17. KAPITEL

Angst schoss durch ihre Adern, als Grace Kennedys Geländewagen in ihre Einfahrt biegen sah. Sie hatte nach einem guten Grund gesucht, Kontakt mit ihm aufzunehmen, aber mittlerweile waren zwei Stunden vergangen, seit sie ihn angerufen hatte. Ihr war nichts Besseres eingefallen als die Wahrheit. Sie wollte einfach nur seine Stimme hören.

“Grace? Ich bin’s”, sagte er und klopfte noch einmal an die Tür, als er keine Antwort bekam.

Sollte sie sich schlafend stellen? Oder so tun, als sei sie nicht zu Hause? Aber seit seine Mutter sie besucht und sie mit Clay die Sachen ihres Stiefvaters weggepackt hatte, fühlte sie sich wie … ein neuer Mensch. Es kam ihr vor, als stehe sie kurz vor einer ungeheuren Entscheidung. Alles schien auf ein einziges Ziel hinauszulaufen – auf ihn.

“Grace?”, rief er ein zweites Mal.

Sie strich ihr Top und ihre Shorts glatt, ging zur Tür und zog sie auf.

Er schaute sie an, als würde er sie am liebsten in seine Arme ziehen. Aber er bewahrte Haltung. “Hi.”

Sie war so aufgeregt, dass sie kaum sprechen konnte. “Hallo.”

“Du hast angerufen …”

Sie überlegte kurz, ob sie ihm eine der Entschuldigungen auftischen sollte, die sie sich ausgedacht hatte: Heath hat seine Badehose hier vergessen, und ich habe gedacht, du könntest sie abholen … Ich habe Zimtbrötchen gebacken, die die Jungs bestimmt gern zum Frühstück essen würden. Aber sie sah keinen Sinn darin.

“Ja”, antwortete sie knapp.

Er wartete darauf, dass sie weitersprechen würde. Als das nicht geschah, fragte er: “Was wolltest du denn?”

Sie war wie gebannt von seinen leuchtend grünen Augen. Sein sanftes Gesicht zog sie hypnotisch an. “Dich sehen”, gab sie zu.

Seine Augenbrauen schnellten nach oben. “Heute Abend noch?”

“Warum nicht?”

“Warum nicht?”, wiederholte er nachdenklich, als wären diese zwei Worte mit einer ungeahnten Bedeutung aufgeladen.

Sie trat zur Seite, um ihn hereinzulassen. Dann zögerte sie. “Willst du nicht lieber woanders parken?”

“Wegen der Vincellis?”, fragte er. “Vergiss es. Ich werde nirgendwo anders parken.”

Offensichtlich hatte er die Sturheit seiner Mutter geerbt. Das war ihr bisher noch gar nicht aufgefallen. “Ich mache mir Sorgen, dass du und deine Familie stolzer seid, als euch gut tut.”

“Sollen die Leute darüber doch denken, was sie wollen.”

“Aber du bist Bürgermeisterkandidat.”

“Wenn ich gewählt werde, tue ich mein Bestes. Das ist alles, was ich den Wählern dieser Stadt schuldig bin.”

“Ich kann mir nicht vorstellen, dass es dir so egal ist, ob du gewinnst.”

“Es ist mir nicht egal. Aber ich lasse mir nicht von anderen Leuten vorschreiben, wie ich mein Leben leben soll.”

Sie schüttelte den Kopf über so viel Starrsinn. “Fein. Wie du meinst.”

Er schwieg.

“Also … möchtest du vielleicht ein Glas Wein?”

“Gern.”

Sie führte ihn in die Küche und nahm eine Flasche Merlot aus dem Regal. Gerade als sie nach dem Korkenzieher griff, fasste er sie an den Händen.

“Was ist denn passiert?”, fragte er, als er die Striemen und Prellungen bemerkte, die sie sich beim Aufräumen des Büros ihres Stiefvaters zugezogen hatte.

