George

An dem Dienstag schob Maud schweigend den Daily Herald über den Frühstückstisch. Sir Arthur war am vergangenen Morgen um 9 Uhr 15 in Windlesham, seinem Wohnsitz in Sussex, gestorben. RÜHMT STERBEND SEINE FRAU verkündete die Schlagzeile und dann »DU BIST WUNDERBAR!«, SAGT DER SCHÖPFER VON SHERLOCK HOLMES und dann KEINE TRAUER. George las, es herrsche »kein Trübsinn« in dem Haus in Crowborough; die Rollläden seien bewusst nicht heruntergelassen worden; und nur Mary, Sir Arthurs Tochter aus erster Ehe, »zeige Kummer«.

Mr Denis Conan Doyle sprach unbefangen mit dem Sonderkorrespondenten des Herald, »nicht mit gedämpfter Stimme, sondern ganz normal und voller Stolz und Freude«. »Er war der wunderbarste Ehemann und Vater, den es je gegeben hat«, sagte er, »und eine große Persönlichkeit. Größer noch als allgemein bekannt, weil er so bescheiden war.« Es folgten zwei Absätze der Lobpreisung, wie es sich für einen Sohn gehört. Doch was dann kam, war George peinlich; fast wollte er die Zeitung vor Maud verstecken. Sollte ein Sohn so über seine Eltern reden – noch dazu in der Zeitung? »Er und meine Mutter waren bis zum Schluss ein Liebespaar. Wenn sie ihn kommen hörte, sprang sie auf wie ein junges Mädchen, ordnete ihr Haar und lief ihm entgegen. Sie waren das größte Liebespaar, das es je gab.« George fand das nicht nur unschicklich, ihm missfiel auch die Prahlerei – zumal eben erst von Sir Arthurs Bescheidenheit die Rede gewesen war. Sir Arthur selbst hätte so etwas ganz gewiss nie von sich behauptet. Der Sohn fuhr fort: »Wenn wir nicht wüssten, dass wir ihn nicht verloren haben, wäre meine Mutter noch in derselben Stunde gestorben, davon bin ich überzeugt.«

Denis’ jüngerer Bruder Adrian bestätigte, dass ihr Vater weiterhin in ihrem Leben präsent sei. »Ich weiß genau, dass ich mit ihm reden werde. Mein Vater glaubte fest daran, dass er auch nach seinem Übergang mit uns in Verbindung bleibt. Die gesamte Familie glaubt daran. Auf jeden Fall wird mein Vater oft zu uns sprechen, genau wie er es vor seinem Übergang tat.« Ganz unkompliziert würde das allerdings nicht sein: »Wir werden es immer merken, wenn er spricht, aber man muss vorsichtig sein, denn auch im Jenseits gibt es Scharlatane, genau wie hier. Die werden möglicherweise versuchen, sich für ihn auszugeben. Aber meine Mutter kennt Mittel, um das zu überprüfen, kleine sprachliche Eigenheiten zum Beispiel, die niemand nachahmen kann.«

George war verwirrt. Die Nachricht hatte ihn plötzlich traurig gemacht – es war, als hätte er irgendwie einen zweiten Vater verloren –, doch das galt als unzulässig: KEINE TRAUER. Sir Arthur war freudig gestorben; seine Familie widerstand – mit einer Ausnahme – dem Kummer. Die Rollläden wurden nicht heruntergelassen; es herrschte kein Trübsinn. Wie konnte er dann behaupten, er habe einen Verlust erlitten? Er wollte sich mit diesem Dilemma schon an Maud wenden, die in solchen Dingen womöglich klarer sah, meinte dann aber, das könnte egoistisch erscheinen. Vielleicht verlangte die Bescheidenheit des Verstorbenen auch eine Bescheidenheit des Kummers von denen, die ihn gekannt hatten.

Sir Arthur war einundsiebzig Jahre alt geworden. Die Nachrufe waren umfangreich und liebevoll. George verfolgte die Meldungen eine ganze Woche lang und stellte zu seinem leichten Verdruss fest, dass er in Mauds Herald etwas mehr Informationen fand als in seinem eigenen Telegraph. Es sollte eine GARTENBESTATTUNG geben, und zwar IM ENGSTEN FAMILIENKREIS. George fragte sich, ob man ihn dazu einladen würde; wer Sir Arthurs Hochzeit gefeiert hatte, durfte hoffentlich auch zugegen sein bei seinem … fast hätte er Tod gesagt, doch dieses Wort wurde in Crowborough nicht gebraucht. Bei seinem Übergang; seiner Erhebung, wie manche sagten. Nein, das wäre zu viel erwartet – er gehörte in keinerlei Hinsicht zur Familie. Nachdem er sich das alles zurechtgelegt hatte, gab es ihm einen kleinen Stich, als er am nächsten Tag in der Zeitung las, es nähmen dreihundert Menschen an der Beerdigung teil.

Sir Arthurs Schwager, der Reverend Cyril Angell, der die erste Lady Conan Doyle beerdigt und die zweite getraut hatte, leitete auch den Gottesdienst im Rosengarten von Windlesham. Der Reverend C. Drayton Thomas assistierte ihm. Man sah wenig Schwarz bei den Versammelten; Jean trug ein geblümtes Sommerkleid. Sir Arthur wurde bei dem Gartenhäuschen zur letzten Ruhe gebettet, das ihm so lange als Arbeitsraum gedient hatte. Aus der ganzen Welt trafen Telegramme ein, und ein Sonderzug musste eingesetzt werden, um alle Blumen aufzunehmen. Als sie an der Grabstätte ausgelegt waren, verglich ein Beobachter das Bild mit einem phantastischen, mannshoch gewachsenen Barockgarten. Jean hatte eine Grabtafel aus britischer Eiche mit der Inschrift BLADE STRAIGHT, STEEL TRUE anfertigen lassen. Ein Sportsmann und ein tapferer Ritter bis zuletzt.

George fand dies alles angemessen, wenn auch unkonventionell; sein Wohltäter war so geehrt worden, wie er es sich gewünscht hätte. Doch am Freitag verkündete der Daily Herald, damit sei die Geschichte noch nicht zu Ende. CONAN DOYLES LEERER STUHL lautete die vier Spalten breite Schlagzeile, und darunter stand eine Erläuterung, die von einem Schriftgrad zum anderen sprang. HELLSEHERIN bei GROSSER VERSAMMLUNG. 6000 Spiritisten bei Gedenkfeier. WUNSCH DER EHEFRAU. Medium will ganz ehrlich sein.

Dieser öffentliche Abschied finde am Sonntag, dem 13. Juli 1930 um 7 Uhr abends in der Albert Hall statt. Mr Frank Hawken, Sekretär der Marylebone Spiritualist Association, werde die Feier organisieren. Lady Conan Doyle, die mit anderen Mitgliedern der Familie daran teilnehmen werde, habe die Veranstaltung als die letzte öffentliche Kundgebung bezeichnet, der sie gemeinsam mit ihrem Ehemann beiwohnen werde. Als symbolisches Zeichen für Sir Arthurs Anwesenheit werde ein leerer Stuhl auf der Bühne stehen, und sie werde links davon sitzen – auf dem Platz, den sie in den letzten zwanzig Jahren unermüdlich eingenommen habe.

Doch damit nicht genug. Lady Conan Doyles Wunsch entsprechend solle dabei auch eine Darbietung von Hellsichtigkeit stattfinden. Dafür stehe Mrs Estelle Roberts zur Verfügung, die Sir Arthurs liebstes Medium gewesen sei. Mr Hawken gewährte dem Herald ein Interview: »Ob Sir Arthur schon hinreichend in Erscheinung tritt, dass ein Medium ihn beschreiben kann, ist zweifelhaft«, erklärte er. »Ich nehme an, er ist bereits sehr wohl in der Lage, in Erscheinung zu treten. Er war sehr gut auf seinen Übergang vorbereitet.« Und weiter: »Sollte er tatsächlich in Erscheinung treten, ist fraglich, ob die Skeptiker diesen Beweis akzeptieren, doch wir, die wir Mrs Roberts als Medium kennen, werden keinerlei Zweifel daran hegen. Wir wissen, wenn sie ihn nicht sehen kann, sagt sie das ehrlich.« Von bedrohlichen Scharlatanen war hier, wie George auffiel, nicht die Rede.

Maud sah zu, wie ihr Bruder den Artikel zu Ende las. »Du musst hingehen«, sagte sie.

»Meinst du?«

»Unbedingt. Er hat dich seinen Freund genannt. Du musst von ihm Abschied nehmen, auch wenn die Umstände ungewöhnlich sind. Geh doch zur Marylebone Association und hol dir eine Eintrittskarte. Heute Nachmittag oder morgen – sonst findest du keine Ruhe.«

Es war seltsam, aber angenehm, dass Maud so bestimmt sein konnte. George pflegte an seinem Schreibtisch wie auch anderswo jedes Für und Wider abzuwägen, bevor er zu einer Entscheidung kam. Für Maud war das reine Zeitverschwendung; sie hatte den klareren – oder doch schnelleren – Blick, und so überließ er ihr die Entscheidung in Haushaltsangelegenheiten, wie er ihr auch alles Geld überließ, das er nicht für Kleidung und Aufwendungen für die Kanzlei benötigte. Sie beglich die Ausgaben für den Lebensunterhalt, zahlte jeden Monat einen gewissen Betrag auf ein Sparkonto ein und spendete das Übrige für wohltätige Zwecke.

»Du meinst nicht, Vater hätte … dergleichen missbilligt?«

»Vater ist seit zwölf Jahren tot«, erwiderte Maud. »Und ich stelle mir gern vor, wen Gott zu sich genommen hat, der ist nicht mehr ganz derselbe wie auf Erden.«

Es überraschte ihn immer noch, dass Maud so freimütig sein konnte; was sie eben gesagt hatte, klang fast wie eine kritische Bemerkung. George beschloss, das nicht zu diskutieren, sondern später für sich allein darüber nachzudenken. Er wandte sich wieder der Zeitung zu. Seine Kenntnisse des Spiritualismus gründeten sich im Wesentlichen auf ein paar Dutzend Seiten aus Sir Arthurs Feder, und er hätte nicht behaupten können, dass sie seine volle Aufmerksamkeit gefunden hatten. Die Vorstellung von sechstausend Menschen, die darauf warten, dass ihr verstorbenes Oberhaupt durch ein Medium zu ihnen spricht, machte ihm Angst.

Er hatte eine Abneigung gegen große Menschenansammlungen an einem Ort. Er dachte an die Menge in Cannock und Stafford, an die ungehobelten Müßiggänger, die nach seiner Festnahme das Pfarrhaus belagert hatten. Er erinnerte sich, wie Männer brutal an die Droschkentür geschlagen und Stöcke geschwungen hatten; er erinnerte sich an das Menschengedränge in Lewes und Portland; danach hatte er die Freuden der Einzelhaft umso mehr genossen. Unter bestimmten Umständen besuchte er öffentliche Vorträge oder große juristische Versammlungen; doch im Allgemeinen hielt er die menschliche Neigung, sich an einem Ort zusammenzuballen, für den Beginn der Unvernunft. Er wohnte zwar in London, einer äußerst dicht besiedelten Stadt, konnte den Kontakt zu seinen Mitmenschen aber in engen Grenzen halten. Er hatte es lieber, wenn sie einer nach dem anderen in seine Kanzlei kamen, wo er sich durch seinen Schreibtisch und seine Rechtskenntnisse geschützt fühlte. Hier in der Borough High Street Nr. 79 war er sicher: Unten lag die Kanzlei und darüber die Räumlichkeiten, die er mit Maud zusammen bewohnte.

Dieser gemeinsame Hausstand war eine ausgezeichnete Idee gewesen, auch wenn er sich nicht mehr erinnern konnte, wessen Vorschlag das gewesen war. Als Sir Arthur sich für ihn einsetzte, hatte die Mutter eine Zeit lang mit ihm bei Miss Goode am Mecklenburgh Square gewohnt. Aber sie musste natürlich nach Wyrley zurückkehren, und da schien es nur logisch, die Frauen des Haushalts zu tauschen. Maud hatte sich als ungeheuer tüchtig erwiesen, was ihre Eltern sehr, ihn aber viel weniger überraschte. Sie führte ihm den Haushalt, kochte, übernahm in Abwesenheit seiner Sekretärin deren Aufgaben und lauschte seinen Erzählungen von der täglichen Arbeit mit ebenso viel Begeisterung, als säße sie wieder in dem alten Schulzimmer. Seit ihrer Übersiedlung nach London ging sie mehr aus sich heraus und hatte auch ihren eigenen Kopf; außerdem hatte sie gelernt, ihn zu necken, was ihm ein besonderes Vergnügen bereitete.

»Aber was soll ich anziehen?«

Ihre prompte Antwort ließ vermuten, dass sie die Frage erwartet hatte. »Deinen blauen Geschäftsanzug. Es ist keine Beerdigung, und Schwarz sehen sie ohnehin nicht gern. Aber es ist wichtig, Respekt zu zeigen.«

»Offenbar ist es eine riesige Halle. Ich werde wohl kaum einen Platz nahe der Bühne bekommen.«

Es hatte sich zwischen ihnen eingebürgert, dass George gewohnheitsmäßig Einwände gegen bereits beschlossene Pläne suchte. Maud ihrerseits genoss diese Ausflüchte. Nun verschwand sie, und er hörte, wie in der Dachstube über ihm Gegenstände herumgeschoben wurden. Wenige Minuten später legte sie etwas vor ihn hin, bei dem ihn ein jäher Schauer überlief: sein Fernglas in einem verstaubten Etui. Sie holte einen Lappen und wischte den Staub weg; das lange nicht geputzte Leder glänzte feucht und matt.

Und da stehen Bruder und Schwester noch einmal an dem letzten vollkommen glücklichen Tag seines Lebens in den Castle Gardens von Aberystwyth. Ein Passant zeigt ihnen Mount Snowdon; doch George sieht nichts als das freudige Gesicht seiner Schwester. Sie dreht sich um und verspricht, ihm ein Fernglas zu kaufen. Zwei Wochen danach begann sein Leidensweg, und als er dann frei war und sie in die Borough High Street zogen, hatte sie ihm zum ersten gemeinsamen Weihnachtsfest dieses Geschenk gemacht, bei dem ihm fast die Tränen gekommen wären.

