Joe eine weitere Beleidigung äußerte. Aber das war gar nicht nötig, denn sie warf Joe einen scharfen Blick zu.

“Immerhin mögen mich die Frauen, die ich kenne, was man von dir nicht gerade behaupten kann”, sagte sie.

Joe wurde rot, als Tim witzelte: “Die hat’s dir aber gegeben, Alter.” Sogar Buzz musste lachen.

“Findest du das etwa witzig, du fette alte Lesbe?”, rief Joe. “Immerhin leide ich nicht unter Penisneid.”

Sie schaute demonstrativ auf seinen Schritt und sagte: “So wie deine Hose aussieht, wundert mich das aber sehr.”

Joes Armmuskeln schwollen an, als seine Hände sich um den Rand der Tischplatte krampften. Er setzte zu einer Entgegnung an, aber Kennedy, der das böse Glitzern in seinen Augen rechtzeitig wahrnahm, zog Janice mit sich fort auf die Tanzfläche.

“Joe ist ein Idiot”, sagte er, während er sie durch die Menge hindurch in die Mitte der Tanzfläche schob.

“Falls du das eben erst herausgefunden haben solltest, bist du aber ziemlich spät dran”, murmelte sie.

“Immerhin hat er mir mal das Leben gerettet.”

“Wahrscheinlich hat er dich ins Wasser geschmissen, bevor er dich wieder rausgeholt hat. Das sähe ihm ähnlich.”

Kennedy hatte noch nie vorher mit Janice getanzt. Normalerweise hockte sie mit ihrer Freundin – oder Lebensgefährtin, falls die Gerüchte stimmten – an der Bar, oder sie spielten Billard. Manchmal saßen sie auch weiter hinten und schauten sich Football-Übertragungen an und aßen dazu Chips.

“Wo ist Constance denn heute Abend?”, fragte Kennedy.

“Sie besucht ihren Vater in Nashville.”

“Kommt sie von dort?”

“Ihr Vater kommt da her. Sie selbst ist in Michigan bei ihrer Mutter aufgewachsen.”

Ihm fiel nicht mehr viel ein, was er sie noch fragen könnte. “Also bist du heute zur Abwechslung mal allein unterwegs.”

“Ich bleibe nicht lange. Eigentlich wollte ich eben schon nach Hause gehen, aber dann habe ich dich reinkommen gesehen. Also bin ich geblieben.”

Meinetwegen?”, fragte er überrascht.

“Ja. Wahrscheinlich ist es einfach nur dumm von mir, aber …” Sie schaute sich nach allen Seiten um. “… ich muss dir was sagen.”

Jetzt war er richtig verwirrt. Was konnte Janice ihm schon erzählen? “Um was geht’s denn?”

“Ich hab gehört, dass du dich mit Grace Montgomery triffst.”

“Jetzt sag bloß nicht, dass du auch nicht mehr für mich stimmen willst.” Er verzog das Gesicht.

“Ob du dich mit Grace triffst oder nicht, interessiert mich in diesem Zusammenhang nicht. Aber es geht hier um mehr als nur die Wahl. Und deshalb möchte ich dir etwas sagen.”

“Jetzt hast du mich wirklich neugierig gemacht.”

Sie biss sich auf die Unterlippe und zögerte.

“Worum geht’s?”, fragte er.

“Ich hoffe nur, ich bereue das nicht eines Tages”, stöhnte sie und zog ihn etwas näher an sich heran.

Kennedy sah, wie Joe sich reckte, um sie besser sehen zu können, und schob Janice ein Stück weiter in die Menge der Tanzenden. “Jetzt sag schon.”

“In der Nacht, als Reverend Barker verschwand, hab ich Clay gesehen. Er fuhr das Auto seines Stiefvaters.”

“Wann war das?”

“Spät. Sehr spät.”

Kennedy stolperte und stürzte gegen sie. Anstatt weiterzutanzen, schob er sie zum anderen Ende der Tanzfläche, damit sie aus Joes Sichtfeld waren. “Kannst du das noch mal wiederholen, bitte?”

“Du hast mich schon verstanden”, sagte sie.

“Aber das kann gar nicht sein. Die Montgomerys behaupten doch, sie hätten Barker und sein Auto nicht mehr gesehen, nachdem er von der Kirche weggefahren war.”

“Die einzige Familienangehörige, die in dieser Angelegenheit garantiert die Wahrheit sagen würde, war zu diesem Zeitpunkt nicht zu Hause, sondern bei einer Freundin, wie du weißt.”

Er schaute sich um, weil er sichergehen musste, dass niemand sie hörte. “Bist du wirklich sicher, dass es Clay war?”

“Ganz sicher.”

Kennedy gefiel es gar nicht, dass sie das im Brustton der Überzeugung hervorbrachte. “Aber wieso?” Er fühlte sich plötzlich ganz schlecht.