Sie zuckte mit den Schultern. “Ich habe wohl ein bisschen zu verbissen im Garten gearbeitet.” Sie starrte auf seine Daumen, die die Innenseite ihres Handgelenks streichelten, und spürte den Drang, ihn zu umarmen, sich ihm hinzugeben. Mit einem Mal stellte sie sich vor, wie sie nackt auf ihm saß und ihn ansah, während er in sie eindrang und …

Sie war völlig überrascht. Nach so langer Zeit, im Alter von einunddreißig Jahren war sie mit einem Mal so weit, sich nach körperlicher Liebe zu sehnen. Und während sie es tat, spürte sie eine wohlige Sehnsucht in sich aufsteigen, die sie ganz benommen machte.

Er verhakte seine Finger mit ihren. “Grace …”

Der Klang seiner Stimme machte sie nervös. “Was?”

“Ich weiß, dass du nicht darüber sprechen willst, aber …”

Angespannt erwartete sie, was als Nächstes kommen sollte.

“… ich muss wissen, was in dieser Nacht passiert ist, als der Reverend starb. Ich muss es wissen, bevor es zwischen uns weitergeht.”

Sie stieß seine Hände von sich. “Nichts ist passiert. Das habe ich dir und allen anderen doch schon erzählt. Er ist … einfach verschwunden.”

Er schien hin- und hergerissen zwischen widerstreitenden Gefühlen. “Ich würde dir ja gerne glauben, wirklich. Aber wir wissen doch beide, dass es nicht stimmt. Seit ich die Bibel gefunden habe, ist das doch offensichtlich.”

Was sollte sie darauf antworten? Sie wollte ihm auf gleicher Ebene begegnen, aber das ging nicht. Vielleicht mochte er schon morgen oder in einem Jahr ganz anders für sie empfinden. “Das ist die einzige Wahrheit, die ich dir erzählen kann.”

“Ich muss Teddy und Heath und meine Eltern beschützen”, erklärte er. “Ich kann nicht mit dir zusammen sein, wenn ich nicht weiß, worauf ich mich einlasse.”

Grace erstarrte. In ihrem Innern breitete sich eine eisige Kälte aus. Was hatte sie sich denn vorgestellt? Nur weil seine Mutter sie gebeten hatte, in der Stadt zu bleiben, nur weil sie auf seine Söhne aufpasste, hatte sich doch zwischen ihnen beiden nichts verändert. Er hatte recht. Es gab viel zu viele Risiken. Und zwar für sie beide.

“Ich verstehe”, sagte sie und verschränkte die Arme. Jedes Mal, wenn sie zu hoffen wagte, fiel der Schatten der Vergangenheit wieder über sie, und sie spürte, wie der kalte Arm von Reverend Barker noch aus dem Grab heraus ihr Schicksal bestimmte. Wie dumm sie doch gewesen war! Zu glauben, das könnte alles auf einmal vorbei sein, ausgerechnet hier in Stillwater … “Ich …” Sie schob die Weinflasche zur Seite. “… ich habe Zimtbrötchen für die Jungs gemacht. Willst du nicht ein paar mitnehmen fürs Frühstück?”

“Hör auf”, sagte er.

“Womit?”, rief sie zornig aus und spürte eine große Leere in ihrer Brust. Das bisschen Glücksgefühl, das sie eben noch empfunden hatte, war verschwunden. Aller Optimismus war aus ihren Gedanken verbannt.

“Zieh dich nicht wieder zurück, verdammt noch mal! Eben noch warst du ganz … nah. Ich habe es gefühlt.”

Was willst du von mir?”

Er fasste sie an den Ellbogen und zog sie zu sich. “Vertrau mir”, flüsterte er. Und dann küsste er sie.

Sie hatte sich danach gesehnt – und jetzt wurde es wahr. Sie schlang ihre Arme um seinen Nacken und erwiderte seinen Kuss so leidenschaftlich wie bei keinem Mann zuvor.

“Kannst du mir vertrauen?”, flüsterte er. “Bitte.”

Sie war sich nicht sicher. Viel zu viele widerstreitende Gefühle stürmten auf sie ein. Er versuchte, ihr das Top über den Kopf zu ziehen, sie versuchte, ihm zu helfen. Sie wartete auf den Moment, in dem sie innerlich kalt werden würde, in dem sie ihm Einhalt gebieten musste. Aber solange er sie küsste und berührte, ihr etwas ins Ohr flüsterte, spürte sie nur Wärme. Das war Kennedy. Es schien, als wäre sie für seine Arme bestimmt.

