19. KAPITEL
Teddy und Heath entdeckten Grace, kurz bevor es losging. Kennedy erlaubte ihnen, sich zu ihr zu setzen, weil er wusste, dass sie so lange darum betteln würden, bis er einlenkte. Für die beiden Jungs war Grace sehr schnell zum Mutterersatz geworden. Eigentlich waren Grace und Raelynn sich überhaupt nicht ähnlich, aber in ihrem einfühlsamen Umgang mit Kindern glichen sie einander sehr. Auch Grace behandelte die beiden nicht von oben herab oder wie Plagegeister, sondern hörte ihnen ernsthaft zu und ging auf ihre Gedanken und Gefühle ein. Und genau das war es, was seine Söhne brauchten.
Nach seiner Auseinandersetzung mit Joe wäre es Kennedy lieber gewesen, das Gerede hätte sich beruhigt, bevor er Teddy und Heath wieder Kontakt mit Grace aufnehmen ließ. Er hatte den Vincellis ohnehin schon viel zu viele Möglichkeiten geliefert, gegen ihn vorzugehen. Nur würde Grace nicht mehr sehr lange hier sein. Wenn der Sommer vorbei war, ging sie nach Jackson zurück. Wie sollte er es vor sich und seinen Jungs rechtfertigen, wenn er ihnen für die kurze Zeit, die noch blieb, den Umgang mit ihr verbot?
Außerdem war er ja selbst gern mit ihr zusammen. Zwar hatte er versucht, sich davon zu überzeugen, dass ein paar Stunden in ihren Armen ihm genügten, doch das hatte sich als Trugschluss erwiesen. Was letzte Nacht geschehen war, hatte alles nur noch schwieriger gemacht. Nun geisterten auch noch diese erotischen Bilder durch seinen Kopf, und diese Bilder ließen sich nicht einfach ein- und ausschalten, sondern kamen und gingen, wie sie wollten. Er musste daran denken, wie Grace auf seine Stöße reagierte hatte, als sie sich liebten, an ihr Lächeln, als er seine Finger über ihren nackten Körper gleiten ließ. Ihre flatternden Augenlider an seinen Wangen, als sie in seinen Armen gelegen hatte. Wenn seine Eltern nicht neben ihm gesessen und sich einige enge Freunde und Nachbarn dazugesellt hätten, wäre er wahrscheinlich aufgestanden und zu den Montgomerys hinübergegangen.
“Werden wir denn genug Geld zusammen haben, um den neuen Flügel für die Grundschule zu bauen?”, fragte Tom Greenwood Kennedys Vater. Sie sprachen schon seit einigen Minuten über wichtige städtische Angelegenheiten. Normalerweise war Kennedy an diesen Gesprächen sehr interessiert. Er hatte genaue Vorstellungen davon, was mit der Schule passieren sollte, und hätte eine Menge dazu sagen können. Aber heute Abend konnte er nur an Grace denken und fragte sich, wann er sie wohl wieder in die Arme nehmen durfte.
Er sah wieder zu ihr hinüber, wahrscheinlich zum millionsten Mal an diesem Tag. Sie strich Teddy eine Haarsträhne aus der Stirn. Er wünschte sich, er könnte neben ihr sitzen. Aber dann spürte er den Blick seiner Mutter und schaute schnell woanders hin.
“Das wäre möglich”, sagte Kennedys Vater. “Aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob es der richtige Weg ist. Das Gebäude ist doch schon sehr alt.”
“Aber wenn wir alles neu bauen, brauchen wir noch mehr Geld, und das haben wir nicht.”
“Längerfristig betrachtet lohnt sich eine Neuinvestition mehr, als wenn wir hundertfünfzigtausend für die Renovierung der alten Schule zum Fenster hinauswerfen.”
“Aber wo sollten wir das neue Schulgebäude hinsetzen? Auf das Corte-Gelände?”
“Nein, das wäre zu weit außerhalb.” Kennedys Vater zählte eine Reihe möglicher Standorte auf und beschrieb die Vor- und Nachteile. Kennedy bemühte sich zuzuhören, aber er war nicht sonderlich interessiert. Er dachte nur an Grace.
Ein lauter Knall kündigte das Feuerwerk an. Kennedy merkte, dass seine Mutter ihn immer noch beobachtete, und streckte sich auf der Decke aus, während über ihm im Nachthimmel die Raketen explodierten. Die Kinder um ihn herum bestaunten atemlos die bunten Blumen, die sich für wenige Sekunden im Himmel ausbreiteten, um dann zu verglimmen. Camille wandte sich wieder dem Gespräch der Stadtoberen zu, und er selbst ließ seinen Blick wieder in Richtung Grace schweifen.
Sie lag zwischen Teddy und Heath und schaute in den Himmel.