Er war dankbar gewesen, aber auch verwundert, denn Mount Snowdon lag nun in weiter Ferne, und er glaubte kaum, dass sie jemals wieder nach Aberystwyth fahren würden. Maud hatte das vorausgesehen und angeregt, er könne doch anfangen, Vögel zu beobachten. Wie alles, was Maud vorschlug, leuchtete ihm das sofort ein, und so zog er eine Zeit lang am Sonntagnachmittag in die Sümpfe und Wälder des Londoner Umlands hinaus. Sie dachte, er brauche ein Hobby; er dachte, sie wolle ihn hin und wieder aus dem Haus haben. Für ein paar Monate behielt er das brav bei, doch in Wirklichkeit hatte er Mühe, einem fliegenden Vogel zu folgen, und die still sitzenden fanden anscheinend Vergnügen daran, sich zu tarnen. Obendrein und außerdem kamen ihm die Orte, an denen man Vögel angeblich am besten beobachten konnte, kalt und feucht vor. Wer drei Jahre im Gefängnis verbracht hat, der braucht keine Kälte und Feuchtigkeit mehr im Leben, bis er im Sarg liegt und an den kältesten und feuchtesten aller Orte heruntergelassen wird. Das war Georges wohlerwogene Meinung zum Thema Vogelbeobachtung.

»Du hast mir damals so leidgetan.«

George blickte auf, und sein inneres Bild von einem einundzwanzigjährigen Mädchen in den enttäuschenden Ruinen einer walisischen Burg wich dem einer Frau in mittleren Jahren mit allmählich grau werdendem Haar hinter einer Teekanne. Maud entdeckte noch etwas Staub auf dem Etui seines Fernglases und wischte noch einmal darüber. George sah seine Schwester an. Manchmal fragte er sich, wer von beiden für den anderen sorgte.

»Es war ein glücklicher Tag«, sagte er entschieden, an der Erinnerung festhaltend, die er durch immer neue Wiederholung zu einer Gewissheit gemacht hatte. »Das Hotel Belle Vue. Die Seilbahn. Gebratenes Hühnchen. Keine Steinchen sammeln. Die Eisenbahnfahrt. Es war ein glücklicher Tag.«

»Die meiste Zeit habe ich dir etwas vorgespielt.«

George wusste nicht recht, ob er sich seine Erinnerungen zerstören lassen wollte. »Ich war mir nie sicher, wie viel du wusstest.«

»George, ich war kein Kind mehr. Vielleicht war ich ein Kind, als alles anfing, aber damals nicht. Was blieb mir anderes übrig, als mir alles zusammenzureimen? Man kann vor einem einundzwanzigjährigen Menschen, der kaum aus dem Haus geht, nichts verborgen halten. Man hält nur etwas vor sich selbst verborgen, macht sich selbst etwas vor und hofft, dass der andere dabei mitspielt.«

George ließ seine Gedanken von der Maud, die er jetzt kannte, in die Vergangenheit zurückschweifen und merkte, dass viel mehr von dieser Frau in jenem Mädchen gesteckt haben musste, als ihm damals bewusst war. Doch er hatte kein Verlangen danach, den komplizierten Folgen dieser Feststellung nachzugehen. Er hatte vor langer Zeit entschieden, was damals geschehen war; er kannte seine Geschichte gut. Mit einer allgemeinen Korrektur wie der eben angebrachten konnte er sich unter Umständen abfinden; doch nach neuen Einzelheiten stand ihm ganz und gar nicht der Sinn.

Maud spürte das. Und wenn er ihr damals etwas vorenthalten hatte, so hatte auch sie ihm etwas vorenthalten. Nie würde sie ihm von dem Morgen erzählen, an dem der Vater sie in sein Studierzimmer gerufen und ihr erklärt hatte, er mache sich große Sorgen um das innere Gleichgewicht ihres Bruders. Er sagte, George sei nervlich sehr mitgenommen und weigere sich strikt, einmal auszuspannen; darum wolle er beim Abendessen Bruder und Schwester einen gemeinsamen Ausflug nach Aberystwyth vorschlagen, und sie müsse, ob sie wolle oder nicht, zustimmen und darauf bestehen, dass sie – unbedingt – fahren. Und so war es dann auch geschehen. George hatte den Vorschlag seines Vaters höflich, aber störrisch abgelehnt und dann den Bitten seiner Schwester nachgegeben.

Ein solches Komplott war im Pfarrhaus ganz und gar nicht üblich. Noch mehr hatte Maud jedoch entsetzt, wie ihr Vater Georges Zustand beurteilte. George war für sie immer der verlässliche, gewissenhafte Bruder gewesen, während Horace der leichtfertige war, der jeder Laune nachgab und keinerlei Gleichmütigkeit besaß. Und wie sich herausstellte, hatte sie recht gehabt und Vater unrecht. Denn wie hätte George seine Feuerprobe überstehen können, wenn er nicht viel mehr innere Stärke besessen hätte, als Vater ihm je zutraute? Doch diese Gedanken würde Maud immer für sich behalten.

»In einer Sache hat Sir Arthur gründlich geirrt«, erklärte George plötzlich. »Er war gegen das Frauenwahlrecht.« Da ihr Bruder immer für das Wahlrecht der Frauen eingetreten war, solange das Thema zur Diskussion stand, überraschte Maud diese Meinung nicht. Doch seinen scharfen Ton konnte sie sich nicht erklären. George schaute jetzt verlegen zur Seite. Diese Wege der Erinnerung und alles, was damit zusammenhing, hatten in ihm die zärtlichsten Empfindungen für Maud geweckt und auch die Erkenntnis, dass dies die stärksten Gefühle in seinem Leben waren und bleiben würden. Er war jedoch weder geschickt noch unbefangen genug, um solche Gedanken zu vermitteln, und selbst dieses denkbar indirekte Geständnis verstörte ihn. Darum stand er auf, faltete den Herald unnötigerweise zusammen, gab ihn zurück und ging hinunter in seine Kanzlei.

Obwohl dort Arbeit auf ihn wartete, saß er an seinem Schreibtisch und dachte an Sir Arthur. Ihre letzte Begegnung lag dreiundzwanzig Jahre zurück; dennoch war die Verbindung zwischen ihnen irgendwie nie abgerissen. Er hatte das Schreiben und Wirken Sir Arthurs verfolgt, seine Reisen und Kampagnen, sein Intervenieren in das öffentliche Leben der Nation. Oft entsprachen diese Stellungnahmen – zur Reform des Scheidungsrechts, zu der von Deutschland ausgehenden Gefahr, der Notwendigkeit eines Tunnels unter dem Ärmelkanal, der moralischen Unumgänglichkeit einer Rückgabe Gibraltars an Spanien – dem, was George selbst dachte. Doch gestattete er sich unverhohlene Skepsis gegenüber einem weniger bekannten Beitrag Sir Arthurs zur Strafrechtsreform: dem Vorschlag, hartgesottene Gewohnheitsverbrecher in den Gefängnissen Seiner Majestät allesamt auf die schottische Insel Tiree zu schaffen. George hatte sich Zeitungsartikel ausgeschnitten, Sherlock Holmes’ fortlaufende Heldentaten in The Strand Magazine verfolgt und sich in der Bibliothek Sir Arthurs neueste Bücher ausgeliehen. Zweimal hatte er Maud ins Kino ausgeführt, wo sie sich Mr Eille Norwoods beachtliche Darstellung des beratenden Detektivs ansahen.

Er wusste noch, wie er sich in dem Jahr ihres Umzugs in die Borough High Street eigens die Daily Mail gekauft hatte, um Sir Arthurs Sonderbericht vom Marathonlauf bei den Olympischen Spielen in London zu lesen. Sein Interesse an sportlichen Ambitionen hätte nicht geringer sein können, doch er wurde mit einem weiteren Einblick – so es dessen noch bedurfte – in das Wesen seines Wohltäters belohnt. Sir Arthurs Schilderung war so anschaulich gewesen, dass George sie wieder und wieder las, bis er im Geiste alles vor sich sah wie in der Wochenschau. Das riesige Stadion – die erwartungsvolle Menge – eine kleine Gestalt läuft als Erste ein – ein Italiener, dem Zusammenbruch nahe – er stürzt, steht wieder auf, stürzt wieder, steht wieder auf, taumelt – dann läuft ein Amerikaner in das Stadion ein und holt langsam auf – zwanzig Meter trennen den tapferen Italiener vom Zielband – die Menge ist wie gebannt – er stürzt erneut – man zieht ihn hoch – hilfreiche Arme schieben ihn durch das Band, ehe der Amerikaner aufholen kann. Doch der Italiener hat natürlich gegen die Regeln verstoßen, weil er sich helfen ließ, und so wird der Amerikaner zum Sieger erklärt.

Ein gewöhnlicher Journalist hätte es dabei bewenden lassen und sich gefreut, dass er die Dramatik dieses Augenblicks so plastisch beschwören konnte. Doch Sir Arthur war kein gewöhnlicher Journalist, und die Tapferkeit des Italieners hatte ihn so gerührt, dass er eine Spendensammlung für ihn organisierte. Es waren dreihundert Pfund zusammengekommen, mit denen der Läufer in seinem Heimatdorf einen Bäckerladen aufmachen konnte – was eine Goldmedaille nie hätte bewirken können. Das war typisch für Sir Arthur: ebenso großzügig wie praktisch in seinem Denken.

Nach seinem Erfolg im Fall Edalji hatte Sir Arthur sich auch für andere Opfer der Justiz eingesetzt. George musste sich zu seiner Schande eingestehen, dass er auf diese nachfolgenden Opfer einen Neid empfand, der bisweilen an Abneigung grenzte. Da war zum Beispiel Oscar Slater, dessen Fall Sir Arthur viele Jahre seines Lebens beschäftigt hatte. Der Mann war zwar fälschlich wegen Mordes angeklagt und beinahe hingerichtet worden, und Sir Arthurs Intervention hatte ihn vor dem Galgen bewahrt und letztendlich seine Freilassung bewirkt; doch Slater war ein ganz primitiver Mensch, ein Berufsverbrecher, der sich seinen Unterstützern gegenüber nicht im Geringsten dankbar gezeigt hatte.

Sir Arthur hatte auch weiter Detektiv gespielt. Der merkwürdige Fall einer verschwundenen Schriftstellerin lag erst drei oder vier Jahre zurück. Christie, so hatte sie geheißen. Offenbar ein aufsteigender Stern der Kriminalliteratur, auch wenn George nicht das leiseste Interesse an aufsteigenden Sternen hatte, solange Holmes’ Buch der Fälle noch nicht abgeschlossen war. Mrs Christie war aus ihrem Haus in Berkshire verschwunden, und ihr Auto wurde etwa fünf Meilen außerhalb von Guildford verlassen aufgefunden. Als drei Polizeimannschaften keine Spur von ihr entdecken konnten, hatte der Chief Constable von Surrey Sir Arthur hinzugezogen – der einst Deputy Lieutenant der Grafschaft gewesen war. Was dann geschah, hatte viele überrascht. Hatte Sir Arthur Zeugen befragt, den zertrampelten Boden nach Fußspuren abgesucht oder die Polizei ins Kreuzverhör genommen, wie er es in dem berühmten Fall Edalji getan hatte? Nichts dergleichen. Er hatte sich an Christies Ehemann gewandt, sich einen Handschuh der vermissten Frau ausgeborgt und diesen zu einem Medium gebracht. Dieser Mann hatte sich den Handschuh dann auf die Stirn gelegt, um so die Gesuchte aufzuspüren. Nun ja, der Einsatz wirklicher Bluthunde – wie George ihn einst der Staffordshire Constabulary vorgeschlagen hatte – zum Erschnüffeln einer Fährte war das eine, aber der Einsatz parapsychologischer Bluthunde, die zu Hause blieben und an Handschuhen schnüffelten, war etwas ganz anderes. Als George von Sir Arthurs neuartigen Ermittlungsmethoden las, war er recht erleichtert gewesen, dass in seinem eigenen Fall eher konventionelle Verfahren zur Anwendung gekommen waren.

Doch solch kleine Verschrobenheiten taten Georges Hochachtung vor Sir Arthur noch lange keinen Abbruch. Er hatte ihm diese Hochachtung als eben aus dem Gefängnis entlassener junger Mann von dreißig Jahren entgegengebracht und tat das als vierundfünfzigjähriger Solicitor mit nun schon recht grauem Haupt und Schnurrbart noch immer. Wenn er an einem Freitagmorgen hier an seinem Schreibtisch sitzen konnte, dann hatte er das allein Sir Arthurs hehren Prinzipien zu verdanken und seiner Bereitschaft, diese in die Tat umzusetzen. George hatte sein Leben wiederbekommen. Er besaß eine vollständige Sammlung von Gesetzbüchern, eine gutgehende Kanzlei, mehrere Hüte zur Auswahl und eine prächtige – manch einer würde sogar sagen: protzige – Uhrkette über einer Weste, die jedes Jahr ein wenig mehr spannte. Er hatte einen eigenen Hausstand und eine Meinung zum Tagesgeschehen. Eine Frau hatte er zwar nicht und auch keine ausgedehnten Mittagessen mit Kollegen, die »Der gute alte George!« riefen, wenn er die Rechnung übernahm. Dafür besaß er eine eigenartige Berühmtheit oder Halbberühmtheit oder, nachdem Jahre vergangen waren, Viertelberühmtheit. Er hatte als Jurist bekannt werden wollen und war letztendlich als Justizirrtum bekannt geworden. Sein Fall hatte dazu geführt, dass das Revisionsgericht für Strafsachen eingerichtet wurde, dessen Entscheidungen das Strafrecht in den letzten zwanzig Jahren in einem weithin als revolutionär geltenden Maße weiterentwickelt hatten. George war stolz darauf, dass er – wie unfreiwillig auch immer – mit dazu beigetragen hatte. Doch wer wusste das schon? Wenn sein Name genannt wurde, drückten ihm einige herzlich die Hand und behandelten ihn als einen Mann, dem einst, vor langer Zeit, großes Unrecht geschehen war; andere betrachteten ihn mit den Augen eines Bauernjungen oder Hilfspolizisten auf einem ländlichen Feldweg; doch die meisten hatten mittlerweile nie von ihm gehört.