“Erzähl mir, was mit Reverend Barker passiert ist, Grace”, sagte er, während er ihre Brüste umfasste und sie mit dem Mund liebkoste.

Denk nach, sagte sie sich. Aber sie wollte nichts tun, was dieses Gefühl unendlichen Wohlbehagens, das sich in ihr ausbreitete, zerstörte. Sie sehnte sich nach mehr, und sie schmolz unter Kennedys Berührungen, seinem Geschmack, seinem Geruch. Sie wollte all die Sorge und Vorsicht beiseiteschieben, ihnen für einen Moment entfliehen.

“Grace?”, drängte er atemlos.

“Ich … kann nicht”, stöhnte sie.

Er ließ von ihr ab und schaute sie lange und ernst an. Dann senkte er den Kopf und küsste ihre Brustspitze, umschloss sie mit dem Mund und ließ seine Zunge darübergleiten. “Ich will nicht wählen müssen …”

Jeder einzelne Nerv ihres Körpers spannte sich und begann zu vibrieren. Sie schloss die Augen, genoss die neuen lustvollen Gefühle, die er in ihr wachrief, und legte den Kopf in den Nacken. Genau das war es, was andere Frauen erfahren hatten, das war es, worauf es ankam, das war gesund und schön.

“Sag mir, dass es niemandem wehtun wird, vor allem nicht denen, die ich liebe, wenn ich dich liebe”, sagte Kennedy, und seine Stimme klang heiser und vibrierte. Er fühlte ganz eindeutig genauso wie sie.

Die Bibel machte ihn so hartnäckig. Sie musste ihm einiges erklären, sonst würde er sie immer wieder bedrängen. Sie kämpfte ihre beruflichen Bedenken nieder und begann, ihm zu erzählen, was ihr gerade in den Sinn kam – irgendetwas, was die Geschehnisse der Vergangenheit weiter verschleierte. “Ich weiß … gar nicht, was du meinst. Ich habe die Bibel … in der Scheune auf der Farm gefunden … und wollte sie in Jeds Werkstatt deponieren, weil …”

Er ließ von ihr ab und trat einen Schritt zurück. In seinem Gesichtsausdruck mischten sich heftiges Verlangen und tiefstes Bedauern. “Willst du damit sagen, du wolltest diese Sache Jed anhängen? Das kann doch nicht wahr sein!”

“Nein, natürlich nicht. Ich wollte …”

“Vergiss es”, sagte er scharf. Offensichtlich focht er einen heftigen inneren Kampf aus. “Ich muss gehen. Ich kann nicht so tun, als würde ich daran glauben, dass du mir die Wahrheit erzählst. Teddy und Heath bedeuten mir einfach zu viel.”

Sie schloss die Augen und lauschte seinen Schritten. Er hatte recht; er war besser dran ohne sie. Aber dann wurde es still, noch bevor er die Haustür erreicht haben konnte. Sie schaute auf. Er stand am anderen Ende des Zimmers und sah sie an.

“Ich habe mich in dich verliebt, Grace”, sagte er mit sanfter Stimme. “Wusstest du das nicht?”

Sie schüttelte den Kopf. Das war eine Lüge. Das musste eine Lüge sein.

Da sie unerbittlich blieb, stieß er einen leisen Fluch aus und ging durchs Wohnzimmer auf die Tür zu.

Grace blieb in der Küche stehen und spürte, wie sich ihre Fingernägel in die Innenseite ihrer Hände gruben. Geh nicht, bitte! Wenn er jetzt aus der Tür ging, war es zu Ende. Er hatte sein Herz ausgeschüttet – und sie hatte ihm nichts zurückgegeben.

Aber sie konnte nicht sprechen, ihre Angst nicht überwinden.