“Weil ich ihn gesehen habe. Ich kam ihm entgegen.”

Kennedys Gedanken rasten, als er versuchte, die Bedeutung dieser Aussage für Grace und ihre Familie, für sich und seine Familie sowie die Vincellis und die ganze Stadt einzuordnen. “Wo genau?”

“Auf der Gossett Road. Ich war auf dem Weg zurück in die Stadt. Er fuhr hinaus. Seine Mutter folgte ihm in diesem alten Ford, den sie damals hatte.”

Kennedy schüttelte ungläubig den Kopf. Warum erzählte sie ihm das denn ausgerechnet jetzt? “Wieso hast du es damals niemandem gesagt?”

“Ich war doch erst siebzehn.”

“Ja und?”

Sie murmelte etwas Unverständliches vor sich hin, und er sagte laut: “Wie bitte?”

“Ich sagte, dass ich darüber nicht sprechen wollte, weil man mich sonst gefragt hätte, was ich an diesem Abend dort gemacht habe”, blaffte sie ihn an.

Lou Bertrum drehte sich um und musterte sie erstaunt. Kennedy zog Janice in die hinterste Ecke des Lokals. “Und was hast du dort gemacht?”

“Das sag ich nicht.”

“Dazu ist es jetzt zu spät.”

Sie stöhnte laut auf. “Na gut, wenn es sein muss. Ich kam von Lori Hendersen. Reicht das jetzt?”

Lori Hendersen? Auch wenn er sie schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, erinnerte Kennedy sich doch sofort an seine Geschichtslehrerin. Sie hatte einmal mit einigen Freunden aus Jackson eine Demonstration für die Rechte von Homosexuellen organisiert, die mitten durchs Stadtzentrum marschiert war. Wenig später wurde ihr Haus angezündet. “Oh”, sagte er, als ihm klar wurde, warum Janice so lange darüber geschwiegen hatte.

“Ja, eben”, sagte sie. “Ich konnte keine Aussage machen. Es war schon nach Mitternacht. Meine Eltern wussten nicht mal, dass ich weggegangen war. Lori hätte ihren Job verloren. Dir muss ich ja nicht sagen, dass die Leute hier ziemlich nachtragend sind.” Sie senkte wieder die Stimme. “Sie hassen alles Andersartige. Außerdem wäre eine solche Beziehung zwischen Lehrerin und Schülerin auch heute noch verboten. Es ist jetzt dreizehn Jahre her, aber viel hat sich seitdem nicht geändert.”

“Und warum erzählst du es dann mir?” Wenn er ehrlich war, wollte Kennedy das überhaupt gar nicht wissen. Er fühlte sich zu Grace hingezogen und wollte alles tun, um zu verhindern, dass ihr Leben zerstört wurde. Er hatte die Bibel vergraben, und er würde auch diese Neuigkeit an niemanden weitergeben.

“Warum wohl?”, fragte sie barsch. “Weil ich dich warnen will. Es kann nämlich gut sein, dass die Vincellis recht haben mit ihren Vermutungen über das Verschwinden des Reverends. Was sonst sollte denn in dieser Nacht passiert sein? Clay fuhr aus der Stadt raus. Und seitdem wurde das Auto von Lee Barker nicht mehr gesehen. Du musst nur eins und eins zusammenzählen.”

Hank Pew stieß von hinten gegen Kennedy und schleuderte ihn beinahe gegen Janice. Kennedy richtete sich auf und nickte, als Hank sich entschuldigte, um dann weiter zur Bar zu gehen.

“Wem hast du das noch erzählt?”

“Niemandem. Es kann niemand sonst wissen. Lori ist längst weggezogen, aber meine Eltern leben immer noch hier. Sie wünschen sich so sehr, dass ich heirate und Kinder kriege. Sie sind schon so alt; ich will sie nicht verletzen. Und ich will nicht, dass mein Haus womöglich angezündet wird. Wenn es um meine Blumen-Farm geht, bin ich parteiisch.”

“Also geht es nur darum, mich zu unterstützen?”

“Es geht auch um Raelynn und eure Jungs. Ihr seid gute Menschen. Ich möchte nicht, dass ihr mit den Montgomerys in einen Topf geworfen werdet. Selbst wenn Grace mit dem Mord an Barker nichts zu tun haben sollte, hat sie doch all die Jahre geschwiegen – und trotzdem als Staatsanwältin gearbeitet. Schon allein dafür würden sie sie lynchen. Denk an deine Söhne, Kennedy! Wenn sie sich zu ihr hingezogen fühlen, wie sollen sie einen Prozess und eine mögliche Verurteilung dann verkraften?”

Kennedy wollte sich das alles lieber nicht vorstellen. Er hatte sich noch nie in seinem Leben über derartige Dinge Sorgen machen müssen.