Bisweilen ärgerte ihn das, und dann schämte er sich zugleich seines Ärgers. Er wusste, dass er sich in all seinen Leidensjahren nichts sehnlicher gewünscht hatte als Anonymität. Der Gefängnispfarrer in Lewes hatte ihn gefragt, was er am meisten vermisse, und er hatte geantwortet, er vermisse sein Leben. Nun hatte er es wieder; er hatte Arbeit, genügend Geld und Menschen, denen er auf der Straße zunicken konnte. Doch von Zeit zu Zeit überfiel ihn der Gedanke, er habe mehr verdient, sei nicht angemessen belohnt worden für das, was er erlitten hatte. Vom Schurken zum Märtyrer zu einem eher unbedeutenden Menschen – war das nicht unfair? Seine Unterstützer hatten ihm versichert, sein Fall sei ebenso bedeutsam wie der von Dreyfus, er verrate ebenso viel über England wie der des Franzosen über Frankreich, und wie es Dreyfusianer und Anti-Dreyfusianer gegeben habe, so gebe es Edalji-Anhänger und Edalji-Gegner. Des Weiteren beteuerten sie beharrlich, er habe in Sir Arthur Conan Doyle einen ebenso großen Verteidiger und dazu besseren Schriftsteller gefunden als der Franzose in Émile Zola, dessen Bücher, wie es hieß, vulgär seien und der sich nach England davongemacht habe, als ihm seinerseits Gefängnis drohte. Man stelle sich vor, Sir Arthur würde sich auf der Flucht vor den Launen eines Politikers oder Staatsanwalts nach Paris absetzen. Er wäre geblieben und hätte gekämpft und Lärm geschlagen und an den Gittern seiner Zelle gerüttelt, bis das Gefängnis einstürzte.

Und dennoch war der Name Dreyfus stetig berühmter geworden und nun auf der ganzen Welt bekannt, während der Name Edalji kaum bis Wolverhampton gedrungen war. Dazu hatte er zum Teil selbst beigetragen – wenn nicht durch Tun, so doch durch Lassen. Als er aus dem Gefängnis kam, hatte man ihn häufig um Vorträge, Zeitungsartikel und Interviews gebeten. Er hatte ausnahmslos abgelehnt. Er wollte kein Wortführer und kein Verfechter einer Sache sein; er war nicht für die Rednertribüne geschaffen; und nachdem er seinen Leidensweg einmal für The Umpire geschildert hatte, fand er es anmaßend, dies bei jeder sich bietenden Gelegenheit erneut zu tun. Er hatte überlegt, ob er sein Buch über das Eisenbahnrecht in einer überarbeiteten Version herausbringen sollte, dann aber gemeint, auch damit würde er womöglich aus seiner traurigen Berühmtheit Kapital schlagen.

Doch vor allem, so vermutete er, hatte seine Unbekanntheit etwas mit England zu tun. Frankreich war in Georges Vorstellung ein Land der Extreme, der radikalen Ansichten, radikalen Grundsätze und eines langen Gedächtnisses. In England ging es ruhiger zu, man war ebenso seinen Grundsätzen verhaftet, machte aber nicht so viel Aufhebens davon; man vertraute dem Gewohnheitsrecht mehr als dem kodifizierten Recht; man kümmerte sich um seine eigenen Angelegenheiten und mischte sich nicht in fremde ein; von Zeit zu Zeit gab es große öffentliche Ausbrüche, Gefühlsausbrüche, die sogar in Gewalt und Ungerechtigkeit umschlagen konnten, in der Erinnerung aber schon bald verblassten und nur selten in die Geschichte des Landes eingingen. Dies und das ist geschehen, nun wollen wir es vergessen und weitermachen wie zuvor: Das war die englische Art. Etwas war falsch, etwas war gestört, aber nun ist es repariert, darum wollen wir so tun, als sei von Anfang an nicht viel falsch gewesen. Es wäre nicht zu dem Fall Edalji gekommen, wenn es ein Berufungsgericht gegeben hätte? Also gut: Wir begnadigen Edalji, richten innerhalb eines Jahres ein Berufungsgericht ein – was soll man weiter darüber reden? Das hier war England, und George konnte Englands Standpunkt verstehen, weil George selbst Engländer war.

Er hatte Sir Arthur nach der Hochzeit noch zweimal geschrieben. Im letzten Kriegsjahr war sein Vater gestorben; er wurde an einem kühlen Maimorgen neben Onkel Compson begraben, etwa zehn Meter von der Kirche entfernt, in der er über vierzig Jahre den Gottesdienst abgehalten hatte. George meinte, Sir Arthur – der seinen Vater kennengelernt hatte – werde das wissen wollen; als Antwort hatte er ein kurzes Kondolenzschreiben erhalten. Doch wenige Monate darauf las er in der Zeitung, dass Sir Arthurs Sohn Kingsley an der Somme verwundet und, davon geschwächt, wie so viele andere von der Spanischen Grippe hinweggerafft worden war. Nur zwei Wochen vor Unterzeichnung des Waffenstillstands. Er schrieb ihm wieder – ein Sohn, der einen Vater verloren hatte, an einen Vater, der einen Sohn verloren hatte. Diesmal erhielt er einen längeren Brief. Kingsley war der letzte Name auf einer langen Liste schmerzlicher Verluste. Sir Arthurs Frau hatte in der ersten Kriegswoche ihren Bruder Malcolm verloren. Sein Neffe Oscar Hornung war wie auch ein anderer Neffe bei Ypern gefallen. Der Mann seiner Schwester Lottie war am ersten Tag im Schützengraben gestorben. Und so weiter und so fort. Sir Arthur zählte alle auf, die er und seine Frau gekannt hatten. Doch am Ende gab er seiner Gewissheit Ausdruck, dass sie nicht verschwunden seien, sondern nur auf der anderen Seite warteten.

George betrachtete sich nicht mehr als einen religiösen Menschen. Wenn er überhaupt noch Christ war, dann lag das nicht an einem Überrest kindlicher Frömmigkeit, sondern an brüderlicher Liebe. Er ging zur Kirche, weil es Maud freute. Ob es ein Leben nach dem Tode gab, würde er gelassen abwarten. Jeglicher Fanatismus war ihm verdächtig. Es hatte ihn etwas verschreckt, dass Sir Arthur damals im Grand Hotel so eindringlich über seine religiösen Gefühle sprach, die kaum etwas mit der eigentlichen Sache zu tun hatten. Doch so war George wenigstens vorbereitet gewesen, als er später erfuhr, dass sein Wohltäter ein regelrechter Spiritualist geworden war und die ihm verbleibenden Jahre und Energien ganz der Bewegung widmen wollte. Diese Ankündigung hatte viele rechtschaffene Menschen zutiefst schockiert. Hätte Sir Arthur, das Idealbild eines englischen Gentlemans, sich mit ein bisschen gepflegtem Tischrücken unter Freunden am Sonntagnachmittag begnügt, dann hätte man sich vielleicht nicht weiter daran gestört. Doch das war nun einmal nicht seine Art. Wenn er an etwas glaubte, dann sollten alle anderen auch daran glauben. Das war seit jeher seine Stärke und manchmal auch seine Schwäche gewesen. Also gab es Spott von allen Seiten, und in den Zeitungen stellten unverschämte Schlagzeilen die Frage IST SHERLOCK HOLMES ÜBERGESCHNAPPT? Wo immer Sir Arthur einen Vortrag hielt, gab es einen Gegenvortrag von Opponenten jeglicher Couleur – von Jesuiten, Plymouthbrüdern, aufgebrachten Materialisten. Erst kürzlich war Bischof Barnes von Birmingham gegen die derzeit grassierenden »phantastischen Glaubensrichtungen« zu Felde gezogen. Christian Science und Spiritualismus seien Irrlehren, die »einfältige Gemüter dazu bewegen, todgeweihte Ideen wieder aufleben zu lassen«, hatte George gelesen. Doch weder Spott noch klerikale Zurechtweisungen hatten Sir Arthur je schrecken können.

Obwohl George dem Spiritualismus instinktiv skeptisch gegenüberstand, wollte er sich nicht auf die Seite der Angreifer stellen. Auch wenn er sich nicht kompetent fühlte, über solche Dinge zu urteilen, wusste er doch, wie er sich entscheiden würde, wenn er die Wahl zwischen Bischof Barnes von Birmingham und Sir Arthur Conan Doyle hätte. Er erinnerte sich – und das war eine seiner großen Erinnerungen, die er immer mit einer Ehefrau hatte teilen wollen – an das Ende ihrer ersten Begegnung im Grand Hotel. Sie waren aufgestanden, um sich zu verabschieden, und Sir Arthur hatte ihn natürlich weit überragt, und dann hatte dieser große, energiegeladene, sanfte Mann ihm in die Augen gesehen und gesagt: »Ich denke nicht, dass Sie unschuldig sind. Ich glaube nicht, dass Sie unschuldig sind. Ich weiß, dass Sie unschuldig sind.« Das war mehr als ein Gedicht, mehr als ein Gebet, das war der Ausdruck einer Wahrheit, an der jede Lüge zerschellen musste. Wenn Sir Arthur sagte, er wisse etwas, dann lag die Beweislast, Georges juristischer Meinung nach, ab sofort auf der Gegenseite.

Er nahm Memories and Adventures aus dem Regal, Sir Arthurs Autobiographie, einen dicken, mitternachtsblauen Band, der sechs Jahre zuvor erschienen war. Das Buch öffnete sich, wie immer, von allein auf Seite 215. »Im Jahre 1906«, las er zum wiederholten Male, »verschied meine Frau nach langer Krankheit … Nach diesen dunklen Tagen war ich eine Zeitlang unfähig zu arbeiten, bis der Fall Edalji meine Energien plötzlich in eine vollkommen unerwartete Bahn lenkte.« Bei diesem Anfang wurde George immer ein wenig unbehaglich zumute. Das hörte sich an, als sei sein Fall gerade im rechten Moment gekommen und durch seine Eigentümlichkeit genau das gewesen, was Sir Arthur brauchte, um aus tiefster Verzweiflung gerissen zu werden; als hätte Sir Arthur anders – oder gar nicht – reagiert, wenn die erste Lady Conan Doyle nicht vor kurzem verstorben wäre. Tat er ihm jetzt unrecht? Nahm er einen einfachen Satz zu sehr unter die Lupe? Aber genau das tat er doch tagtäglich in seinem Beruf: Er las sorgfältig. Und Sir Arthur hatte vermutlich für sorgfältige Leser geschrieben.

Es gab noch viele andere Sätze, die George mit Bleistift unterstrichen und mit einer Randnotiz versehen hatte. Zum Beispiel diesen über seinen Vater: »Ich habe keine Ahnung, wie der Pfarrer zum Parsen oder ein Parse zum Pfarrer werden konnte.« Nun, einst hatte Sir Arthur eine Ahnung gehabt, und zwar eine sehr präzise und korrekte, denn George hatte ihm im Grand Hotel, Charing Cross, die Lebensreise seines Vaters erläutert. Und dann dies: »Vielleicht wollte ein tolerant gesinnter Patronatsherr damit demonstrieren, wie allumfassend die anglikanische Kirche ist. Ich hoffe, das Experiment wird nicht wiederholt, denn der Pfarrer war zwar ein liebenswürdiger und pflichtgetreuer Mensch, doch das Erscheinen eines farbigen Geistlichen mit einem Mischlingssohn in einer primitiven und unkultivierten Gemeinde musste zwangsläufig zu einer bedauerlichen Situation führen.« Das fand George unfair; es gab praktisch der Familie seiner Mutter, die diese Gemeinde vergeben hatte, die Schuld an den späteren Ereignissen. Auch die Bezeichnung als »Mischlingssohn« gefiel ihm nicht. Rein formal stimmte das wohl, doch er selbst dachte ganz und gar nicht in solchen Kategorien und hätte Maud nie als seine Mischlingsschwester oder Horace als seinen Mischlingsbruder bezeichnet. Konnte man das nicht besser formulieren? Vielleicht hätte sein Vater, der daran glaubte, dass die Zukunft der Welt von dem harmonischen Miteinander der Rassen abhing, einen besseren Ausdruck gefunden.

»Die völlige Hilflosigkeit dieses verzweifelten, von brutalen Bauernflegeln gehetzten Häufleins Menschen – des farbigen Geistlichen in seiner sonderbaren Position, der tapferen, blauäugigen, grauhaarigen Mutter, der jungen Tochter – das alles empörte mich und trieb mich an, die Sache zu Ende zu bringen.« Völlige Hilflosigkeit? Da käme man nicht auf den Gedanken, dass sein Vater eine eigene Analyse des Falls veröffentlicht hatte, bevor Sir Arthur überhaupt auf der Bildfläche erschien; oder dass Mutter und Maud fortwährend Briefe geschrieben, Helfer angeworben und Referenzen eingeholt hatten. George fand, dass Sir Arthur zwar viel Lob und Dank verdient hatte, aber etwas zu vehement alles Lob und allen Dank allein einheimsen wollte. Auf jeden Fall spielte er die Bedeutung der langen Kampagne von Mr Voules von der Truth herunter, von Mr Yelverton, den Memoranden und der Unterschriftensammlung ganz zu schweigen. Selbst Sir Arthurs Darstellung davon, wie er erstmals von dem Fall gehört hatte, war eindeutig fehlerhaft. »Im Spätherbst 1906 fiel mir durch Zufall ein unbedeutendes Blättchen namens The Umpire in die Hände, und darin fand ich einen Artikel, in dem sein Fall von ihm selbst dargelegt wurde.« Dieses »unbedeutende Blättchen« war Sir Arthur aber nur deshalb »durch Zufall in die Hände gefallen«, weil George ihm alle Artikel mit einem ausführlichen Begleitschreiben zugeschickt hatte. Was Sir Arthur sehr wohl wissen musste.

Nein, dachte George, das war jetzt unfreundlich. Sir Arthur hatte sicher aus dem Gedächtnis berichtet und die Ereignisse so geschildert, wie er sie im Laufe der Jahre wieder und wieder selbst erzählt hatte. Aus seiner Erfahrung mit Zeugenaussagen wusste George, wie sich durch die ständige Wiederholung einer Geschichte die Ecken und Kanten abschliffen, der Erzähler sich immer mehr hervortat und alles viel eindeutiger erschien, als es anfangs gewesen war. Nun ließ er den Blick rasch über Sir Arthurs Darstellung gleiten, um nicht noch weitere Fehler zu finden. Gegen Ende stand: »Das spricht jeder Gerechtigkeit Hohn«, und dann kam der Satz: »Der Daily Telegraph führte eine Spendensammlung für ihn durch, die etwa £ 300 erbrachte.« George erlaubte sich ein leicht verkniffenes Lächeln: Dies war genau dieselbe Summe, die bei Sir Arthurs Aufruf zugunsten des italienischen Marathonläufers im Jahr darauf zusammengekommen war. Die beiden Ereignisse hatten die Herzen der britischen Bevölkerung im selben, exakt zu beziffernden Maß gerührt: drei Jahre Freiheitsberaubung in einem Zuchthaus und ein Sturz am Ende eines sportlichen Wettkampfs. Nun, es war sicher eine heilsame Lehre, den eigenen Fall so in die richtige Perspektive gerückt zu bekommen.