Ich habe mich in dich verliebt … Seine Worte wirbelten durch ihren Kopf, wurden größer und wieder kleiner. Sie hätte sie gern eingefangen, an sie geglaubt, sich an ihnen festgehalten, um ihrem Leben einen Halt zu geben. Aber wie? Achtzehn Jahre lang hatte sie geschwiegen. Es war nicht leicht, darüber zu sprechen. Wenn sie nur daran dachte, erstickte sie beinahe vor Ekel und Scham.

Die Haustür ging auf. Es war besser, wenn er jetzt ging. War es das wirklich? Aber nein! Nicht jetzt! Er war der einzige Mensch, der ihr helfen konnte, über all das hinwegzukommen.

Sie griff nach ihrem Top, presste es gegen die Brust und rannte hinter ihm her. “Kennedy?” Immerhin brachte sie noch dieses eine Wort hervor.

Er drehte sich um. Noch schien er zu hoffen, dass sie ihm etwas zu sagen hatte.

Ihr Mund war trocken, sie konnte kaum sprechen. Sie schluckte und schob alle ihre Ängste beiseite. “Bleib heute Nacht bei mir.”

Er schaute sie ergriffen an. “Grace …”

“Morgen früh kannst du gehen”, sagte sie. “Diese eine Nacht wird auch nichts ändern.”

Kennedy wünschte, er könnte widerstehen. Aber das war einfach unmöglich. Er hatte die Wahrheit gesagt, als er ihr gestanden hatte, dass er in sie verliebt war. Und er war sich auch über diese unglaubliche Ironie des Schicksals im Klaren. Nachdem er Grace so herablassend behandelt hatte, als sie jünger gewesen waren, verzehrte er sich jetzt nach ihr.

Er dachte vage an Heath und Teddy. Er würde niemals zulassen, dass man sie verletzte. Seine Familie bedeutete ihm alles. Aber eine Nacht in Grace’ Armen würde nicht gleich seine ganze Welt auf den Kopf stellen, nicht wahr? Vielleicht würde es ihm ja leichter fallen, von ihr zu lassen, wenn er sein Verlangen gestillt hatte.

Er ging zurück ins Haus und schloss die Tür. Er wollte Grace zu sehr, um auf die Stimmen der Vernunft zu hören. Nicht mal seinen eigenen.

Als er die Hand nach ihr ausstreckte, ließ Grace das Top fallen, das sie gegen ihre Brust gedrückt hatte, und flog in seine Arme. Sie konnte es nicht glauben. Kennedy war nicht gegangen. Er war immer noch bei ihr.

Sie hatten die ganze Nacht.

Er streichelte sie und seufzte, als würde sie sich schöner und wunderbarer anfühlen als alles, was er jemals berührt hatte.

Grace ging es nicht anders. Sie fühlte sich wie im Rausch, als ihre Lippen sich berührten. So etwas hatte sie noch nie zuvor gespürt; sie war im siebten Himmel. War es nicht seltsam, dass sie das höchste Glück ausgerechnet in Stillwater gefunden hatte? Aber vielleicht war es ja gar nicht so seltsam. Dies war nun mal der Ort, an dem sie jedes Extrem zu erleben schien.

“Grace?”, flüsterte er, als seine heißen, feuchten Lippen sich eine kurze Pause gönnten.

Sie konnte kaum antworten, ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. “Was denn?”

“Das einzige Verhütungsmittel, das ich habe, ist ein Kondom, das Joe mir vor einem Jahr in meine Jackentasche gesteckt hat.”

“Du bist wohl nicht sehr aktiv?”, scherzte sie, während ihre Knie immer weicher wurden und ihre Haut auf jede Berührung noch empfindlicher reagierte.

“Seit Raelynn war ich mit keiner Frau mehr zusammen”, sagte er.

“Reicht denn dieses Kondom nicht?”

“Hast du nichts anderes?”

“Nein.” George hatte darauf bestanden, dass sie die Pille nahm, aber sie hatte sie vor über einem Monat abgesetzt, als er ihre Beziehung beendet hatte.

“Es wird schon irgendwie gehen”, sagte er.