Kennedy erinnerte sich an ihren Geruch und an die Zartheit ihrer Haut. Ihm wurde endgültig klar, dass es naiv gewesen war zu glauben, die vergangene Nacht könnte ihr schwieriges Verhältnis zueinander beenden. Er sehnte sich noch immer nach ihr, mehr als jemals zuvor.
Geh nach Hause, Kennedy. Wir wussten doch beide, dass es nur bis zum Morgen dauert …
Hatte sie das ernst gemeint?
“Und was ist mit der Junior High School?”, hörte er seine Mutter sagen. “Dort muss auch renoviert werden. Das Dach soll an einigen Stellen leck sein.”
Ein Junge neben Kennedy setzte sich auf und nahm ihm seine Sicht auf Grace. Er rutschte etwas zur Seite, um wieder einen besseren Blick zu haben. Und in diesem Moment wurde ihm klar, dass das, was zwischen ihnen vorging, noch lange nicht beendet war. Ihr sehnsüchtiger Gesichtsausdruck zeigte ihm ganz deutlich, dass sie das gleiche Bedürfnis nach Nähe und Zärtlichkeit empfand wie er.
“Und wie gefällt dir das Feuerwerk, Kennedy?”, fragte seine Mutter.
Er zwang sich, seinen Blick von Grace abzuwenden. “Ganz toll”, antwortete er. Aber das Feuerwerk war ihm vollkommen egal. Er dachte gerade darüber nach, dass er neue Kondome kaufen musste. Mehrere Schachteln. Grace war noch den ganzen Sommer in Stillwater. Es wäre doch idiotisch, wenn sie diese Zeit nicht nutzten.
Camille lehnte sich zu ihm. “Alles in Ordnung mit dir?”, fragte sie freundlich.
“Es geht mir gut”, sagte er, obwohl er sich nicht so sicher war. Er stellte sich vor, wie es wäre, wenn Grace die Stadt wieder verließ. Würde er es schaffen, sie gehen zu lassen?
Ganz bestimmt würde er das. Es ging nun mal nicht anders.
Grace roch den Duft des Kindershampoos, der von Teddys Haar ausging. Es war ein schönes Gefühl, die beiden Jungs in den Armen zu halten. Teddys Gesicht war ganz klebrig von der Zuckerwatte, die sie vorhin gegessen hatten. Beide zappelten die ganze Zeit, worüber Madeline sich beklagte. Grace hingegen konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als zwischen den beiden zu sitzen.
Außer natürlich, mit Kennedy zusammen zu sein. Ihn hätte sie jetzt auch gern bei sich gehabt. Trotzdem versuchte sie angestrengt, so zu tun, als wäre er ihr völlig gleichgültig. Indem sie ihr Verhältnis zueinander herunterspielte, hoffte sie, Joes Einfluss auf sie beide zu bannen. Wenn sie den Eindruck vermittelten, nicht mehr aneinander interessiert zu sein, war es wahrscheinlich auch nicht mehr von Bedeutung, dass sie ein- oder zweimal miteinander geschlafen hatten. Kennedy war verwitwet, da war es kein Wunder, wenn er sich gelegentlich einsam fühlte. Eine kurze Affäre, um diese Einsamkeit zu lindern, wurde einem Mann gänzlich verziehen – erst recht in einer so frauenfeindlichen Gemeinde wie Stillwater.
Wenn sie möglichst bald wieder aus seinem Leben verschwand, würde er die Bürgermeisterwahl sicherlich gewinnen. Sie musste sich ab sofort von Kennedy fernhalten.
“Kennedy sieht dich an”, flüsterte ihre Mutter ihr fröhlich zu.
Grace küsste Heath aufs Haar und freute sich über die Funkenregen im Himmel über ihnen. Sie hatte das Gefühl, noch nie so glücklich gewesen zu sein, jedenfalls nicht mehr, seit ihre Mutter den schrecklichen Lee Barker geheiratet hatte. Leider war Molly nicht hier. Wenn sie auch gekommen wäre, hätte Grace sich gewünscht, dass das Feuerwerk nie zu Ende ging.
“Er scheint ja kein großes Geheimnis aus dem zu machen, was er sich wünscht”, kicherte Madeline. “Er guckt die ganze Zeit herüber.”
“Er schaut doch nur nach seinen Jungs”, erwiderte Grace.
Ihre Mutter schüttelte den Kopf. “Das kannst du mir doch nicht erzählen.”
“Wenn Kirk mich nur einmal so anschauen würde, würde ich ihn sofort heiraten”, sagte Madeline träumerisch.
“Wer guckt dich denn an, Grace?”, mischte Teddy sich ein.
“Niemand”, antwortete sie, aber Heath erwiderte gleichzeitig: “Daddy.”