Doch zwei Zeilen weiter stand der Satz, den George häufiger gelesen hatte als alle anderen in dem Buch, der alle Ungenauigkeiten und falschen Akzente wettmachte, der Balsam für eine Seele war, der ihr Leiden so demütigend quantifiziert worden war. Da war er: »Er kam zu meinem Hochzeitsempfang, und kein anderer Gast erfüllte mich mit solchem Stolz wie er.« Ja. George beschloss, Memories and Adventures zu der Gedenkfeier mitzunehmen für den Fall, dass jemand etwas gegen seine Anwesenheit einzuwenden hatte. Er wusste nicht, wie Spiritualisten – geschweige denn sechstausend von ihnen – aussahen, aber er glaubte kaum, dass er selbst wie einer aussah. Das Buch wäre sein Passierschein, falls es Schwierigkeiten gäbe. Sehen Sie, hier auf Seite 215, das bin ich; ich bin gekommen, um von ihm Abschied zu nehmen, ich bin stolz, noch einmal sein Gast zu sein.

Am Sonntagnachmittag trat er kurz nach vier aus der Tür der Borough High Street Nr. 79 und ging Richtung London Bridge: ein kleiner, brauner Mann in einem blauen Geschäftsanzug mit einem dunkelblauen Buch unter dem linken Arm und einem Fernglas, das von seiner rechten Schulter hing. Ein zufälliger Beobachter hätte meinen können, er sei zu einem Pferderennen unterwegs – nur fanden sonntags keine Rennen statt. Das Buch unter seinem Arm könnte vielleicht der Vogelbestimmung dienen – doch wer würde im Geschäftsanzug Vögel beobachten? In Staffordshire wäre er eine seltsame Erscheinung gewesen, und selbst in Birmingham hätte man ihn wohl als exzentrisch belächelt; doch in London würde das niemand tun, dort gab es ohnehin schon Exzentriker genug.

Als er hierher zog, hatte er sich anfangs Sorgen gemacht. Über sein zukünftiges Leben, natürlich; darüber, wie er und Maud miteinander auskämen; über die Größe der Stadt, ihre Menschenansammlungen und ihren Lärm; aber auch darüber, wie man ihn hier behandeln würde. Ob ihm Raufbolde auflauern würden wie die in Landywood, die ihn in eine Hecke gestoßen und seinen Regenschirm beschädigt hatten, oder ob wahnsinnige Polizisten wie Upton drohen würden, ihm etwas anzutun; ob er den Rassenvorurteilen begegnen würde, die Sir Arthurs Überzeugung nach seinem Fall zugrunde lagen. Doch als er die London Bridge überquerte, wie er es nun schon seit über zwanzig Jahren tat, fühlte er sich ganz zu Hause. In aller Regel ließ einer den anderen in Ruhe, sei es aus Höflichkeit oder aus Gleichgültigkeit, und George war für beide Motive gleichermaßen dankbar.

Natürlich ging man ständig von falschen Annahmen über ihn aus: dass er und seine Schwester erst vor kurzem in dieses Land gekommen seien; dass er Hindu sei; dass er mit Gewürzen handele. Und natürlich fragte man ihn immer noch, wo er herkomme; doch wenn er – um weitergehende geographische Erörterungen zu vermeiden – zur Antwort gab, er komme aus Birmingham, nickten seine Gesprächspartner meist wenig überrascht, als hätten sie schon immer gewusst, dass die Einwohner von Birmingham so aussahen wie George Edalji. Natürlich gab es auch scherzhafte Anspielungen der Art, mit denen Greenway und Stentson sich vergnügt hatten – wenn auch nur selten auf Betschuanaland –, doch das nahm er als so unvermeidlich und normal hin wie Regen und Nebel. Und manche Leute zeigten sich sogar enttäuscht, wenn sie hörten, dass man aus Birmingham kam, weil sie auf Neuigkeiten aus fernen Landen gehofft hatten, mit denen man gar nicht dienen konnte.

Er nahm die Untergrundbahn von der Station Bank bis High Street Kensington, dann ging er in östlicher Richtung zu Fuß weiter, bis die gewölbten Umrisse der Albert Hall in Sicht kamen. Da er es mit der Zeit immer übergenau nahm – Maud zog ihn gern damit auf –, war er fast zwei Stunden vor Beginn der Feier da. Er beschloss, einen Spaziergang im Park zu machen.

Es war kurz nach fünf an einem schönen Sonntagnachmittag im Juli, und aus einem Pavillon ertönte schmetternde Musik. Der Park war voller Familien, Ausflügler und Soldaten – doch sie bildeten nirgendwo eine dichte Menge und machten George deshalb keine Angst. Er schaute auch nicht mehr so neidisch wie vielleicht früher einmal nach den jungen, miteinander flirtenden Pärchen und den ernsthaften Eltern, die kleine Kinder beaufsichtigten. Als er nach London kam, hatte er die Hoffnung zu heiraten noch nicht aufgegeben; ja, er machte sich sogar Gedanken darüber, wie seine zukünftige Ehefrau wohl mit Maud auskäme. Denn Maud konnte er auf keinen Fall im Stich lassen und wollte es auch nicht. Doch als einige Jahre vergangen waren, stellte er fest, dass ihm Mauds gute Meinung von seiner künftigen Ehefrau wichtiger war als umgekehrt. Und als weitere Jahre vergangen waren, traten die allgemeinen Nachteile einer Ehefrau noch deutlicher hervor. Eine Ehefrau mochte anfangs umgänglich erscheinen und sich dann als Zankteufel entpuppen; eine Ehefrau brachte womöglich kein Verständnis für Sparsamkeit auf; eine Ehefrau würde sich gewiss Kinder wünschen, und George glaubte nicht, dass er den damit einhergehenden Lärm und die Störung bei seiner Arbeit ertragen könnte. Dann waren da natürlich noch sexuelle Angelegenheiten, die oft keine Harmonie mit sich brachten. George bearbeitete keine Scheidungsfälle, doch als Anwalt hatte er genügend Beweise dafür gesehen, welches Leid eine Ehe den Menschen zufügen konnte. Sir Arthur hatte einen langen Feldzug gegen die grausamen Scheidungsgesetze geführt und war über Jahre hinweg Präsident der Reform Union gewesen, ehe er den Vorsitz an Lord Birkenhead abtrat. So folgte ein Name auf der Ehrentafel dem anderen: Eben dieser Lord Birkenhead, damals noch F. E. Smith, hatte Gladstone im Unterhaus bohrende Fragen zum Fall Edalji gestellt.

Aber das war jetzt nebensächlich. George war vierundfünfzig Jahre alt, führte ein recht behagliches und sorgenfreies Leben und trug seinen unverheirateten Stand zumeist mit philosophischer Gelassenheit. Sein Bruder Horace war nun für die Familie verloren: Er hatte geheiratet, war nach Irland gezogen und hatte einen anderen Namen angenommen. George wusste nicht genau, in welcher Reihenfolge er das getan hatte, doch es gab unverkennbar einen Zusammenhang, und George schien eins so wenig erstrebenswert wie das andere. Nun, es gab unterschiedliche Lebensweisen; und die Wahrheit sah so aus, dass eine Ehe weder für ihn noch für Maud je sehr wahrscheinlich gewesen war. Sie ähnelten sich in ihrer Schüchternheit und in ihrer scheinbaren Abwehr gegen alle Annäherungsversuche. Doch es gab schon genug Ehen auf dieser Welt, der ganz gewiss keine Untervölkerung drohte. Bruder und Schwester konnten so harmonisch miteinander leben wie Mann und Frau; bisweilen sogar harmonischer.

Anfangs waren er und Maud zwei-, dreimal im Jahr nach Wyrley zurückgekehrt, doch diese Besuche waren nur selten glücklich. Für George weckten sie zu viele Erinnerungen einer ganz bestimmten Art. Der Türklopfer ließ ihn noch immer erschrecken, und wenn er abends in den dunklen Garten hinausschaute, sah er oft flüchtige Schemen unter den Bäumen umherhuschen; er wusste, da war nichts, und fürchtete es dennoch. Maud reagierte anders. Trotz ihrer zärtlichen Liebe zu Vater und Mutter wurde sie mit dem Eintritt ins Pfarrhaus still und zaghaft; sie hatte kaum eine eigene Meinung, und nie war ihr Lachen zu hören. George hätte beinahe schwören können, dass sie zu kränkeln begann. Doch er wusste immer, was man dagegen tun konnte: Das Heilmittel hieß New Street Station und der Zug nach London.

Wenn er mit Maud zusammen ausging, wurden sie zunächst manchmal für Mann und Frau gehalten, und dann sagte George, der sich die Ehetauglichkeit auf keinen Fall absprechen lassen wollte, recht pedantisch: »Nein, das ist meine liebe Schwester Maud.« Doch nach einiger Zeit unterließ er diese Korrektur bisweilen, und hinterher nahm Maud dann seinen Arm und lachte leise. Bald, wenn ihre Haare ebenso grau waren wie seine, hielte man sie vermutlich für ein altes Ehepaar, und vielleicht hätte er dann gar kein Interesse mehr daran, diese Annahme richtigzustellen.

Er war ziellos umhergeschlendert und näherte sich nun dem Albert Memorial. Dort saß der Prinz unter seinem goldglänzenden Baldachin, zu seinen Füßen alle berühmten Männer dieser Welt. George nahm das Fernglas aus dem Etui und begann zu üben. Er ließ den Blick langsam das Denkmal hinaufgleiten, über die von Kunst und Wissenschaft und Industrie beherrschten Ebenen, über die sitzende Gestalt des gedankenverlorenen Prinzgemahls hinweg in eine höhere Sphäre. Der geriffelte Knopf war nur schwer zu bedienen, und manchmal sah er nur eine Masse verschwommener Blätter vor der Linse, aber schließlich bekam er ein klares Bild von einem klobigen christlichen Kreuz. Von dort aus fuhr er langsam an der Spitze des Denkmals herunter, die ebenso dicht bevölkert schien wie die unteren Bereiche. Da waren Reihen voller Engel und dann – etwas unterhalb der Engel – eine Ansammlung weiterer menschlicher Gestalten in klassischen Gewändern. Er umkreiste das Denkmal, wobei er oft nur unscharf sah, und überlegte, wer das wohl sein könnte: eine Frau mit einem Buch in der einen und einer Schlange in der anderen Hand, ein Mann im Bärenfell mit einer großen Keule, eine Frau mit einem Anker, eine Gestalt mit einer Kapuze auf dem Kopf und einer langen Kerze in der Hand … Ob das vielleicht Heilige waren oder symbolische Gestalten? Ah, hier auf einem Sockel in der Ecke stand endlich eine Figur, die er erkannte: Sie hielt in der einen Hand ein Schwert und in der anderen eine Waage. George stellte erfreut fest, dass der Bildhauer ihr keine Augenbinde gegeben hatte. Dieses Detail hatte oft sein Missfallen erregt: nicht, weil er seine Bedeutung nicht verstand, sondern weil andere sie nicht verstanden. Die Augenbinde erlaubte ungebildeten Menschen, spöttische Bemerkungen über seinen Berufsstand zu machen. Das konnte George nicht zulassen.

Er steckte das Fernglas ins Etui zurück und lenkte seine Aufmerksamkeit von den monochromen, erstarrten Figuren auf die bunten, beweglichen um ihn herum, von dem in Stein gehauenen auf den lebendigen Fries. Und in dem Moment überfiel ihn die Erkenntnis, dass jeder Mensch irgendwann tot ist. Er sann hin und wieder über seinen eigenen Tod nach; er hatte um seine Eltern getrauert – vor zwölf Jahren um seinen Vater, vor sechs Jahren um seine Mutter; er hatte Nachrufe in den Zeitungen gelesen und war zur Beerdigung von Kollegen gegangen; und jetzt ging er zu dem großen Abschied von Sir Arthur. Doch ihm war nie zuvor bewusst gewesen – obwohl das eher ein intuitives Wissen war als eine verstandesmäßige Einsicht –, dass jeder Mensch irgendwann tot ist. Gewiss hatte man ihn als Kind darüber aufgeklärt, wenn auch nur im Zusammenhang damit, dass jeder Mensch – wie Onkel Compson – hinterher weiterlebt, sei es im Schoße Christi oder, wenn es ein böser Mensch war, anderswo. Nun aber schaute George sich um. Prinz Albert war natürlich schon tot, und die Witwe von Windsor auch, die um ihn getrauert hatte; aber diese Frau mit dem Sonnenschirm wird einmal tot sein, und die Mutter neben ihr schon früher tot, und diese kleinen Kinder später tot, obwohl die Jungen, wenn es wieder einen Krieg gibt, auch früher tot sein könnten, und ihre beiden Hunde werden auch tot sein, und die Männer der fernen Musikkapelle und das Baby im Kinderwagen, sogar das Baby im Kinderwagen, selbst wenn es so alt würde wie der älteste Mensch auf Erden, hundertfünf, hundertzehn Jahre, das war egal, auch dieses Baby wird einmal tot sein.