Sie lachte über sein überraschendes Urteil; sie machte sich keine Sorgen. Natürlich würde sie es nicht darauf anlegen, schwanger zu werden, nicht, wenn Kennedy es nicht auch wollte. Aber genauso wenig würde sie in Tränen ausbrechen, falls es zufällig passierte. Sie sehnte sich seit Jahren nach einem Baby. Sie konnte es ernähren, und sie würde es anbeten. Ein Kind zu bekommen, war einer der Gründe, warum sie George heiraten wollte. Wenn man bedachte, was sie für Kennedy empfand, konnte sie sich nichts Wundervolleres vorstellen, als sein Baby zu bekommen. Dann wäre ihre Rückkehr nach Stillwater es wert gewesen.

“Es wird schon gehen”, stimmte sie zu. Dann nahm sie seine Hand und führte ihn nach oben.

Kennedy hielt inne in ihrem Liebesspiel, stützte sich auf einen Ellbogen und sah Grace bewundernd an. Er wollte sie unter sich spüren, in sie eindringen und sie beide mit langen, pulsierenden Stößen zum Höhepunkt bringen. Aber nach all den Demütigungen und Misshandlungen, die sie als Kind und Teenager erlitten hatte, wollte er so sanft und einfühlsam wie möglich sein. Er wollte ihr zeigen, dass das hier ihm etwas bedeutete. Und er wollte, dass es ihr etwas bedeutete. Wenn sie nur diese paar Stunden miteinander hatten, war er entschlossen, jede Sekunde auszukosten.

“Was ist?”, murmelte sie und sah neugierig zu ihm auf.

Ihre Haut schien im Mondlicht zu glimmen, und ihr dunkles Haar lag wie ein Heiligenschein auf dem Kissen. Sie erwiderte seinen Blick voller Vertrauen und süßer Erwartung, und ihm wurde klar, dass er noch nie in seinem Leben einen so wunderbaren Anblick genossen hatte. “Du bist wunderschön.”

Sie lächelte verführerisch und strich sich mit einer Hand durchs Haar. “Und du bist überhaupt nicht so, wie ich erwartet hatte.”

“Ich bin froh, das zu hören. Ich weiß ja, was du von mir gedacht hast.”

Sie lachte leise. “Ich hatte unrecht. Tut mir leid.”

Er küsste ihre Nasenspitze. “Eigentlich muss ich mich entschuldigen. Ich war so … jung und unerfahren. Ich möchte, dass du das alles vergisst.”

Ihre Hand glitt über seine Brust nach unten, über seinen Nabel und noch weiter. “Ich glaube, das ist jetzt der richtige Zeitpunkt dafür”, sagte sie und zog ihn über sich.

Kennedys Arme zitterten, während er sich abstützte, um in sie einzudringen. Die Berührung mit ihrem Körper genügte schon beinahe, ihn zum Höhepunkt zu bringen, vor allem als sie stöhnte und sich aufbäumte, um ihn noch tiefer in sich zu spüren.

“Das ist es”, flüsterte sie. “Das ist das, was ich will. Zum ersten Mal in meinem Leben will ich genau das.”

Er spürte, wie bedeutungsvoll diese Worte waren, aber er konnte sich nicht darauf konzentrieren. Er war von seinen Gefühlen überwältigt. “Wunderbar”, murmelte er, als er begann, sich zu bewegen.

Sie legte einen Arm über ihr Gesicht, als wollte sie sich ganz auf ihre Gefühle konzentrieren, aber dann nahm sie den Arm wieder herab und schaute ihn an. Er suchte nach diesem verträumten Blick, den er bei ihrer ersten Berührung bemerkt hatte, er wollte jede Reaktion ihres Körpers in ihrem Gesicht ablesen. Und dann nahm er ihre Brustspitze in den Mund und ließ seine Zunge damit spielen, bevor er wieder in sie hineinglitt, wieder und wieder und wieder.

Ihre Bewegungen wurden fordernder, wilder, und Schweiß rann über ihre nackten Körper. Ihr Verlangen, ihre Berührungen, ihr Geschmack verschmolzen miteinander und verloren sich im anderen.

“Das ist … schön”, hauchte sie atemlos und schlang ihre Arme fester um ihn. “So schön.”