“Da kommt Joe”, sagte Janice. “Ich gehe jetzt besser.”

Kennedy hielt sie am Arm fest. “Warte.”

“Nein. Ich habe getan, was ich tun konnte. Ich möchte nie mehr darüber sprechen. Ob du meinen Rat annimmst oder nicht, musst du selbst entscheiden”, sagte sie, riss sich los und verschwand zwischen den Gästen.

Kennedy sah zu, wie sie zum Ausgang lief, und dann war Joe auch schon bei ihm. “Was geht denn hier vor sich?”, fragte er. “Dieses Biest hat dir ja anscheinend etwas ganz Wichtiges mitzuteilen gehabt.”

“Sie macht sich Gedanken über den Zustand der Straße, in der sie wohnt”, sagte Kennedy. “Wenn ich gewählt werde, soll ich mich darum kümmern.”

Joe schaute ihn skeptisch an. “Und das ist alles?”

“Das ist alles.” Kennedy überlegte, ob er noch ein oder zwei Runden Billard spielen sollte, einfach um noch ein bisschen länger präsent zu sein. Aber er musste die ganze Zeit an Grace denken – und ihm wurde klar, dass er die Vergangenheit nicht länger ignorieren konnte.

Er musste wissen, was in dieser Nacht geschehen war.

Clay ging nicht sofort an die Tür. Kennedy dachte schon, er sei vielleicht gar nicht zu Hause. Er wollte schon aufgeben und heimfahren, um die Babysitterin abzulösen, als das Verandalicht anging. Dann wurde im Fenster neben der Tür ein Vorhang zurückgeschoben, und er spürte, wie jemand ihn musterte.

Schließlich wurde ein Riegel zurückgeschoben und die Tür aufgezogen.

“Kennedy”, stellte Clay erstaunt fest. “Was führt dich denn hierher?”

Kennedy hatte gehofft, Clay würde ihn ins Haus bitten. Da Clay aber nur eine Hose und weder Hemd noch Schuhe anhatte, schien es ein ungünstiger Zeitpunkt zu sein. “Es tut mir leid, dass ich dich so spät noch belästige. Ich würde gern ein paar Minuten mit dir sprechen. Geht das?”

Clay warf einen Blick über die Schulter, womöglich war er also nicht allein. Wenn heute Freitagabend gewesen wäre, hätte Kennedy sich darüber nicht gewundert. Aber mitten in der Woche war das eigentlich ungewöhnlich, denn Clay arbeitete immer sehr hart. Zwar ging er manchmal in eine Kneipe in der Stadt, aber meistens legte er sich sehr früh ins Bett.

“Clay? Wer ist es denn?” Es war eine Frauenstimme, vielleicht die von Alexandra Martin, der Inhaberin des Frühstückscafés, aber es hätte auch eine andere sein können. Es gab nicht wenige alleinstehende Frauen, denen es ziemlich egal war, ob Clay in einen Mordfall verstrickt war oder nicht. Manche waren in einen regelrechten Wettbewerb um seine Gunst eingetreten. Sie kochten für ihn, backten ihm Kuchen, manche gingen auch mit ihm einen trinken, aber vor allem hielten sie ihm das Bett warm. Doch zur großen Enttäuschung seiner vielen weiblichen Anhänger – und zur großen Erleichterung ihrer Angehörigen – blieb er trotz allem irgendwie unnahbar. Kennedy wäre jede Wette eingegangen, dass Grace’ Bruder niemals heiraten würde.

“Soll ich morgen wiederkommen?”, fragte er, obwohl er unbedingt sofort mit ihm sprechen wollte.

“Kommt darauf an”, antwortete Clay leise. “Hat es etwas mit meiner Schwester zu tun?”

Natürlich hatte alles etwas mit ihr zu tun. Nur wollte Kennedy es so direkt nicht ausdrücken. “Es geht vor allem um die Vergangenheit.”

Clay trat aus dem Haus und schloss die Tür hinter sich. “Was soll das denn heißen?”

Kennedy überlegte, ob er ihm von seinem Gespräch mit Janice erzählen sollte. Wenn er den Namen eines Zeugen nannte, würde er die Wahrheit sicher leichter erfahren. Aber Janice ging es darum, Teddy und Heath zu beschützen. Kennedy würde ihre Identität nicht enthüllen. Sollte Clay Janice vor achtzehn Jahren auch gesehen haben, ahnte er sicher selbst, wer es war.

“Jemand hat gesehen, wie du in der Nacht, als der Reverend verschwand, mit seinem Auto gefahren bist.”