Obwohl George jetzt an die Grenze seines Vorstellungsvermögens kam, ging er noch einen Schritt weiter. Wenn man jemanden kannte, der gestorben war, dann hatte man zwei verschiedene Möglichkeiten: Man konnte eines Toten gedenken, der voll und ganz ausgelöscht war, und der leibliche Tod war der Beleg und Beweis, dass die Persönlichkeit, das Wesen, das individuelle Sein nicht mehr existierte; oder man konnte glauben, dass derjenige irgendwo, irgendwie, je nachdem, welcher Religion man anhing und wie inbrünstig oder halbherzig man ihr anhing, noch am Leben war, entweder so, wie es in heiligen Schriften vorhergesagt wurde, oder auf eine Art, die wir erst noch begreifen mussten. Entweder – oder, da gab es keinen Kompromiss; und George kam die Auslöschung insgeheim wahrscheinlicher vor. Doch wenn man an einem warmen Sommernachmittag im Hyde Park stand, und Tausende von anderen Menschen waren um einen herum, von denen wohl nur wenige ans Totsein dachten, dann konnte man nicht so leicht glauben, dass dieses konzentrierte und komplexe Etwas, das man Leben nannte, nur eine Zufallserscheinung auf einem unbedeutenden Planeten war, ein kurzer lichter Moment zwischen zwei Ewigkeiten von Dunkelheit. In so einem Moment war es möglich zu glauben, dass all diese Lebensenergie irgendwie, irgendwo weitergehen musste. George wusste, er würde keiner Anwandlung religiöser Gefühle erliegen – er würde sich von der Marylebone Spiritualist Association keine der Bücher und Broschüren geben lassen, die man ihm beim Abholen seiner Eintrittskarte angeboten hatte. Er wusste auch, dass er sicherlich weiterleben würde wie bisher und dass er – vor allem Maud zuliebe – wie alle seine Landsleute die allgemeinen Rituale der Kirche von England einhalten würde, auf eine halbherzige, vage hoffnungsvolle Art und Weise einhalten würde, bis es Zeit war zu sterben, und dann würde er die Wahrheit erkennen oder, wahrscheinlicher noch, überhaupt nichts erkennen. Doch gerade heute – während ein Reiter auf seinem Pferd an ihm vorbeitrabte – ein Reiter und ein Pferd, die dem Tod so wenig entgehen konnten wie Prinz Albert – meinte er etwas von dem zu sehen, was Sir Arthur gesehen hatte.

All das verschreckte ihn so, dass es ihm den Atem nahm; er wollte sich beruhigen und setzte sich deshalb auf eine Bank. Er schaute die vorübergehenden Menschen an, sah aber nur wandelnde Tote – Gefangene, die bedingt in die Freiheit entlassen waren, aber jeden Moment zurückbeordert werden konnten. Um auf andere Gedanken zu kommen, schlug er Memories and Adventures auf und blätterte darin. Und sofort sprangen ihm zwei Wörter in die Augen. Sie waren in normalen Lettern gedruckt, die ihm aber wie Großbuchstaben erschienen: »Albert Hall«. Abergläubischere oder unkritischere Naturen hätten dem wohl irgendeine Bedeutung zugeschrieben; George wollte darin nicht mehr als einen Zufall sehen. Er las dennoch und war abgelenkt. Er las, dass Sir Arthur vor beinahe dreißig Jahren in das Preisgericht eines Körper-Wettbewerbs in der Albert Hall berufen worden war; dass er nach einem Champagner-Diner in die leere Nacht hinauswanderte und sich wenige Schritte hinter dem Sieger wiederfand, einem schlichten Burschen, der durch die Straßen von London streifen wollte, bis er mit dem Frühzug nach Lancashire zurückfahren konnte. George fühlt sich plötzlich in ein bildhaftes Traumland versetzt. Es herrscht Nebel, der Atem der Menschen ist weiß, und ein starker Mann mit einer goldenen Statue hat kein Geld für ein Bett. Er sieht diesen Mann von hinten, so wie Sir Arthur ihn sah; er sieht einen schief aufgesetzten Hut, den Stoff einer Jacke, die sich über kräftigen Schultern spannt, eine lässig unter den Arm geklemmte Statue, deren Füße nach hinten zeigen. Ein im Nebel verirrter Mann, doch hinter ihm naht ein großer, sanfter Retter, der einen schottischen Zungenschlag hat und stets furchtlos zur Tat schreitet. Was wird aus ihnen allen werden – dem unschuldig angeklagten Juristen, dem zusammengebrochenen Marathonläufer, dem umherirrenden starken Mann – nun, da Sir Arthur sie verlassen hat?

Es war immer noch eine Stunde zu früh, doch die Menschen strömten bereits in die Albert Hall, und George schloss sich ihnen an, um später nicht in ein Gedränge zu geraten. Er hatte eine Karte für eine Loge im zweiten Rang. Man wies ihm den Weg über eine rückwärtige Treppe, die in einen halbrunden Gang führte. Eine Tür ging auf, und er stand in dem engen Trichter einer Loge. Sie hatte fünf Plätze, alle noch unbesetzt: einen hinten, zwei nebeneinander und zwei weitere vorne am Messinggeländer. George zögerte kurz, dann holte er tief Luft und trat nach vorn.

Von allen Seiten dieses goldenen und rotplüschigen Amphitheaters strahlen ihn Lichter an. Das Gebäude gleicht eher einer ovalen Schlucht; er kann weit zur anderen Seite sehen, nach unten, nach oben. Wie viele Menschen fasst dieser Saal – achttausend, zehntausend? Beinahe schwindelig setzt er sich auf einen vorderen Platz. Er ist froh, dass Maud ihn darauf gebracht hat, das Fernglas mitzunehmen: So schweift sein Blick über die Arena und das schräg abfallende Parkett, die drei Logenränge, die große Orgel hinter der Bühne, dann über den höher gelegenen schräg ansteigenden ersten Rang und die von braunen Marmorsäulen gestützte Bogenreihe, über der sich eine Kuppel erhebt, die von einem schwebenden Segeltuchbaldachin verdeckt wird, als hinge eine Wolkenlandschaft über den Köpfen der Zuschauer. Er betrachtet die unten ankommenden Menschen – einige tragen Abendkleidung, doch die meisten richten sich nach Sir Arthurs Wunsch, nicht um ihn zu trauern. George schwenkt das Fernglas wieder zur Bühne hin: Da sind Garben von Blumen, die er für Hortensien hält, und große Hängefarne einer ihm unbekannten Art. Für die Familie steht eine Reihe hochlehniger Stühle bereit. Auf dem mittleren ist ein rechteckiges Pappschild aufgestellt. George richtet sein Fernglas auf diesen Stuhl. Auf dem Schild steht SIR ARTHUR CONAN DOYLE.

Während der Saal sich füllt, verstaut George das Fernglas im Etui. Die Loge zu seiner Linken wird besetzt; nur eine gepolsterte Armlehne trennt George von seinen Nachbarn. Sie grüßen ihn freundlich, als sei dies eine zwar ernste, aber auch zwanglose Veranstaltung. Er fragt sich, ob er als Einziger hier kein Spiritualist ist. Mit der Ankunft einer vierköpfigen Familie ist seine Loge voll; er bietet an, sich auf den einzelnen Platz im hinteren Teil zu setzen, aber sie wollen nichts davon hören. Sie wirken wie ganz gewöhnliche Londoner auf ihn: ein Ehepaar mit zwei fast erwachsenen Kindern. Die Frau setzt sich ganz unbefangen auf den Platz neben ihm: Sie ist Ende dreißig, seiner Schätzung nach, dunkelblau gekleidet, hat ein breites, offenes Gesicht und wallendes kastanienbraunes Haar.

»Das ist ja schon halbwegs im Himmel hier oben, nicht wahr?«, sagt sie fröhlich. Er nickt höflich. »Und woher kommen Sie?«

George will ausnahmsweise einmal genau antworten. »Aus Great Wyrley«, sagt er. »Das liegt in der Nähe von Cannock in Staffordshire.« Er macht sich halbwegs darauf gefasst, dass sie wie Greenway und Stentson erwidert: »Nein, wo kommen Sie wirklich her?« Aber sie wartet einfach nur ab; vielleicht soll er sagen, welcher spiritualistischen Vereinigung er angehört. Er ist versucht zu erklären: »Sir Arthur war ein Freund von mir« und weiter: »Ich war sogar auf seiner Hochzeit«, und es ihr anhand seiner Memories and Adventures zu beweisen, falls sie daran zweifeln sollte. Doch das könnte überheblich wirken. Außerdem fragt sie sich dann vielleicht, warum er, wenn er ein Freund von Sir Arthur war, so weit von der Bühne entfernt zwischen gewöhnlichen Leuten sitzt, denen dieses Glück nicht beschieden war.

Als der Saal voll ist, werden die Lichter gedämpft und die Familie tritt auf die Bühne. George überlegt, ob man aufstehen, vielleicht sogar applaudieren soll; er ist so an die Rituale der Kirche gewöhnt, wo er weiß, wann man aufsteht, wann man niederkniet, wann man sitzen bleibt, dass er ganz hilflos ist. Wenn dies ein Theater wäre und die Nationalhymne gespielt würde, wäre das Problem gelöst. Seinem Gefühl nach sollten sich alle Sir Arthur zu Ehren und aus Achtung vor seiner Witwe erheben; doch es gibt keine Anweisung, und so bleiben alle sitzen. Lady Conan Doyle trägt keine Trauerkleidung, sondern Grau; ihre beiden hochgewachsenen Söhne, Denis und Adrian, sind in Frack und Zylinder; dann folgt ihre Schwester Jean und die Halbschwester Mary, das überlebende Kind aus Sir Arthurs erster Ehe. Lady Conan Doyle nimmt links von dem leeren Stuhl Platz. Ein Sohn setzt sich neben sie, der andere auf die andere Seite der Papptafel; die beiden jungen Männer stellen ihre Zylinderhüte etwas verlegen auf dem Fußboden ab. George kann ihre Gesichter nur ganz undeutlich sehen und will schon nach seinem Fernglas greifen, doch dann kommen ihm Zweifel, ob das schicklich wäre. Stattdessen schaut er nach unten auf seine Uhr. Es ist genau sieben Uhr. Diese Pünktlichkeit beeindruckt ihn; aus irgendeinem Grund hatte er gedacht, Spiritualisten nähmen es mit der Zeit nicht so genau.

Mr George Craze von der Marylebone Spiritualist Association stellt sich als Versammlungsleiter vor. Zu Beginn verliest er eine Erklärung im Auftrag von Lady Conan Doyle:

Bei jeder Versammlung auf der ganzen Welt saß ich an der Seite meines geliebten Gatten, und bei dieser großen Versammlung, zu der die Menschen zu seinen Ehren mit Achtung und Liebe im Herzen gekommen sind, steht sein Stuhl neben mir, und ich weiß, mein Mann wird mir als Geistwesen nahe sein. Auch wenn unsere irdischen Augen nicht über die weltliche Sphäre hinaussehen können, werden diejenigen, denen Gott diese besondere Fähigkeit verliehen hat, die man Hellsichtigkeit nennt, die uns liebe und teure Gestalt in unserer Mitte erkennen.

Ich möchte Ihnen allen im Namen meiner Kinder und in meinem eigenen Namen und im Namen meines geliebten Mannes von Herzen danken, dass die Liebe zu ihm Sie heute Abend hierhergeführt hat.

Ein Murmeln geht durch den Saal; George kann nicht unterscheiden, ob es Anteilnahme für die Witwe ausdrückt oder Enttäuschung darüber, dass Sir Arthur nicht auf wundersame Weise vor ihnen auf der Bühne erscheint. Mr Craze bekräftigt, es könne entgegen einigen eher törichten Spekulationen in der Presse keine Rede davon sein, dass Sir Arthur sich ihnen wie durch einen Zaubertrick leibhaftig zeige. Für diejenigen, die mit den Wahrheiten des Spiritualismus nicht vertraut sind, insbesondere für die anwesenden Journalisten, erläutert er, der Geist mache nach dem Übergang eines Menschen oft eine Zeit der Verwirrung durch, sodass er nicht umgehend in Erscheinung treten könne. Sir Arthur sei jedoch gut auf seinen Übergang vorbereitet gewesen und habe ihm mit lächelnder Ruhe entgegengesehen; er habe von seiner Familie Abschied genommen wie jemand, der zu einer langen Reise aufbreche, aber gewiss sei, bald wieder mit ihnen allen vereint zu sein. Unter diesen Umständen sei zu erwarten, dass der Geist schneller seinen Platz finde und zu Kräften komme als die meisten anderen.

George erinnert sich an das, was Sir Arthurs Sohn Adrian dem Daily Herald gesagt hat. Die Familie, erklärte er, werde die Schritte des Patriarchen und seine leibhaftige Gegenwart vermissen, aber das sei auch alles: »Ansonsten könnte er auch in Australien sein.« George weiß, dass sein Fürsprecher einst jenen fernen Kontinent besucht hat, da er sich vor einigen Jahren The Wanderings of a Spiritualist in der Bibliothek ausgeliehen hat. In Wirklichkeit fand er die Reiseberichte darin interessanter als die theologischen Abhandlungen. Sir Arthur hatte in Australien zusammen mit seiner Familie – und dem nimmermüden Mr Wood – die neuen Ideen verbreitet, und man hatte sie dort, wie George jetzt wieder einfällt, die Pilgersleute genannt. Nun ist Sir Arthur wieder dort, oder zumindest in einem spiritualistischen Äquivalent dazu, was immer das sein mochte.

Ein Telegramm von Sir Oliver Lodge wird verlesen. »Unser großherziger Mitstreiter wird seine Kampagne im Jenseits mit größerer Weisheit und vermehrtem Wissen weiter fortsetzen. Sursum corda.« Dann trägt Mrs St Clair Stobart eine Stelle aus den Briefen an die Korinther vor und erklärt, die Worte des heiligen Paulus seien dem Anlass angemessen, da Sir Arthur im Laufe seines Lebens häufig als der heilige Paulus des Spiritualismus bezeichnet worden sei. Miss Gladys Ripley singt Liddles Solo »Abide With Me«. Der Reverend G. Vale Owen spricht über Sir Arthurs literarisches Schaffen und schließt sich dessen Meinung an, dass The White Company und die Fortsetzung Sir Nigel seine besten Werke seien; ja, seiner Ansicht nach könne die Darstellung eines christlichen Ritters und Mannes von tiefer Frömmigkeit in dem zuletzt genannten Werk als das genaue Ebenbild von Sir Arthur gelten. Der Reverend C. Drayton, der in Crowborough die Hälfte des Trauergottesdienstes übernommen hatte, rühmt Sir Arthurs unermüdlichen Einsatz für den Spiritualismus.