Er wollte, dass es noch schöner wurde, für sie musste es einfach perfekt sein. Er zwang sich, langsamer zu werden, damit er ihr so lange wie möglich dieses Gefühl schenken konnte. Aber schon wenige Sekunden später rief sie laut seinen Namen und erbebte. Das war der Moment, wo er jede Kontrolle verlor, sich gehen ließ und nichts mehr zurückhalten konnte.

Grace lauschte auf das regelmäßige Atmen des schlafenden Kennedy. Sie lagen ganz dicht beieinander. Sie spürte eine tiefe Zufriedenheit, innere Wärme, Geborgenheit und vollkommene Ruhe. Ein ähnliches Gefühl hatte sie noch nie in ihrem Leben erfahren. Sie wollte nicht einschlafen, denn es kam ihr vor, als würde sie bereits träumen. Sie wohnte im Haus von Evonne, und eben hatte Kennedy Archer sie geliebt. Konnte das wahr sein?

Sie bewegte sich ganz vorsichtig und schob ihr Kissen etwas zurecht. Seine Hand umfasste besitzergreifend ihre Brust, und sie spürte ganz deutlich, dass er wirklich da war. Das alles war kein Traum. Sie verzichtete darauf, sich zur Seite zu drehen, denn sie wusste, dass er sie bestimmt noch einmal lieben wollte, wenn er aufwachte. Sie hatten bereits alles andere ausprobiert. An ihr erstes Mal reichte nichts davon heran, aber sie hatten ihr einziges Kondom schon benutzt, und sie zweifelte daran, dass eine Schwangerschaft ihn begeistern würde. Er wusste ja nicht, dass sie es sich wünschte.

“Grace?”, murmelte er.

“Was ist?”

“Wir sollten morgen gemeinsam zum Feuerwerk gehen.”

Grace hätte ihm gern zugestimmt, aber ihr war klar, dass das nur Probleme geben würde. Genau wie sie wollte er ihre kurze Affäre nur nicht so schnell wieder beenden. “Nein.”

“Was ist mit Teddy und Heath? Sie werden enttäuscht sein.”

Sie hasste den Gedanken daran, seine Jungs zu verletzen. Aber sie musste verhindern, dass sie sich zu sehr an sie gewöhnten. “Wir sehen uns ja dort. Ich muss die beiden ein bisschen auf Distanz halten.”

Mit dieser Antwort schien er nicht zufrieden zu sein. “Warum sagst du mir nicht, wogegen wir eigentlich kämpfen?”

Sie konnte ihn nicht mit ihren Geheimnissen belasten, sonst würde er genauso leiden wie sie. “Du wirst gegen gar nichts kämpfen.”

“Wenn du mich wirklich beschützen willst, musst du es mir erzählen.”

So würde es allerdings nicht funktionieren, das wusste er genauso gut wie sie. Als sie nicht antwortete, stieg er aus dem Bett. “Na gut. Es ist spät. Ich gehe besser.”

“Glaubst du, dass dein Babysitter auf die Uhr guckt?”, fragte sie, um das Gefühl der Entfremdung, das plötzlich zwischen ihnen aufgekommen war, zu überspielen.

“Sie schläft bestimmt schon. Donnerstags bin ich ja immer abends weg, deshalb bleibt sie die ganze Nacht. Ich glaube nicht, dass sie bemerkt, wann ich nach Hause komme.” Er bewegte sich ganz selbstverständlich nackt durchs Zimmer und suchte seine Kleider zusammen, die auf dem Boden verstreut lagen.

Grace bewunderte seinen muskulösen Körper und konnte kaum glauben, dass es so leicht gewesen war, mit diesem Mann zu schlafen, ihn zu lieben. Es war eine ganz natürliche Sache, ohne lähmende hässliche Erinnerungen, die oft bei ihrem Zusammensein mit George dazwischengekommen waren. Manchmal hatte sie sich auch mit ihm fast normal gefühlt, aber eben nur fast. Mit Kennedy war es wirklich ganz normal. Einzigartig. Unvergleichlich.