Offenbar hatte Kennedys Ältester mehr mitbekommen, als er sollte. Sie warf Madeline über seinen Kopf hinweg einen warnenden Blick zu.
“Er findet sie hübsch”, sagte der Junge.
“Vielleicht heiratet er dich ja”, stimmte Teddy begeistert ein.
“Wir sind einfach nur befreundet”, sagte sie, obwohl sie wusste, dass genau das niemals möglich wäre. Aber immerhin hatte sie für eine Nacht alles gehabt, was sie sich wünschte, und das genügte. Jedenfalls glaubte sie das bis zum Ende des Feuerwerks. Sie fühlte sich seltsam leer, als es vorbei war und sie Heath und Teddy einen Abschiedskuss gab.
Die beiden rannten zu ihrem Vater hinüber, und sie zwang sich, in die andere Richtung zu schauen. Als dann alle zum Ausgang strömten, tauchte Kennedy wie zufällig neben ihr auf und drückte ihr eine zusammengefaltete Papierserviette in die Hand.
Sie steckte sie kommentarlos in die Tasche ihres Kleids. Rechts neben ihr standen die Vincellis und starrten sie an. Kaum hatte Madeline sie zu Hause aussteigen lassen, eilte sie ins Haus, holte die Serviette hervor und faltete sie hastig auseinander.
Komm rüber, stand darauf.
Es war schon nach Mitternacht. Grace hielt ein Weinglas in der einen Hand und Kennedys knappe Botschaft in der anderen. Seit Stunden versicherte sie sich immer wieder, dass sie nicht hingehen wollte. Sie hatten eine Vereinbarung getroffen. Die vergangene Nacht war das einzige Zugeständnis an ihre wahren Gefühle. Sie wusste, dass sie Kennedy und seinen Söhnen einen Gefallen tat, wenn sie sich weigerte, die Beziehung weiterzuführen. Sie wusste aber auch, dass sie womöglich nicht genug Willenskraft dafür aufbrachte. Das, was letzte Nacht geschehen war, hatte sich nicht angefühlt, als würde etwas zu Ende gehen. Es hatte sich angefühlt wie ein Anfang.
Die Uhr schlug halb eins und riss sie aus ihren Gedanken. Sie würde hingehen, und das wusste sie auch. Aber sie musste vorsichtig sein. Joe könnte wieder vor ihrem Haus lauern, wie er es letzte Nacht getan hatte. Sie wollte unbedingt vermeiden, dass er mitbekam, was sie vorhatte.
Sie nahm ihre Handtasche und ihre Schlüssel und ging nach draußen. Sie ging einmal ums Haus, konnte aber niemanden im Garten oder bei der Garage entdecken. Auch die Auffahrt war leer. Sie stieg in ihren Wagen und wartete einige Minuten, ob er vielleicht mit dem Auto vorbeikam.
Ein paar Straßen weiter sausten noch immer einige verspätete Feuerwerksraketen in die Luft. Aber von Joe war nirgendwo etwas zu sehen.
Er konnte sie ja auch nicht vierundzwanzig Stunden lang ununterbrochen beobachten. Außerdem war er so verletzt, dass er bestimmt viel lieber zu Hause im Bett blieb.
Sie rügte sich selbst dafür, so paranoid zu sein, und startete den Motor. Als sie auf die Straße einbog, entschied sie, dass sie nicht direkt vor Kennedys Haus anhalten wollte. Sie würde ihren Wagen ein Stück weiter entfernt parken und den Rest zu Fuß gehen.
Kennedys Haus wirkte ziemlich einschüchternd. Das dreistöckige Gebäude mit dem Türmchen über dem ausladenden Dach war sehr gut gepflegt. Es war das schönste Haus in Stillwater und auch das Älteste, wenn man einmal vom Postgebäude absah.
Grace hatte das Gefühl, nicht dort hinzugehören. Durfte sie das Haus überhaupt betreten? Beinahe hätte sie sich umgedreht und wäre weggelaufen, dabei hatte sie schon die Veranda erreicht. Sie musste an Raelynn denken. Dies war doch ihr Haus. Kennedy war ihr Mann, und die Kinder gehörten ihr.
Die Stimmen seiner Freunde echoten in Grace’ Kopf. Hey, Babe, komm her und zeig’s mir … Du weißt doch, was mir gefällt.
Sie hob die Hand, um anzuklopfen, hielt inne, biss sich auf die Unterlippe und überlegte zum hundertsten Mal: Was habe ich hier überhaupt verloren? Sie drehte sich um und verließ die Veranda. Da hörte sie, wie hinter ihr die Tür aufging.
“Wolltest du denn gar nicht anklopfen?”, fragte Kennedy.
Innerlich verfluchte sie sich, weil sie so schwach gewesen und hergekommen war. Sie umrundete das Tulpenbeet vor dem Eingang und stellte fest, dass schon allein der Vorgarten wie ein Park anmutete. “Ich wollte dich nicht aufwecken.”