Dann erheben sich alle zu dem Choral, den die Bewegung besonders liebt: »Lead, Kindly Light«. George kommt der Gesang irgendwie anders vor, obwohl er das zunächst nicht genauer benennen kann. »Keep thou my feet; I do not ask to see / The distant scene; one step enough for me.« Für eine Weile lässt er sich von den Worten ablenken, die ihm nicht recht zum Spiritualismus zu passen scheinen: Soweit er es verstanden hat, haben dessen Anhänger den fernen Schauplatz ständig im Blick, und die dorthin führenden Schritte sind genau festgelegt. Dann wendet er seine Aufmerksamkeit von dem Was dem Wie zu. Der Gesang ist in der Tat anders. In der Kirche singt man Choräle so, als mache man sich wieder mit seit Monaten und Jahren bekannten Worten vertraut – Worten, die so unzweifelhafte Wahrheiten enthalten, dass sie weder eines Beweises noch des Nachdenkens bedürfen. Hier klingt alles ganz frisch und unmittelbar; es liegt auch eine an leidenschaftliche Erregung grenzende Fröhlichkeit in den Stimmen, die ein Pfarrer wohl beunruhigend fände. Jedes Wort wird so artikuliert, als enthielte es eine völlig neue Wahrheit, die es zu feiern und unbedingt anderen mitzuteilen gilt. George kommt das alles höchst unenglisch vor. Vorsichtig meint er, es sei recht bewundernswert. »’till / The night is gone, / And with the morn those angel faces smile, / Which I have loved long since, and lost awhile.«

Als das Lied zu Ende ist und alle wieder ihre Plätze einnehmen, bedenkt George seine Nachbarin mit einem kurzen, unbestimmten Gruß – eine ausgesprochen zurückhaltende Geste und doch etwas, das er in einer Kirche nie getan hätte. Die Nachbarin antwortet mit einem Lächeln, das sich über das gesamte Gesicht zieht. Es ist nicht aufdringlich und ganz und gar nicht missionarisch. Es wirkt auch nicht selbstgefällig. Ihr Lächeln besagt lediglich: Ja, das ist gewiss, das ist wahr, das ist eine Freude.

George ist beeindruckt, aber auch leicht schockiert: Freude ist ihm verdächtig. Er hat in seinem Leben wenig davon erfahren. In seiner Kindheit gab es den Begriff Vergnügen, der meist mit den Wörtern Schuld, verstohlen und verboten einherging. Die einzigen statthaften Vergnügungen waren die, die durch das Wörtchen schlicht bestimmt wurden. Und Freude war etwas, das mit der Vorstellung von trompetenblasenden Engeln verbunden war, und der rechte Ort dafür war im Himmel und nicht auf Erden. Wahre Freude kennt keine Grenzen – so sagte man doch, nicht wahr? Georges Erfahrung nach kennt Freude aber stets enge Grenzen. Und was das Vergnügen angeht, so hat er das Vergnügen erlebt, seine Pflicht zu erfüllen – der Familie, den Mandanten und manchmal auch Gott gegenüber. Doch das meiste, was seinen Landsleuten Vergnügen bereitet, hat er nie getan: Biertrinken, Tanzen, Fußball und Cricket spielen; von anderem, das mit einer Ehe hätte kommen können, ganz zu schweigen. Er wird nie eine Frau kennen, die aufspringt wie ein junges Mädchen, ihr Haar richtet und ihm entgegenläuft.

Mr E. W. Oaten, der einst voller Stolz die erste große Versammlung leitete, vor der Sir Arthur über den Spiritualismus sprach, sagt, kein Mensch habe besser alle Tugenden in sich vereint, die wir mit dem britischen Wesen verbinden: Mut, Optimismus, Treue, Mitgefühl, Großmut, Wahrheitsliebe und Hingabe an Gott. Danach erinnert Mr Hannen Swaffer daran, wie Sir Arthur sich vor nicht einmal zwei Wochen, obwohl bereits todkrank, die Treppe zum Innenministerium hinaufschleppte, um sich für die Aufhebung des Gesetzes über den Hexenzauber einzusetzen, mit dem Menschen bösen Willens gegen Medien vorgehen wollten. Dies sei seine letzte Pflicht gewesen, und in seiner Pflichttreue sei er nie wankend geworden. Das habe sich in jedem Bereich seines Lebens gezeigt. Der Schriftsteller Doyle, der Dramatiker Doyle, der Boxer Doyle, der Cricketspieler Doyle, der einst selbst den großen W. G. Grace geschlagen hatte, der weitgereiste Doyle – sie waren vielen bekannt. Doch größer als sie alle war der Doyle, der für die Gerechtigkeit kämpfte, wenn Unschuldige leiden mussten. Dank seines Einflusses war das Gesetz über die Revision in Strafsachen verabschiedet worden. Dieser Doyle hatte sich mit so triumphalem Erfolg für Edalji und Slater eingesetzt.

Bei der Nennung seines Namens schaut George instinktiv zu Boden, blickt dann stolz wieder auf, dann verstohlen zur Seite. Es ist schade, dass man ihn wieder einmal mit diesem gemeinen und undankbaren Verbrecher in Verbindung gebracht hat; doch er darf sich wohl redlich freuen, dass sein Name bei diesem großen Anlass genannt wurde. Maud wird sich auch freuen. Er schaut seine Nachbarn jetzt freimütiger an, doch er hat seinen Moment verpasst. Sie haben nur Augen für Mr Swaffer, der nun wieder einen anderen Doyle feiert, und der ist noch größer als Doyle, der siegreiche Streiter für Gerechtigkeit. Dieser größte aller Doyles war und ist der Mann, der den Frauen des Landes in den verzweifelten Stunden des Krieges den tröstlichen Beweis erbrachte, dass ihre Lieben nicht tot waren.

Nun sollen sie sich erheben, um zwei Minuten lang schweigend ihres großen Mitstreiters zu gedenken. Lady Conan Doyle wirft beim Aufstehen einen raschen Blick auf den leeren Stuhl neben ihr, dann steht sie zwischen ihren hochgewachsenen Söhnen und schaut in den Saal. Sechstausend – achttausend? zehntausend? – Menschen schauen zurück, von der Galerie, vom zweiten Rang, aus den verschiedenen Logen, aus dem großen Rund des Parketts und aus der Arena. In der Kirche würden die Menschen jetzt den Kopf senken und die Augen schließen, um des Verstorbenen zu gedenken. So zurückhaltend und nach innen gewandt geht es hier nicht zu: Mit offenem Blick wird aufrichtige Anteilnahme ausgedrückt. Auch das Schweigen scheint George anders zu sein als jedes, das er bisher erlebt hat. Ein feierliches Schweigen ist respektvoll, gewichtig, manchmal auch absichtlich traurig stimmend; dieses Schweigen hier ist aktiv, erwartungsvoll und sogar leidenschaftlich erregt. Wenn Schweigen so etwas wie unterdrückter Lärm sein kann, dann ist dies so ein Schweigen. Als es vorbei ist, wird George bewusst, dass es eine derart sonderbare Macht über ihn hatte, dass er Sir Arthur fast vergessen hat.

Nun tritt Mr Craze wieder ans Mikrophon. »Heute Abend«, verkündet er, während die tausendköpfige Menge wieder Platz nimmt, »führen wir mit dem Mut, mit dem unser verstorbener Führer uns erfüllt hat, ein kühnes Experiment durch. Wir haben eine Sensitive unter uns, die versuchen wird, uns auf dieser Bühne ihre Eindrücke zu vermitteln. Wir tun das gemeinhin nicht gern in einer so riesigen Versammlung, weil es das Medium unter einen ungeheuren Druck setzt. In einem Saal mit zehntausend Menschen wirkt eine enorme Kraft von allen Seiten auf das Medium ein. Mrs Roberts wird heute Abend versuchen, einige besondere Freunde zu beschreiben, doch es ist der erste Versuch dieser Art in einer so riesengroßen Versammlung. Sie können sie mit Ihren Schwingungen unterstützen, wenn Sie das nächste Lied singen: ›Open My Eyes That I May See Glimpses of Truth‹.«

George hat noch nie an einer Séance teilgenommen. Er hat auch noch nie einer Zigeunerin eine Silbermünze in die Hand gedrückt oder Twopence bezahlt, um sich auf einem Jahrmarkt vor eine Kristallkugel setzen zu dürfen. In seinen Augen ist das alles Hokuspokus. Nur Dummköpfe oder primitive Völkerstämme würden glauben, dass sich aus Handlinien oder Teeblättern in einer Tasse irgendetwas ablesen lässt. Er will Sir Arthurs Überzeugung, dass der Geist über den Tod hinaus weiterlebt, gern respektieren; vielleicht auch, dass dieser Geist unter gewissen Umständen mit den Lebenden kommunizieren kann. Er räumt auch ein, dass an den telepathischen Experimenten, die Sir Arthur in seiner Autobiographie beschreibt, etwas dran sein könnte. Aber alles hat seine Grenzen. Zum Beispiel da, wo jemand Möbelstücke herumhüpfen lässt, wo geheimnisvolle Glocken läuten und fluoreszierende Gesichter von Toten aus der Dunkelheit auftauchen, wo Geisterhände sich angeblich in weichem Wachs abdrücken. Das alles sind für George allzu offensichtliche Zaubertricks. Es muss doch misstrauisch machen, wenn die besten Bedingungen für eine Geistkommunikation – geschlossene Vorhänge, gelöschte Lichter, Menschen, die sich an den Händen fassen, sodass sie nicht aufstehen und nachprüfen können, was da eigentlich vor sich geht – auch genau die Bedingungen sind, unter denen Scharlatanerie am besten floriert. Zu seinem Bedauern muss er Sir Arthur für leichtgläubig halten. Er hat gelesen, dass der amerikanische Illusionist Mr Harry Houdini, den Sir Arthur in den Vereinigten Staaten persönlich kennengelernt hat, sich erbot, alles nachzumachen, was ein professionelles Medium bewirken kann. Bei zahlreichen Auftritten hatte er sich von rechtschaffenen Männern fesseln lassen, doch sobald die Lichter gelöscht waren, konnte er sich stets genügend befreien, um Glocken zu läuten, Geräusche zu machen, die Möbelstücke herumzuschieben und sogar Ektoplasma zu erzeugen. Sir Arthur ging nicht auf Mr Houdinis Angebot ein. Er wollte nicht bestreiten, dass der Illusionist solche Effekte herbeiführen konnte, erklärte diese Fähigkeit aber lieber auf seine Weise: Mr Houdini verfüge in der Tat über die spirituellen Kräfte, deren Existenz er so eigensinnig bestreite.

Nachdem ›Open My Eyes‹ verklungen ist, tritt eine schlanke Frau mit kurzem, dunklem Haar in einem wallenden schwarzen Satingewand ans Mikrophon. Das ist Mrs Estelle Roberts, Sir Arthurs liebstes Medium. Die Atmosphäre im Saal ist jetzt noch gespannter als während der zwei Schweigeminuten. Mrs Roberts wiegt sich im Stehen leicht hin und her, sie hat die Hände gefaltet und den Kopf gesenkt. Alle Augen sind auf sie gerichtet. Langsam, ganz langsam hebt sie den Kopf; dann öffnen sich ihre Hände und die Arme breiten sich aus, während das sanfte Schwanken anhält. Endlich beginnt sie zu sprechen.

»Es sind unzählige Geister hier unter uns«, beginnt sie. »Sie bedrängen mich mit aller Macht.«

So scheint es tatsächlich zu sein: Offenbar hält sie sich trotz starken Drucks aus verschiedenen Richtungen aufrecht.

Eine Weile geschieht nichts, nur Schwanken und unsichtbare Knüffe und Püffe. Die Frau an Georges rechter Seite flüstert: »Sie wartet darauf, dass Red Cloud sich zeigt.«

George nickt.

»Das ist ihr geistiger Führer«, sagt die Nachbarin weiter.

George weiß nicht, was er dazu sagen soll. Dies ist ganz und gar nicht seine Welt.

»Viele geistige Führer sind Indianer.« Die Frau verstummt kurz, dann lächelt sie und fügt nicht im Geringsten verlegen hinzu: »Ich meine Indianer, nicht Inder.«

Das Warten ist ebenso aktiv wie vorher das Schweigen; es ist, als bedrängten die Menschen im Saal die schlanke Gestalt von Mrs Roberts ebenso wie die unsichtbaren Geister. Das Warten wird intensiver, und die schwankende Gestalt stellt die Füße weiter auseinander, als wollte sie so das Gleichgewicht halten.

»Sie schieben und drücken, viele sind unglücklich, der Saal, die Lichter, die Welt, die ihnen lieber ist – ein junger Mann, das dunkle Haar zurückgekämmt, in Uniform, mit Sam-Browne-Gürtel, er hat eine Botschaft – eine Frau, eine Mutter, drei Kinder, eins davon ist hinübergegangen und ist nun bei ihr – ein älterer Herr, Glatze, er war Arzt hier in der Nähe, dunkelgrauer Anzug, ist nach einem schrecklichen Unfall plötzlich hinübergegangen – ein Baby, ja, ein kleines Mädchen, von der Grippe hinweggerafft, sie vermisst ihre zwei Brüder, einer von ihnen heißt Bob, und ihre Eltern – Halt! Halt!«, – ruft Mrs Roberts plötzlich aus und scheint mit ihren ausgebreiteten Armen die von hinten herandrängenden Geister zurückzuschieben – »Es sind zu viele, ihre Stimmen verwirren sich, ein Mann mittleren Alters in einem dunklen Mantel, der einen Großteil seines Lebens in Afrika verbracht hat – er hat eine Botschaft – da ist eine weißhaarige Großmutter, die eure Ängste teilt und euch sagen will …«

George hört sich die flüchtige Beschreibung der Geister an. Er hat den Eindruck, dass alle lautstark nach Aufmerksamkeit verlangen und darum kämpfen, ihre Botschaften zu überbringen. Ihm kommt eine scherzhafte, aber logische Frage in den Sinn, woher, weiß er nicht, es sei denn als Reaktion auf all diese ungewohnte Intensität. Wenn das wirklich die Geister englischer Männer und Frauen nach ihrem Übergang ins Jenseits sind, dann wissen sie doch sicher, wie man sich ordentlich in einer Schlange anstellt? Wenn sie in eine höhere Seinsweise erhoben sind, warum benehmen sie sich dann wie ein zügelloser Pöbelhaufen? Diese Überlegungen wird er wohl nicht mit seinen Nachbarn teilen, die sich jetzt vorgebeugt haben und die Messingstange umklammern.

»… ein Mann in einem zweireihigen Anzug zwischen fünfundzwanzig und dreißig, der eine Botschaft hat – ein Mädchen, nein, Schwestern, die plötzlich hinübergegangen sind – ein älterer Herr, über siebzig, der in Hertfordshire wohnte …«

Die Aufzählung geht weiter, und manchmal löst eine kurze Beschreibung irgendwo einen Aufschrei aus. Die Spannung im Saal ist fieberhaft und überreizt; für George hat sie auch etwas Furchterregendes. Er fragt sich, was das für ein Gefühl sein mag, wenn man in Gegenwart Tausender von einem verstorbenen Angehörigen angesprochen wird. Vielleicht wäre es den meisten lieber, wenn das in der Abgeschiedenheit einer Séance bei Dunkelheit und geschlossenen Vorhängen geschähe. Oder gar nicht.