Ihr war klar, dass das ganz eindeutig ein Zeichen dafür war, wie sehr sie mit Kennedy zusammen sein wollte. Aber das machte ihre Situation auch nicht einfacher. Er war immer unerreichbar für sie.

“Gute Nacht”, sagte er und ging auf die Tür zu.

Grace zuckte zusammen. Er war böse auf sie. Er war wie Clay; er erwartete, dass sie ihm alles überließ, damit er es regeln konnte.

“Da ist noch etwas, das ich dir sagen sollte”, sagte er und drehte sich um.

Grace richtete sich etwas im Bett auf und zog die Decke über sich. “Was denn?”

“Falls dir einfällt, was du noch tun kannst, um dich besser vor dem zu schützen, was auch immer in der Vergangenheit geschehen ist, dann solltest du es tun.”

“Was meinst du damit?”, fragte sie und spürte, wie die alte Spannung wieder von ihr Besitz ergriff.

“Jemand hat gesehen, wie Clay in der betreffenden Nacht mit dem Auto des Reverends aus der Stadt gefahren ist. Es war schon ziemlich spät am Abend, fast Mitternacht. Und deine Mutter folgte ihm.”

Sie merkte, dass Kennedy sie ganz genau musterte. Deshalb tat sie so, als würde diese Schreckensnachricht sie überhaupt nicht berühren.

“Grace?”

Sie wollte sagen, er müsse sich keine Sorgen machen, dass das nicht stimmte – oder ihm eine Lüge auftischen –, aber sie konnte nicht. Was gerade zwischen ihnen passiert war, war noch zu frisch, zu aufrichtig. Also sagte sie nichts.

Er erwiderte ihren Blick. Er würde zu ihr zurückkommen und würde sie gleich jetzt noch einmal lieben, wenn sie ihm nur die Wahrheit gestand.

Sie war versucht, es zu tun. Jetzt, hier, sofort. Sie war kurz davor, sich ihm preiszugeben, ihm alles zu enthüllen, für einen einzigen Kuss.

“Gott, Grace, willst du mich wirklich einfach so gehen lassen?”

“Ich weiß nicht, was ich tun soll”, sagte sie hilflos.

“Aber ich weiß doch, dass ich dir etwas bedeute. Das habe ich doch gespürt, als du mich eben geliebt hast.”

Sie versuchte, die Tränen wegzublinzeln. Sie konnte ihre Familie nicht in Gefahr bringen, nur weil sie ihr eigenes Glück für wichtiger hielt. “Sei doch froh.”

“Weil du uns keine Chance gibst?”

“Weil ich dir nicht mehr erzähle. Geh nach Hause, Kennedy. Wir wussten doch beide, dass es nur bis zum Morgen dauert.”

Kennedy schimpfte vor sich hin, als er zu seinem Wagen lief. Grace hatte behauptet, eine Nacht würde nichts ändern. Aber das war Unsinn, und das hatte er auch schon vorher gewusst. Er hatte sich nur nicht zurückhalten können. Und nun musste er dafür bezahlen. Er hatte noch immer ihren Geruch in der Nase. Seine Kleider, seine Haut, alles roch nach ihr und steigerte seine Sehnsucht. Er würde ihr nie mehr begegnen können, ohne den Wunsch zu haben, sie ganz nah bei sich zu spüren, genauso, wie es eben gerade noch gewesen war. Sie hatte sich ihm ganz und gar hingegeben – bis auf eine Ausnahme. Und das war genau das, was sie voneinander trennte.

Als er auf seinen Wagen zuging, löste sich eine Figur aus dem Schatten. Kennedy wirbelte herum. Joe.

“Netten Abend gehabt?” Er ließ sein Feuerzeug aufflammen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Die Flamme warf einen flackernden Lichtschein auf sein höhnisches Gesicht.

Joe rauchte nur, wenn er betrunken war. “Fang bloß keinen Streit an”, warnte ihn Kennedy. “Dazu bin ich nicht in der Stimmung.”

Joe deutete auf das Haus. “Ist mal was anderes als Raelynn, hm? Ist das das Tolle an ihr, das mir entgangen ist? Ihr piekfeinen Karrieretypen liebt es wohl, ab und zu in die Gosse hinabzusteigen. Hast es dir wohl mal so richtig schön besorgen lassen, Kennedy. So eine Nutte wie Grace hat ja auch eine Menge Erfahrung.”