“Ich habe nicht geschlafen.”
“Dieses Haus … das ändert alles.”
Kennedy stand im Schatten, und sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen. “Wieso?”
“Ich fühle mich hier nicht wohl.”
“Warum nicht? Du bist doch noch nie hier gewesen, oder?”
“Ich bin sehr oft vorbeigekommen. Ich erinnere mich noch, dass ich dich mit deinen Freunden hier im Garten gesehen habe, als ihr den sechzehnten Geburtstag von Lacy Baumgarter gefeiert habt.” Sie deutete in den Garten. “Ich war auf dem Weg zur Pizzeria. Du hast die Mädchen auf der Schaukel unter dem großen Baum angeschubst.”
Er schwieg.
Sie räusperte sich. “Wie auch immer, das hat mich jedenfalls daran erinnert, dass wir nicht zusammengehören.”
“Ich wäre ja auch zu dir gekommen, aber ich kann die Jungs nicht allein lassen.”
“Ich weiß.”
“Heißt das, dass du nicht reinkommen willst?”
“Ich kann nicht.”
Er trat ganz aus dem Haus und schloss leise die Tür hinter sich. “Grace …”
“Was ist?”
Er kam auf sie zu. Er trug nur eine Jeans, und sie bemühte sich, seinen nackten Oberkörper zu ignorieren.
“Bitte komm doch rein”, sagte er.
Sie schüttelte den Kopf und schaute an ihm vorbei zum Haus.
Er nahm ihre Hände, hob sie an und küsste ihre Fingerspitzen. “Ich glaube, du würdest es hier mögen.”
“Du hast dir ja die Hand verletzt”, sagte sie, als sie die Schwellung an den Knöcheln bemerkte.
“Es ist nicht schlimm. Der Arzt meinte, es wird in einer Woche wieder in Ordnung sein.”
“Ein Glück.”
Er versuchte, sie zur Tür zu ziehen, aber sie leistete Widerstand. “Komm doch, Grace. Was stimmt denn nur nicht?”
“Ich möchte nicht, dass du mich liebst und dir dabei wünschst, ich sei Raelynn”, gab sie zu.
Er ließ von ihr ab und schaute sie tadelnd an. “Aber ich will doch nicht, dass du jemand anders bist. Ich will mit dir zusammen sein.”
Als sie nicht antwortete, legte er seine Arme um sie und drückte ihr einen Kuss auf die Schläfe. “Diese Geburtstagsfeier damals war nicht halb so lustig, wie es vielleicht aussah. Alle diese Feste waren meistens sehr langweilig.”
Sie nickte. “Wir sind so schrecklich verschieden, Kennedy.”
“Wer sagt das?”
Jedermann wusste es. Sie hatte es ihr ganzes Leben lang gespürt.
“Komm mit”, sagte er und führte sie auf den Rasen.
“Wohin gehen wir denn?”, fragte sie überrascht.
Er deutete zur Schaukel unter dem hohen Baum. “Du bist dran.”
Grace zögerte. Aber sie blieb. Der Neid, den sie all die Jahre verspürt hatte, und Kennedys erwartungsvoller Gesichtsausdruck überzeugten sie, zu bleiben. Sie setzte sich auf die Schaukel und hielt sich gut fest, als er sie anstieß.
Die Schaukel quietschte leise, und Kennedy ließ sie immer höher und höher fliegen. Es war kaum zu glauben, aber das Mädchen, über das immer alle gelacht hatten, war endlich auch auf die Party eingeladen, und zwar von niemand anderem als dem Prinzen persönlich.
Im Inneren des Hauses war es genauso elegant wie im Garten. Teure Möbel und Gemälde in allen Zimmern, Orientteppiche, Kristalllüster unter der Decke und jede Menge Einbauschränke und Regale.
Wieder kam sich Grace völlig fehl am Platz vor. Sie ging durch den Salon ins Wohnzimmer, dann ins Esszimmer und in die Küche und fühlte sich sehr fremd. Vor allem die großformatigen Porträts der Familienmitglieder im Esszimmer schüchterten sie ein. Aber Kennedy wich die ganze Zeit nicht von ihrer Seite, als fürchtete er, sie könnte doch noch davonlaufen.
Glücklicherweise lagen überall Spielsachen und Kleidungsstücke herum, die sie an Teddy und Heath erinnerten. Das half ihr ein wenig.
“Darf ich die Jungs sehen?”, fragte sie.
Er führte sie nach oben in den zweiten Stock. Das Zimmer von Heath befand sich auf der rechten Seite, Teddys lag gleich daneben. Grace stand lächelnd am Fußende ihrer Betten und schaute die friedlich schlafenden Kindergesichter an. “Sie sind wirklich lieb, die beiden”, sagte sie und strich mit der Hand über Teddys Wange.