Mrs Roberts verstummt erneut. Anscheinend sind auch die sich gegenseitig übertönenden Stimmen hinter und neben ihr vorübergehend abgeklungen. Dann wirft das Medium plötzlich den rechten Arm hoch und deutet zu den hinteren Reihen des Parketts auf der Seite, die George gegenüberliegt. »Ja, hier! Ich sehe ihn! Ich sehe das Geistwesen eines jungen Soldaten. Er sucht jemanden. Er sucht einen Herrn, der kaum noch Haare hat.«

Wie alle anderen, die den ganzen Saal im Blick haben, schaut George sich eifrig um, halb in Erwartung eines sichtbaren Geistwesens, halb auf der Suche nach dem Mann, der kaum noch Haare hat. Mrs Roberts legt sich schützend die Hand über die Augen, als behinderten die Scheinwerfer ihre Wahrnehmung des Geistwesens.

»Er scheint ungefähr vierundzwanzig Jahre alt zu sein. In einer Khaki-Uniform. Aufrecht, gut gebaut, kleiner Schnurrbart. Mundwinkel hängen etwas herab. Ist plötzlich hinübergegangen.«

Mrs Roberts hält inne und neigt den Kopf zur Seite, etwa so wie ein Anwalt, wenn ihn der Solicitor neben ihm auf einen Vermerk aufmerksam macht.

»Er gibt 1916 als das Jahr seines Übergangs an. Er nennt dich deutlich ›Onkel‹, ja, ›Onkel Fred‹.«

Hinten im Parkett steht ein glatzköpfiger Mann auf, nickt und setzt sich ebenso unvermittelt wieder hin, als wisse er nicht recht, welche Regeln hier gelten.

»Er spricht von einem Bruder Charles«, fährt das Medium fort. »Ist das richtig? Er will wissen, ob Tante Lillian bei dir ist. Verstehst du?«

Diesmal bleibt der Mann sitzen und nickt heftig.

»Er sagt, es ist gerade etwas gefeiert worden, der Geburtstag eines Bruders. Es herrscht Angst im Haus. Dafür gibt es keinen Grund. Die Botschaft geht weiter …«, und da wankt Mrs Roberts auf einmal nach vorn, als hätte sie von hinten einen heftigen Stoß bekommen. Sie dreht sich um und schreit: »Ist ja gut!« Anscheinend schiebt sie etwas zurück. »Ist ja gut!, sag ich.«

Doch als sie sich wieder der Arena zuwendet, ist der Kontakt zu dem Soldaten erkennbar abgerissen. Das Medium bedeckt das Gesicht mit den Händen, die Finger sind gegen die Stirn gepresst, die Daumen unter den Ohren, als wollte sie das nötige Gleichgewicht wieder finden. Schließlich nimmt sie die Hände fort und breitet die Arme aus.

Diesmal ist es der Geist einer Frau zwischen fünfundzwanzig und dreißig, deren Name mit J anfängt. Sie wurde während der Geburt eines kleinen Mädchens erhoben, das zur selben Zeit hinüberging. Mrs Roberts mustert die vorderen Reihen der Arena, ihr Blick folgt einer Mutter mit dem Geistwesen eines Säuglings auf dem Arm, die ihren zurückgelassenen Ehemann sucht. »Ja, sie sagt, sie heißt June – und sie sucht nach – R, ja, R – heißt er Richard?« Daraufhin springt ein Mann von seinem Platz auf und ruft: »Wo ist sie? Wo bist du, June? June, sprich mit mir. Zeig mir unser Kind!« Er ist ganz außer sich und schaut sich nach allen Seiten um, bis ihn ein älteres Ehepaar mit verlegener Miene wieder auf seinen Platz zieht.

Mrs Roberts hat sich anscheinend voll und ganz auf die Geiststimme konzentriert und sagt, als hätte es die Unterbrechung gar nicht gegeben: »Die Botschaft lautet, sie und das Kind wachen über dich und stehen dir bei deinen derzeitigen Problemen bei. Sie warten im Jenseits auf dich. Sie sind glücklich und wollen, dass auch du glücklich bist, bis ihr alle wieder vereint seid.«

Wie es scheint, benehmen sich die Geister jetzt gesitteter. Es werden Personen bezeichnet und Botschaften überbracht. Ein Mann sucht seine Tochter. Sie interessiert sich für Musik. Er hält eine aufgeschlagene Partitur in der Hand. Initialen werden genannt, dann Namen. Mrs Roberts überbringt die Botschaft: Der Geist eines großen Musikers hilft der Tochter des Mannes; wenn sie weiterhin fleißig ist, wird der Einfluss des Geistes fortwirken.

Allmählich zeichnet sich für George ein Schema ab. Die übermittelten Botschaften, sei es des Trostes oder der Unterstüzung oder des einen wie des anderen, sind sehr allgemein gehalten. Dasselbe gilt für die meisten Erkennungsmerkmale, zumindest am Anfang. Dann aber kommt ein entscheidendes Detail, nach dem das Medium oft lange suchen muss. George kommt es höchst unwahrscheinlich vor, dass diese Geister, wenn es sie denn gibt, so erstaunlich unfähig sein sollen, ihre Identität ohne viel Rätselraten von Mrs Roberts preiszugeben. Sind die angeblichen Übermittlungsprobleme zwischen den beiden Welten nichts als eine Masche, um die Dramatik – ja, Melodramatik – zu steigern, bis sie ihren Höhepunkt erreicht und endlich jemand im Publikum nickt oder den Arm hebt oder wie auf Kommando aufsteht oder freudig und ungläubig die Hände vors Gesicht schlägt?

Es könnte nur ein raffiniertes Ratespiel sein: Sicher gibt es eine statistische Wahrscheinlichkeit, dass sich in einem Publikum dieser Größe eine Person mit dem richtigen Anfangsbuchstaben und dann dem richtigen Namen befindet, und ein Medium kann sich durch geschickte Wortwahl zu diesem Kandidaten führen lassen. Es könnte auch alles nur Schwindel sein; vielleicht sitzen Komplizen im Publikum, die leichtgläubige Naturen beeindrucken und womöglich bekehren sollen. Und dann gibt es noch eine dritte Möglichkeit: Wenn jemand aus dem Publikum nickt und den Arm hebt und aufsteht und einen Schrei ausstößt, ist er ehrlich überrascht und glaubt wirklich, dass ein Kontakt hergestellt wurde; doch das liegt daran, dass jemand aus ihrem Kreis – vielleicht ein glühender Spiritualist, der den Glauben unbedingt verbreiten will, egal mit welchen zynischen Mitteln – den Veranstaltern persönliche Einzelheiten verraten hat. Ja, denkt George, so wird es wohl sein. Eine raffinierte Mischung aus Wahrheit und Lüge wirkt am besten, genau wie bei einem Meineid.

»Und jetzt habe ich eine Botschaft von einem Herrn, einem sehr korrekten und vornehmen Herrn, der vor zehn Jahren, zwölf Jahren hinüberging. Ja, ich habe es, er ging 1918 hinüber, wie er mir sagt.« Das Jahr, in dem Vater starb, denkt George. »Er war etwa fünfundsiebzig Jahre alt.« Seltsam, Vater war sechsundsiebzig. Eine längere Pause, und dann: »Er war ein geistlicher Herr.« George spürt plötzlich ein Kribbeln auf der Haut, das die Arme hinaufläuft bis zum Hals. Nein, nein, das kann nicht sein. Ihm ist, als wäre er auf seinem Platz festgefroren; seine Schultern sind wie gelähmt; er sieht starr zur Bühne und wartet, was das Medium als Nächstes tun wird.

Mrs Roberts hebt den Kopf und schaut in die oberen Bereiche des Saals, zwischen die höheren Logen und die Galerie. »Er sagt, er habe seine ersten Lebensjahre in Indien verbracht.«

George ist inzwischen schreckensbleich. Außer Maud wusste niemand, dass er hierherkommen würde. Vielleicht hat sich jemand gedacht, es seien wahrscheinlich verschiedene Leute hier, die mit Sir Arthur zu tun hatten, und hat einfach drauflosgeraten – oder vielmehr genau richtig geraten. Aber nein – schließlich haben viele der berühmtesten und angesehensten Freunde nur ein Telegramm geschickt, wie Sir Oliver Lodge. Hat ihn womöglich jemand erkannt, als er hereinkam? Das könnte gerade noch möglich sein – doch wie hat derjenige dann das genaue Todesjahr seines Vaters herausgefunden?

Mrs Roberts hat jetzt den Arm ausgestreckt und deutet zur oberen Logenreihe auf der anderen Seite des Saals hin. George kribbelt es am ganzen Körper, als hätte man ihn nackt in die Nesseln geworfen. Er denkt: Das ertrage ich nicht; gleich wird es mich treffen, und ich kann nicht entfliehen. Blick und Arm machen langsam die Runde durch das große Amphitheater, immer auf derselben Höhe, als beobachteten sie ein Geistwesen, das sich suchend von Loge zu Loge bewegt. Alle rationalen Überlegungen, die George eben noch angestellt hat, sind nun nichts mehr wert. Gleich wird sein Vater zu ihm sprechen. Sein Vater, der sein Leben lang als Pfarrer in der Kirche von England gewirkt hat, wird gleich durch den Mund dieser … unglaublichen Frau zu ihm sprechen. Was kann er nur wollen? Welche Botschaft kann so dringlich sein? Geht es um Maud? Ist es eine väterliche Rüge für den nachlassenden Glauben des Sohnes? Wird jetzt ein furchtbares Urteil über ihn gefällt? Der Panik nahe wünscht George, seine Mutter wäre bei ihm. Doch die Mutter ist seit sechs Jahren tot.

Während sich der Kopf des Mediums langsam weiterbewegt, während ihr Arm noch immer auf dieselbe Höhe zeigt, hat George mehr Angst als an dem Tag, als er in seiner Kanzlei saß und wusste, dass es bald klopfen und ein Polizist ihn wegen eines Verbrechens festnehmen würde, das er nie begangen hatte. Jetzt steht er wieder unter Verdacht und wird gleich vor zehntausend Zeugen bloßgestellt werden. Vielleicht sollte er einfach aufstehen und der Spannung ein Ende setzen, indem er ruft: »Das ist mein Vater!« Vielleicht fällt er dann in Ohnmacht und stürzt über den Balkon in die unteren Logen. Vielleicht bekommt er einen Anfall.

»Sein Name … er sagt mir seinen Namen … Er beginnt mit einem S …«

Und immer noch bewegt sich der Kopf, bewegt sich und sucht dieses eine Gesicht in den oberen Logen, sucht den triumphalen Moment der Bestätigung. George ist überzeugt, dass alle ihn anstarren – und bald wissen sie genau, wer er ist. Doch jetzt fürchtet sich George, erkannt zu werden, was er sich vorhin noch gewünscht hatte. Er möchte sich im tiefsten Kerker, in der widerlichsten Gefängniszelle verkriechen. Er denkt, das kann nicht wahr sein, das kann unmöglich wahr sein, so etwas würde mein Vater nie tun, vielleicht beschmutze ich mich gleich wie damals als kleiner Junge auf dem Heimweg von der Schule, vielleicht kommt er deswegen, um mir vor Augen zu führen, dass ich ein Kind bin, um mir zu zeigen, dass seine Autorität selbst nach seinem Tode weiterbesteht, ja, das sähe ihm durchaus ähnlich.

»Ich habe den Namen …« George meint, gleich schreit er. Gleich fällt er in Ohnmacht. Er wird stürzen und mit dem Kopf aufschlagen und … »Er heißt Stuart.«

Und da steht ein Mann etwa in Georges Alter wenige Meter links von ihm auf und macht ein Zeichen zur Bühne hin, um diesen in Indien aufgewachsenen und 1918 hinübergegangenen Fünfundsiebzigjährigen für sich zu reklamieren, fast so, wie man sich einen Preis abholt. George meint den Schatten des Todesengels auf sich zu spüren; ihm ist kalt bis auf die Knochen; er ist schweißgebadet, erschöpft, verschreckt, unendlich erleichtert und tief beschämt. Und zugleich ist er im tiefsten Innern auch beeindruckt, neugierig, voll furchtsamer Fragen …

»Und hier ist eine Dame, sie war zwischen fünfundvierzig und fünfzig Jahren alt. Sie ist 1913 hinübergegangen. Sie spricht von Morpeth. Sie hat nie geheiratet, aber sie hat eine Botschaft für einen Herrn.« Mrs Roberts schaut nach unten, in die Arena. »Sie sagt etwas von einem Pferd.«

Eine Pause tritt ein. Mrs Roberts lässt wieder den Kopf sinken, dreht ihn zur Seite, holt sich Rat. »Jetzt habe ich ihren Namen. Sie heißt Emily. Ja, sie gibt ihren Namen als Emily Wilding Davison an. Sie hat eine Botschaft, sie ist eigens gekommen, um einem Herrn eine Botschaft zu übermitteln. Ich glaube, sie hat ihm durch die Planchette oder das Ouijabrett mitgeteilt, dass sie hier sein wird.«

Nicht weit von der Bühne steht ein Mann mit offenem Hemdkragen auf und sagt mit weittragender Stimme, als wüsste er, dass er zu einem ganzen Saal spricht: »Das stimmt. Sie hat mir gesagt, dass sie heute Abend kommunizieren wird. Emily ist die Suffragette, die sich vor das Pferd des Königs geworfen hat und an ihren Verletzungen gestorben ist. Als Geistwesen ist sie mir gut bekannt.«

Der ganze Saal scheint den Atem anzuhalten. Mrs Roberts übermittelt die Botschaft, doch George hört gar nicht mehr hin. Auf einmal ist er wieder bei klarem Verstand; der reine, frische Wind der Vernunft zieht wieder durch sein Hirn. Hokuspokus, wie er schon immer vermutet hat. Emily Davison, so ein Blödsinn. Emily Davison, die Fensterscheiben eingeschlagen, Steine geworfen, Briefkästen angezündet hat; die sich den Gefängnisregeln nicht beugen wollte und infolgedessen mehrmals zwangsernährt wurde. In Georges Augen eine alberne, hysterische Frau, die absichtlich den Tod suchte, um ihr Anliegen voranzutreiben; auch wenn manche sagen, sie habe dem Pferd nur eine Fahne anstecken wollen und die Geschwindigkeit des Tiers falsch eingeschätzt. Dann wäre sie nicht nur hysterisch, sondern auch noch dumm gewesen. Man kann nicht die Gesetze brechen, um die Gesetze zu verbessern, das ist Unsinn. Das macht man mit Petitionen, mit Argumenten, wenn nötig mit Demonstrationen, aber immer mit Vernunft. Wer Gesetze bricht und meint, das sei ein Argument, um das Wahlrecht zu bekommen, beweist damit nur, dass er nicht geeignet ist, dieses Wahlrecht zu bekommen.