Kennedy biss die Zähne zusammen. “Ich weiß nicht, was du hier überhaupt verloren hast. Hau lieber ab!”

Joes Zigarette leuchtete auf, als er daran zog. “Warum denn?”, fragte er lachend. “Jetzt bin ich dran, oder? So lief es doch auch immer in der Schule. Wir haben sie weitergereicht. Bei so einer muss man wirklich nicht egoistisch sein. Vielleicht rufe ich ja Buzz an, wenn ich mit ihr fertig bin.”

Kennedy wusste nicht, dass er es tun würde, bis es zu spät war, bis er sich auf Joe geworfen und ihn zu Boden gerissen hatte. Irgendwo in seinem Kopf wusste er, dass Joe ihn nur provoziert hatte und er das ignorieren sollte. Aber dann schlug er ihm mitten ins Gesicht.

Joe hatte offensichtlich mit einer Reaktion gerechnet, allerdings nicht mit einer so heftigen. “Was zum Teufel …” Er brach ab. Blut schoss von seiner Nase in seinen Mund. Er versuchte, sich von Kennedy frei zu machen. Doch der saß auf ihm und dachte nicht daran aufzugeben. Im Gegenteil: Durch Joes Widerstand ließ er sich völlig gehen. Er hieb auf Joe ein, immer und immer wieder, als wäre er der schlimmste Feind, den er je gehabt hatte, und nicht der Mann, der ihm einmal das Leben gerettet hatte.

“Du Mistkerl”, schrie Joe und schlug um sich. Aber er konnte Kennedy nichts anhaben.

Aber der Schock und die Wut, die Joe zurückschlagen ließen, verpufften, bis er nur noch die Hände vors Gesicht hielt und Kennedy anbettelte, ihn loszulassen.

Schließlich ließ Kennedy von ihm ab und erlaubte ihm, aufzustehen. Doch kaum aufgestanden, holte Joe erneut aus.

Kennedy wich aus und verpasste ihm erneut eine Serie von Hieben, bis Joe stolperte und mit dem Kopf auf dem harten Beton der Straße aufschlug.

Endlich lenkte er ein. “Aufhören, Kennedy, stopp! Es tut mir leid, okay? Lass mich jetzt.”

Kennedy atmete heftig. Er trat ein paar Schritte zurück, behielt aber die Fäuste oben, um sich sofort wieder verteidigen zu können, falls es nötig sein sollte. Aber Joe war fürs Erste bedient. Er wischte sich das Blut von Mund und Kinn und starrte seinen Widersacher hasserfüllt an.

“Das war noch nicht das letzte Wort”, stieß er hervor und spuckte Blut auf den Boden. “Wart’s nur ab. Dass du ein Archer bist, wird dir in Zukunft auch nicht mehr helfen.”

“Dann lass es uns doch gleich hier beenden”, schlug Kennedy wütend vor.

Noch bevor Joe etwas darauf erwidern konnte, ging Grace’ Haustür auf, und sie kam, nur mit einem Bademantel bekleidet, herausgerannt. “Was ist denn hier los?”, schrie sie. “Was macht ihr denn da?”

Joe warf ihr einen vernichtenden Blick zu. “Du bist los.” Dann spuckte er in ihre Richtung und stapfte davon.

Kennedy fluchte leise und sah ihm hinterher. Er hatte das, was von ihrer Freundschaft noch übrig gewesen war, gerade zu Kleinholz gemacht, und das wusste er.

Er schüttelte seine schmerzenden Hände und stieg in seinen Wagen ein.

Grace hielt die Tür fest, bevor er sie schließen konnte, aber er konnte ihr nicht ins Gesicht sehen.

“Ist mit dir alles in Ordnung?”, fragte sie beunruhigt.

Er startete den Motor. “Geh ins Haus und schließ die Tür ab”, sagte er. Dann legte den Rückwärtsgang ein, wendete und fuhr mit quietschenden Reifen davon.