“Sie mögen dich auch sehr gern”, sagte Kennedy und küsste ihren Hals. “Sie werden bestimmt sehr böse auf uns sein, wenn sie hören, dass du hier gewesen bist und wir sie nicht geweckt haben.”
“Es wird mir schwerfallen, sie zu vergessen, wenn ich erst mal wieder in Jackson bin.”
“Lass uns doch jetzt nicht von Abschied sprechen.”
Die alte Standuhr in der Eingangshalle schlug.
“Ich habe noch nie jemanden gekannt, der so eine alte Uhr hat”, sagte sie lächelnd.
Er kniff sie ins Ohr. “Wenn du sie nicht magst, schmeiße ich sie raus.”
“Jetzt gleich?”, scherzte sie.
“Gleich morgen früh. So lange können wir ja wohl noch warten, oder?”
“Ich weiß nicht”, erwiderte sie gedankenvoll. “Ich möchte nicht daran erinnert werden, wie schnell die Zeit vergeht.”
“Ich auch nicht”, gab er zu. “Nicht, wenn du da bist.”
Er zog sie von Teddys Bett fort, aber sie trat auf etwas und bückte sich, um es aufzuheben. “Was ist das denn?” Sie hielt eine Seite aus einer Zeitschrift hoch, die zu einem Dreieck gefaltet war.
“Zeig mal her.” Er nahm ihr den Zettel aus der Hand und ging in den Flur, um ihn bei Licht zu besehen. Dann warf er einen erstaunten Blick zurück ins Zimmer, in dem sein Sohn schlief. “Ach, du meine Güte. Das ist es!”
“Was?”
Er drehte die Seite um, damit sie erkennen konnte, was darauf abgebildet war. Es war die Marmorstatue eines Engels mit einem dazugehörigen Springbrunnen. Dazu eine Katalogbeschreibung. “Dafür spart er die ganze Zeit”, murmelte Kennedy.
Grace sah sich das Bild genauer an. Sie erinnerte sich an Teddys ersten Besuch vor ihrer Haustür. Damals hatte er ihr erklärt, er würde für etwas ganz Besonderes sparen. “Er möchte einen Springbrunnen.”
“Vor allem geht es um den Engel.”
“Woher weißt du das?”
“Diese Katalogseite hat Raelynn selbst ausgeschnitten. Sie wollte so eine Statue für den Garten kaufen. Nach ihrem Tod wollte Teddy es kaufen, als Grabstein.”
“Und du wolltest keinen Engel?”
“Ich wollte lieber was Rechteckiges, das leichter beschrieben werden konnte.” Er schüttelte den Kopf als wäre er mit sich selbst unzufrieden. “Ich glaube, ich war so sehr mit meinem eigenen Kummer beschäftigt, dass ich gar nicht gemerkt habe, wie wichtig ihm dieser Engel war.”
“Es ist jetzt zwei Jahre her. Dass er die ganze Zeit daran festgehalten hat, ist doch ganz toll.”
“Er ist ein wunderbarer Junge.” Kennedy faltete den Zettel zusammen und legte ihn auf die Kommode. “Ich muss wohl noch mal mit ihm darüber sprechen, vielleicht kann ich ihm ja irgendwie helfen.”
“Ich glaube, er will das ganz allein machen”, sagte Grace. “Sonst wäre er doch schon zu dir gekommen.”
Kennedy strich mit der Hand über ihre Wange. “Wahrscheinlich hast du recht. Vielleicht sollte ich ihm einfach ein paar zusätzliche Jobs geben, damit er sein Geld schneller verdient hat.”
Kennedys Berührung ließ Grace erzittern. Wieder spürte sie dieses sehnsüchtige Verlangen in ihrem Unterleib. “Das ist wahrscheinlich der bessere Weg.”
Er zog die Bettdecke seines Sohns glatt und führte Grace aus dem Kinderzimmer und dann durch eine Doppeltür hindurch in ein großes Zimmer, in dem ein breites Bett stand. Links führte eine Tür in einen kleinen Raum mit einem Schreibtisch und einem Sofa mit vielen Kissen. Auf der anderen Seite gab es zwei große begehbare Kleiderschränke und ein riesiges Badezimmer.
“Es ist hübsch hier”, sagte sie, aber sie spürte, dass die Vertraulichkeit, die gerade eben noch in Teddys Kinderzimmer zwischen ihnen geherrscht hatte, verflogen war. Wieder war sie angespannt und nervös, vor allem weil ihr bewusst war, dass sie in das Reich einer anderen Frau eingedrungen war.
Kennedy schien ihren Gemütszustand erkannt zu haben. Er riet ihr, sie solle sich entspannen, und ging ins Badezimmer, um Wasser in den Whirlpool einzulassen.