Kennedy hatte nicht darüber nachgedacht, wie Clay auf diese Neuigkeit reagieren würde. Tatsächlich war so gut wie keine Reaktion zu erkennen. Clay war ein viel zu guter Pokerspieler, um sich durch seine Mimik zu verraten. “Und wenn schon”, sagte er. “Es gibt noch fünf andere Leute, die fünf andere Sachen gesehen haben.”

“Dieser Zeuge ist glaubwürdig.”

“Ich weiß ja nicht, wer dir das erzählt hat, aber es ist falsch. Mein Stiefvater hat mir nie erlaubt, mit seinem Wagen zu fahren.”

“Dass er es nicht verhindern konnte, ist Teil der ganzen Problematik.”

Ein Muskel in Clays Gesicht zuckte. Kennedy wollte nicht klein beigeben und sagte: “Ich habe Grace mit Lee Barkers Bibel ertappt. Ich weiß, dass du oder jemand aus deiner Familie etwas mit seinem Verschwinden zu tun hat.”

Clay kniff die Augen zusammen und schaute ihn finster an. “Warum gehst du dann nicht zur Polizei?”

“Du weißt, warum.”

“Weil du Grace gern hast.”

Gern haben war eine ziemlich unzureichende Beschreibung für seinen Zustand. “Ich liebe sie”, gab er zu.

Clay sah ihn prüfend an. Schließlich sagte er: “Dann lass die Vergangenheit ruhen.” Er ging langsam wieder zur Tür. Kennedy hielt ihn zurück.

“Ich muss meine eigene Familie schützen, Clay. Deswegen bin ich hier.”

Clay versuchte, Kennedys Hand abzuschütteln, aber der ließ nicht locker.

“Was willst du denn hören?”, fragte Clay. “Dass du dir keine Sorgen zu machen brauchst? Dass du Grace haben kannst?”

“Ich will die Wahrheit wissen.”

“Aus welcher Perspektive?”

“Fangen wir doch mal mit deiner an.”

Clay lachte freudlos vor sich hin und schüttelte den Kopf, als würde er Kennedys Forderung für unsinnig halten.

“Wenn der Zeuge sich an die Polizei wendet, könnte etwas Schlimmes geschehen.”

“Was wäre, wenn … Damit muss man leben”, entgegnete Clay. “Genau deshalb solltest du dein Leben nicht unnötig verkomplizieren. Verabrede dich mit einer anderen. Grace ist für niemanden hier bestimmt. Sie …” Er zog seine Augenbrauen zusammen, als er nach Worten suchte. “Sie ist zu gut für diesen Ort.”

Dass eine Frau zu gut für ihn sei, hatte Kennedy noch nie jemanden sagen hören. Aber angesichts dessen, wie er Grace in der Schule behandelt hatte, akzeptierte er es. “Sie hat eine Menge mitgemacht. Ich weiß das.”

“Ich kümmere mich um sie”, entgegnete Clay scharf. “Glaub bloß nicht, dass sie dich braucht.”

Die Haustür ging auf, und Alexandra trat heraus. Sie trug nichts weiter als ein Handtuch. “Oh, hallo Kennedy”, sagte sie kichernd.

Kennedy kam gar nicht dazu, ihr zuzuwinken, so schnell hatte Clay sie wieder ins Haus geschoben. Sie schmollte, gehorchte aber. Wahrscheinlich hätte Clay sie sonst kurzerhand nach Hause geschickt. Die Frauen, mit denen er sich traf, interessierten ihn nicht ernsthaft, daraus machte er kein Geheimnis. Vielleicht kamen sie deshalb immer wieder zu ihm zurück.

“Du hast recht”, sagte Kennedy seufzend. Er machte es schwerer, als es sein musste. Er musste sich von Grace fernhalten, wie sie es verlangt hatte. Dann wären alle Probleme gelöst. Und wenn die Wahrheit ans Tageslicht kam, würde es weder ihn noch seine Kinder noch seine Eltern betreffen. Das Leben würde weitergehen wie bisher.

“Gute Nacht.” Er drehte sich um und ging zu seinem Wagen. Auf dem Nachhauseweg stellte er fest, dass Grace ihm eine Nachricht auf die Mailbox gesprochen hatte.

“Hi, Kennedy. Ruf mich an, wenn du kannst, ja?”

Er nahm sich vor, nicht darauf zu reagieren. Von jetzt an wollte er sich aus dieser ganzen mysteriösen Geschichte um die Montgomerys heraushalten. Wie viele Leute mussten ihm denn noch erklären, dass er sehenden Auges in die Katastrophe raste?

Er war noch nicht weit von Clays Farm entfernt, als er wendete und zurück in die Stadt fuhr. Er würde Grace nicht anrufen. Er würde zu ihr fahren. Ein Teil von ihm glaubte hartnäckig daran, dass sie immer noch eine Chance hatten – falls sie ihn liebte. Falls sie ihn genug liebte, um ihm die Wahrheit zu sagen.