“Ich bin doch gar nicht angespannt”, sagte sie.
Er kam wieder zu ihr zurück und schlang einen Arm um ihre Hüften. “Vielleicht bin ich ja ein bisschen nervös, weil ich Angst habe, du könntest dich umdrehen und wieder rausmarschieren, anstatt bei mir zu bleiben und mich zu lieben.”
Sie schaute auf das große Bett. Es war Raelynns Bett. “Ich denke darüber nach.”
“Gestern Abend hast du mich gebeten, bei dir zu bleiben. Heute ist es genau umgekehrt.”
“Aber ich gehöre nicht hierher, Kennedy.”
“Ich möchte dich bei mir haben.” Er gab ihr einen Kuss. “Sag mir, dass du das auch willst.”
“Was ich will, ändert nichts an der Situation.”
Er schob seine heile Hand unter ihr T-Shirt, löste ihren Büstenhalter und streichelte ihre Brüste. Sie sog die Luft ein vor Aufregung. “Du musst dir keine Sorgen machen”, sagte er. “Ich hab jede Menge Kondome besorgt.”
“Wenn es nach mir ginge, müssten wir sie gar nicht benutzen”, sagte sie.
Er zuckte zurück, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen. “Wie bitte?”
“Mehr als alles in der Welt wünsche ich mir ein Baby. Dein Baby”, fügte sie hinzu.
Er schaute sie zutiefst bewegt an. “Aber …”
“Es ist unmöglich”, unterbrach sie ihn und schüttelte den Kopf. “Ich weiß.”
Wieder gab er ihr einen Kuss, diesmal zögernder. Aber als sie ihre Arme um seinen Nacken legte und den Kuss erwiderte, erwachte seine Leidenschaft.
“Die Wanne wird gleich überlaufen”, sagte er und zog sie mit sich ins Badezimmer. Er prüfte das Wasser, und dann zogen sie sich aus.
Als er völlig nackt vor ihr stand, lächelte sie. Um sie herum waren fast alle Wände verspiegelt. Sie sah ihn in zehnfacher Ausführung. “Wahnsinn”, sagte sie bewundernd.
Kennedy grinste sie an und half ihr in die Wanne, wo er sie von oben bis unten einzuseifen begann. “Grace?”
Seine nackte Haut auf ihrer nackten Haut, das warme Wasser und ihre aufbrausenden Gefühle, all das vermittelte ihr den Eindruck, sie würde in der Luft schweben. “Was ist?”
“Wenn du ein Baby von mir bekommst, bleibst du dann bei mir?”
“Heute Nacht?”
“Für immer. Willst du mich heiraten?”
Grace hatte das Gefühl, aus der Wirklichkeit in den Himmel gehoben zu werden. “Wie bitte?”
Er fasste zärtlich nach ihrer Hand. “Du hast mich schon ganz richtig verstanden.”
“Aber es ist absolut verrückt, überhaupt daran zu denken”, sagte sie. “Das weißt du doch.”
“Sag mir nur, dass du unschuldig bist”, erwiderte er. “Sag mir, dass du nichts mit Barkers Verschwinden zu tun hast, und dann bekommst du ein Kind von mir, und wir heiraten, und du wirst Teddys und Heaths neue Mutter.”
Grace’ Herz schlug so heftig, dass sie glaubte, es würde zerspringen. “Kennedy, nein …”
“Doch”, erwiderte er und begann ihre empfindlichsten Körperregionen zu stimulieren.
Grace schnappte nach Luft vor Wollust. Was er da tat, machte sie schwach, ließ sie erzittern … und nach mehr verlangen. “Ich … kann nicht.”
“Ich weiß doch, dass du dich danach sehnst, mit mir zusammen zu sein. Du möchtest mit mir leben und jeden Abend mit mir hier zusammen sitzen. Stimmt das denn nicht?”
“Doch, natürlich. Mehr als je zuvor”, flüsterte sie.
“Dann musst du mir vertrauen. Wir können gemeinsam in die Zukunft gehen, aber nur, wenn du mir vertraust.”
Sie erinnerte sich daran, dass Clay gesagt hatte, sie habe endlich einmal ein bisschen Glück in ihrem Leben verdient. War es denn wirklich so? War es möglich? Kennedy bot ihr all das an, was sie sich jemals erträumt hatte. Aber der Preis war absolute Ehrlichkeit.
“Grace?” Kennedy küsste ihre Stirn, ihre Augenlider, ihre Wangen. “Lass los, ich werde dir bestimmt nie wehtun. Wir können eine Familie werden.”
Jeder Muskel in ihr versteifte sich – vor Hoffnung, Vorfreude und Sehnsucht. Und Angst.
“Vielleicht bekommen wir ja eine kleine Tochter, ein Schwesterchen für Heath und Teddy.”
In ihrem Innern schrie es geradezu. Tu es nicht, Grace, du darfst es nicht erzählen. Alles ist aus, wenn du es ihm sagst, alles! Aber es drängte sie so sehr, sich ihm endlich anzuvertrauen, dass sie nicht anders konnte, als die Wahrheit zu sagen.
“Es war alles meine Schuld”, flüsterte sie.
Er erstarrte, machte aber keine Anstalten, ihre sehr intime Umarmung zu lösen. “Wieso?”
“Er … er ließ mich nicht in Ruhe.” Mit einem Mal senkte sich ein so schweres Gewicht auf ihre Brust, dass sie kaum noch atmen konnte. “Er … er hat Molly ausgeschlossen, und dann kam meine Mutter nach Hause und merkte gleich, dass etwas nicht stimmte. Eigentlich sollte er gar nicht zu Hause sein. Er hatte sie absichtlich weggeschickt.” Kennedy bewegte sich keinen Millimeter, aber er sah sie intensiv an. “Sie fing an, ihn zu beschimpfen, und drohte, sie werde zur Polizei gehen, sie werde allen erzählen, was für ein ekelhafter Dreckskerl er sei, und er … er hielt es einfach nicht aus. Sein makelloses Auftreten war ihm doch das Wichtigste. Er leugnete es, immer und immer wieder. Aber meine Mutter wusste, was geschehen war … endlich wusste sie es.” Sie sprach immer schneller, als wäre ein Damm gebrochen, und nun ergossen sich die drängenden Fluten durch die Öffnung. “Der Streit wurde immer heftiger, und schließlich wurde es ganz schlimm. Er fing an, sie zu verprügeln. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich versuchte ihn aufzuhalten, aber er schleuderte mich zur Seite und schlug weiter auf sie ein. Dann kam Clay nach Hause und …” Sie schnappte nach Luft. “… und stellte sich zwischen sie, um sie zu schützen und um mich zu schützen.”
“Und da ist Barker auf ihn losgegangen?”
Sie nickte. “Meine Mutter musste ihn zurückhalten, von … von meinem Bruder wegholen.”
“Und wie hat sie das gemacht?”
“Sie hat ihm mit dem schweren Messerblock aus der Küche auf den Kopf geschlagen.”
“Und dann?”
“Er ist zusammengebrochen. Und blieb auf dem Küchenboden liegen. Wir … wir haben doch nicht im Traum gedacht, dass er tot sein könnte. Aber da war auf einmal so viel Blut und …” Sie versuchte die Tränen zurückzuhalten. “Er bewegte sich nicht mehr, atmete nicht mehr. Wir wussten nicht, was wir tun sollten. Wir konnten ja nicht die Polizei anrufen. Niemand in der Stadt mochte uns. Keiner würde uns glauben, dass es ein Unfall war. Meine Mutter hatte Angst, ins Gefängnis zu kommen und dass die ganze Familie auseinandergerissen würde …”
“Die Barkers und die Vincellis hätten eine derartige Erniedrigung niemals hingenommen und alles unternommen, um sich an euch zu rächen”, sagte Kennedy.
“Ja, und er war doch der Reverend! Ein Mann, der über alles erhaben war! Alle würden Rache fordern. Es war doch ein Unfall, Kennedy, aber es wäre nie passiert, wenn es mich nicht gegeben hätte. Den Streit hatten sie doch nur wegen mir!”
Sie brach ab, und beide schwiegen. Kennedy starrte sie an. Er schien geschockt, dass sie tatsächlich ihr Schweigen gebrochen hatte. Nach achtzehn Jahren!
Grace konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Sie rannen ihr übers Gesicht, und sie schaute ihn an, zutiefst erschüttert von dem, was sie ihm gerade anvertraut hatte. Aber er wollte nicht, dass sie vor ihm Angst hatte, er wollte ihr Halt geben und Vertrauen.
“Du warst erst dreizehn.”
“Ich werde das nie vergessen. Molly hockte verängstigt in einer Ecke und weinte vor sich hin. Meine Mutter schrie hysterisch. Und Clay übernahm ganz ruhig die Kontrolle und entschied, was getan werden musste. ‘Wir werden ihn vergraben’, hat er gesagt.”
Grace fragte sich, ob Kennedy ihr jemals wieder in die Augen schauen könnte wie zuvor, wie vor ihrem Geständnis. Aber er strich ihr tröstend über die Wange. “Ich möchte nicht, dass das zwischen uns steht. Ich werde alles tun, um dir zu helfen”, versprach er und küsste ihr die Tränen vom Gesicht. Dann nahm er die Kondome, warf sie in den Mülleimer und kniete sich zwischen ihre Schenkel, um sein Versprechen wahr zu machen.
Nachdem er eins der kleineren Fenster auf der Rückseite von Evonnes Haus eingeschlagen hatte, zog er sein T-Shirt aus, schlang es um seine Hand und den Unterarm und fasste durch das Loch hindurch, um den Türknauf zu betätigen. Er hatte erwartet, dass der Lärm Grace wecken würde. Er sah sie schon vor sich, wie sie ganz verschlafen die Treppe aus dem oberen Stockwerk herunterkam. Er hatte sich genüsslich ausgemalt, wie sie erschrecken würde, wenn sie ihn erkannte, und panisch nach Hilfe schreien, obwohl niemand da war, der ihr helfen konnte.
Aber niemand kam, und nichts war zu hören.
Die Bibel seines Onkels unter den Arm geklemmt, schloss er die Tür und tastete sich durch das dunkle Zimmer voran. Es ist bestimmt noch besser, wenn ich sie im Bett überrasche, entschied er und grinste vor sich hin, als er sich vorstellte, wie sie vor ihm auf die Knie fallen würde. Er würde ihr schon sagen, was sie tun konnte, um ihn davon abzuhalten, zur Polizei zu gehen. Und dann, wenn er mit ihr gemacht hatte, was er wollte, würde er die Bullen trotzdem rufen.
Sie hatte sich gegen ihn gestellt, und nun würde er dafür Rache nehmen. Genauso wie er Rache für die schmachvolle Behandlung durch Kennedy nehmen würde.
Seine Schritte knarrten auf den alten Dielen, als er die Treppe nach oben ging.
“Gra-ace”, sang er leise vor sich hin. “Gracie, wo bist du? Ich hab eine Überraschung für dich.”
Es war immer noch nichts zu hören.
Er steckte den Kopf ins erste Zimmer, an dem er vorbeikam. Es war völlig leer. Auch im nächsten befand sich nichts. Das letzte Zimmer am Ende des Korridors war ganz offensichtlich ihr Schlafzimmer, aber sie war nicht da. Ihr Parfüm und ihre Haarbürste lagen auf dem Frisiertisch. Das Bett war gemacht. Ein Kleid lag über dem Schaukelstuhl, ein Slip lag auf dem Boden neben dem Wäschekorb.
Er ging durchs Zimmer, hob den Slip auf und hielt ihn sich unter die Nase. Dann steckte er ihn ein und ging wieder ins Erdgeschoss. Vielleicht war er ja an ihr vorbeigegangen, ohne es zu merken. Vielleicht war sie ja auf dem Sofa im Wohnzimmer eingeschlafen oder in der Hängematte im Garten oder in der Hollywoodschaukel auf der Terrasse.
“Grace?”, rief er und schaltete die Lichter ein. Er entdeckte ein leeres Weinglas auf dem Couchtisch. Er nahm es in die Hand und leckte daran. Sie schmeckte genauso gut, wie sie roch.
“Wo bist du?” Es war niemand im Haus. Und auch nicht auf der Veranda oder im Garten. Er rannte zurück zur Straße, wo er seinen Wagen geparkt hatte, holte seine Taschenlampe und warf einen Blick durch das Garagenfenster. Als er gekommen war, war er nur schnell ums Haus gehuscht, um sicherzugehen, dass er allein war. Zwar hatte er ihren Wagen nicht gesehen, war aber davon ausgegangen, dass er in der Garage stand.
Die Garage war auch leer.
“Abgehauen”, murmelte er enttäuscht vor sich hin. Was nun? Damit hatte er nicht gerechnet. Vielleicht übernachtete sie ja bei ihrer Schwester Madeline oder bei ihrer Mutter oder womöglich bei Kennedy.
Nach dem, was er letzte Nacht mitbekommen hatte, würde es wahrscheinlich Kennedy sein. Aber dorthin wollte er nicht gehen. Er wollte sie allein antreffen. Mit Kennedy würde er sich später befassen, wenn er ihm berichten konnte, wie oft sie ihm einen wahnsinnigen Orgasmus beschert hatte.
Im Schein der Taschenlampe sah er auf die Uhr und stellte fest, dass es schon fast zwei Uhr morgens war. Wenn sie bei Kennedy war, würde sie wahrscheinlich bald nach Hause kommen. Kennedy würde bestimmt nicht wollen, dass seine Söhne aufwachten und eine Frau in seinem Bett vorfanden.
Er würde also auf sie warten, entschied er, und ging zurück ins Haus. Die Belohnung für seine Mühe würde er nun erst später bekommen, was ihm natürlich nicht so gut gefiel, aber das Warten hatte auch sein Positives: Er würde es sich gemütlich machen, ihre Sachen durchwühlen, ein Glas Wein trinken und sich darauf freuen, sie so richtig schön zu erschrecken.