Aber hier ist es nicht wesentlich, ob Emily Davison nun eine alberne, hysterische Frau war oder ob ihre Aktion zur Folge hatte, dass Maud jetzt das Wahlrecht hat, womit George vollkommen einverstanden ist. Nein, wesentlich ist, dass Sir Arthur als Gegner des Frauenwahlrechts bekannt war und es daher völlig abwegig wäre, wenn so ein Geist an seiner Gedenkfeier teilnähme. Es sei denn, die Geister der Verstorbenen wären ebenso unlogisch wie ungebärdig. Vielleicht wollte Emily Davison diese Versammlung stören, so wie sie einst das Derby-Rennen gestört hatte. Doch dann sollte sich ihre Botschaft eher an Sir Arthur oder seine Witwe richten als an einen gleich gesinnten Freund.

Halt, ermahnt sich George. Hör auf, vernünftig über solche Fragen nachzudenken. Oder vielmehr, hör auf, diese Leute in Schutz nehmen zu wollen. Ein geschickter Fehlalarm hat dir einen unangenehmen Schock versetzt, aber das ist kein Grund, jetzt außer den Nerven auch noch den Verstand zu verlieren. Er denkt auch: Aber wenn ich solche Angst hatte, wenn ich in Panik geraten bin, wenn ich glaubte sterben zu müssen, dann kann man sich vorstellen, wie so etwas auf ein schwächeres Gemüt und einen geringeren Verstand wirken kann. George fragt sich, ob das Gesetz über den Hexenzauber – das er zugegebenermaßen nicht kennt – nicht doch in Kraft bleiben sollte.

Mrs Roberts hat nun etwa eine halbe Stunde lang Botschaften überbracht. George sieht, wie manche Leute in der Arena aufstehen. Aber sie wetteifern nicht um verlorene Angehörige und erheben sich auch nicht in Scharen, um die Geistwesen ihrer Lieben zu grüßen. Die Leute gehen. Vielleicht hat das Erscheinen von Emily Wilding Davison auch ihnen den Rest gegeben. Vielleicht sind sie als Bewunderer von Sir Arthurs Leben und Werk gekommen, wollen aber nichts weiter mit diesem öffentlichen Zaubertrick zu tun haben. Dreißig, vierzig, fünfzig Menschen sind aufgestanden und streben entschlossen den Ausgängen zu.

»Ich kann nicht weitermachen, wenn so viele gehen«, verkündet Mrs Roberts. Sie klingt beleidigt, aber auch recht erschöpft. Sie tritt ein paar Schritte zurück. Irgendwo gibt jemand ein Zeichen, und plötzlich erschallt ein durchdringender Pfeifton aus der riesigen Orgel hinter der Bühne. Soll das den Lärm der gehenden Skeptiker übertönen oder anzeigen, dass die Versammlung sich ihrem Ende nähert? George schaut die Frau zu seiner Rechten fragend an. Sie runzelt die Stirn, gekränkt über die ungehörige Unterbrechung des Mediums. Mrs Roberts selbst lässt den Kopf hängen und hat die Arme um sich geschlungen, um sich gegen alle Störungen der fragilen Kommunikationswege abzuschotten, die sie zur Geisterwelt eröffnet hat.

Und dann geschieht etwas, das George ganz und gar nicht erwartet hätte. Die Orgel hält mitten im Choral plötzlich inne, Mrs Roberts breitet die Arme aus, hebt den Kopf, tritt mit sicherem Schritt nach vorne ans Mikrophon und ruft mit schallender, leidenschaftlich bewegter Stimme:

»Er ist hier!« Und dann noch einmal: »Er ist hier!«

Die Hinausgehenden bleiben stehen; einige kehren zu ihren Plätzen zurück. Doch sie sind jetzt ohnehin vergessen. Alles schaut angestrengt zur Bühne, auf Mrs Roberts, auf den leeren Stuhl mit dem Schild. Vielleicht sollte das Orgelbrausen Aufmerksamkeit wecken, vielleicht war es der Auftakt zu ebendiesem Moment. Der ganze Saal ist verstummt, schaut, wartet.

»Ich habe ihn«, sagt sie, »zuerst während der zwei Schweigeminuten gesehen.«

»Er war hier, erst stand er hinter mir, aber getrennt von den anderen Geistwesen.«

»Dann habe ich gesehen, wie er über die Bühne zu seinem leeren Stuhl ging.«

»Ich habe ihn deutlich gesehen. Er trug einen Frack.«

»Er sah genauso aus wie immer in den letzten Jahren.«

»Es gibt keinen Zweifel. Er war sehr gut auf seinen Übergang vorbereitet.«

In den Pausen zwischen ihren kurzen, dramatischen Verlautbarungen betrachtet George Sir Arthurs Familie auf der Bühne. Mit einer Ausnahme schauen alle zu Mrs Roberts, wie gebannt von dem, was sie verkündet. Nur Lady Conan Doyle hat sich ihr nicht zugewandt. George kann ihren Gesichtsausdruck aus der Entfernung nicht erkennen, doch ihre Hände sind im Schoß gefaltet, die Schultern gestrafft, sie sitzt aufrecht da; mit stolz erhobenem Kopf schaut sie über das Publikum hinweg in weite Ferne.

»Er ist ein großer Streiter für unsere Sache, hier wie im Jenseits.«

»Er kann schon recht gut in Erscheinung treten. Er ging friedlich hinüber und war gut darauf vorbereitet. Der Übergang verlief ohne Schmerzen und ohne Verwirrung des Geistes. Er ist bereits in der Lage, dort drüben mit seiner Arbeit für uns zu beginnen.«

»Als ich ihn das erste Mal sah, während der Schweigeminuten, war es wie eine blitzartige Erscheinung.«

»Beim Überbringen der Botschaften sah ich ihn zum ersten Mal klar und deutlich.«

»Er kam und blieb hinter mir stehen und sprach mir Mut zu, während ich meine Arbeit tat.«

»Ich erkannte seine schöne, klare Stimme wieder, die unverwechselbar ist. Er benahm sich wie immer als Gentleman.«

»Er ist ständig bei uns, und die Schranke zwischen den beiden Welten ist nur etwas Vorübergehendes.«

»Beim Übergang gibt es nichts zu fürchten, und unser großer Mitstreiter hat es bewiesen, indem er heute Abend hier unter uns erscheint.«

Die Frau auf Georges linker Seite beugt sich über die samtene Armlehne und flüstert: »Er ist hier.«

Inzwischen sind einige aufgesprungen, als wollten sie einen besseren Blick auf die Bühne bekommen. Alles schaut wie gebannt auf den leeren Stuhl, auf Mrs Roberts, auf die Familie Doyle. George wird erneut von einem Gemeinschaftsgefühl erfasst, das größer und mächtiger ist als die Stille. Die Furcht, die ihn bei dem Gedanken befallen hatte, sein Vater könne ihm nachstellen, ist ebenso von ihm gewichen wie die Skepsis beim Erscheinen von Emily Davison. Ohne es zu wollen, wird er von einer Art verhaltener Ehrfurcht ergriffen. Schließlich ist hier von Sir Arthur die Rede, dem Mann, der George bereitwillig mit seinen detektivischen Fähigkeiten zu Hilfe kam, der seinen guten Ruf aufs Spiel setzte, um Georges Ehre zu retten, der alles tat, damit George das Leben wiedergegeben wurde, das ihm geraubt worden war. Sir Arthur, ein Mensch von höchster Integrität und Intelligenz, glaubte an ein Geschehen wie das, was George eben erlebt hat; es wäre ungehörig, wenn George in einem solchen Moment seinen Retter verleugnete.

George glaubt nicht, dass er den Verstand oder den klaren Blick verliert. Er fragt sich: Und wenn das nun diese Mischung aus Wahrheit und Lüge ist, die er vorhin erkannt hat? Wenn einiges an dem Geschehen Scharlatanerie ist, aber anderes echt? Wenn die theatralische Mrs Roberts ohne ihr Zutun tatsächlich Nachrichten aus fernen Gefilden gebracht hat? Wenn Sir Arthur, in welcher Gestalt und an welchem Ort er sich auch befinden mochte, keinen Kontakt zu der materiellen Welt aufnehmen kann, ohne auf Mittelsleute zurückzugreifen, die sich unter anderem auch als Betrüger betätigen? Wäre das nicht eine Erklärung?

»Er ist hier«, wiederholt die Frau zu seiner Linken in normalem Gesprächston.

Dann wird dieser Satz von einem mehrere Plätze entfernt sitzenden Mann aufgegriffen. »Er ist hier.« Drei Worte, in normaler Tonlage gesprochen, sodass sie nur im engsten Umkreis zu hören sein sollten. Doch die Atmosphäre im Saal ist so mit Spannung geladen, dass sie auf magische Weise verstärkt scheinen.

»Er ist hier«, wiederholt jemand oben auf der Galerie.

»Er ist hier«, antwortet eine Frau unten in der Arena.

Und plötzlich brüllt ein Mann im hinteren Teil des Parketts wie ein Erweckungsprediger: »ER IST HIER

George greift instinktiv nach unten und zieht das Fernglas aus dem Etui. Er presst es gegen seine Brille und versucht, es auf die Bühne einzustellen. Daumen und Zeigefinger drehen hektisch immer wieder an der richtigen Einstellung vorbei, bis sie endlich in der Mitte landen. Er betrachtet das ekstatische Medium, den leeren Stuhl und die Familie Doyle. Lady Conan Doyle verharrt seit der ersten Bekanntgabe von Sir Arthurs Anwesenheit in derselben Pose: hoch aufgerichtet, die Schultern gestrafft, den Kopf erhoben, den Blick in die Ferne gerichtet, und auf ihrem Gesicht liegt – wie George jetzt erkennen kann – etwas, das einem Lächeln gleicht. Die goldhaarige, kokette junge Frau, der er einst kurz begegnet war, ist nun eher dunkelhaarig und matronenhaft; er hat sie immer nur an Sir Arthurs Seite gesehen, wo sie, wie sie behauptet, auch jetzt noch ist. Er schwenkt das Fernglas hin und her, richtet es auf den Stuhl, das Medium, die Witwe. Er spürt seinen schnell und scharf gehenden Atem.

Jemand berührt ihn an der rechten Schulter. Er lässt das Fernglas sinken. Die Frau schüttelt den Kopf und sagt leise: »So können Sie ihn nicht sehen.«

Das ist kein Tadel, nur eine Erklärung.

»Sie sehen ihn nur mit den Augen des Glaubens.«

Mit den Augen des Glaubens. Den Augen, die Sir Arthur mitbrachte, als sie sich im Grand Hotel, Charing Cross, trafen. Er hatte an George geglaubt; sollte George jetzt an Sir Arthur glauben? Die Worte seines Fürsprechers: Ich denke nicht, ich glaube nicht, ich weiß. Sir Arthur trug eine beneidenswerte, trostreiche Gewissheit in sich. Er wusste. Was weiß er, George? Weiß er nun endlich irgendetwas? Wie groß ist die Summe des Wissens, das er in seinen vierundfünfzig Jahren erworben hat? Er ist meist als Lernender durchs Leben gegangen und hat gewartet, dass man ihm etwas erklärt. Die Autorität anderer war ihm immer wichtig; hat er auch eigene Autorität? Mit vierundfünfzig denkt er vieles, glaubt er einiges, aber was kann er tatsächlich an Wissen für sich in Anspruch nehmen?

Die Schreie, die von Sir Arthurs Anwesenheit Zeugnis ablegten, sind nun verklungen, vielleicht deshalb, weil von der Bühne keine Antwort kam. Was hatte Lady Conan Doyle zu Beginn der Feier verkündet? Dass unsere irdischen Augen nicht über die weltliche Sphäre hinaussehen können; dass nur diejenigen, denen Gott diese besondere Fähigkeit verliehen hat, die man Hellsichtigkeit nennt, die uns liebe und teure Gestalt in unserer Mitte erkennen können. Es wäre in der Tat ein Wunder gewesen, wenn Sir Arthur den unterschiedlichen Menschen, die noch immer in verschiedenen Teilen des Saals herumstehen, die Kraft der Hellsichtigkeit hätte verleihen können.

Nun meldet sich Mrs Roberts wieder zu Wort.

»Ich habe eine Botschaft für dich, meine Liebe, von Arthur.«

Und wieder dreht Lady Conan Doyle nicht den Kopf.

Mrs Roberts bewegt sich in einer langsam wehenden Wolke von schwarzem Satin nach links, zur Familie Doyle und dem leeren Stuhl. Als sie bei Lady Conan Doyle ist, stellt sie sich neben und ein wenig hinter sie und wendet das Gesicht dem Teil des Saales zu, in dem George sitzt. Trotz der Entfernung sind ihre Worte leicht zu verstehen.

»Sir Arthur sagt mir, heute Morgen sei einer von euch zum Gartenhäuschen gegangen.« Sie wartet, und als die Witwe nicht antwortet, fragt sie noch einmal nach. »Stimmt das?«

»Ja, natürlich«, antwortet Lady Conan Doyle. »Ich war dort.«

Mrs Roberts nickt und spricht weiter. »Die Botschaft lautet: Sag Mary …«

In diesem Moment ertönt wieder ein gewaltiges Orgelbrausen. Mrs Roberts beugt sich weiter vor und spricht unter dem Schutz des Getöses weiter. Lady Conan Doyle nickt hin und wieder. Dann schaut sie den hochgewachsenen Sohn im Frack zu ihrer Linken fragend an. Er wiederum sieht Mrs Roberts an, die nun zu beiden spricht. Dann steht der andere Sohn auf und gesellt sich zu ihnen. Die Orgel donnert gnadenlos weiter.

George weiß nicht, ob die Botschaft aus Rücksicht auf die Privatsphäre der Familie oder als Teil der Inszenierung übertönt wird. Er weiß nicht, ob er Wahrheit oder Lüge gesehen hat oder eine Mischung von beidem. Er weiß nicht, ob die offenkundige, überraschende, unenglische Inbrunst der Menschen um ihn herum an diesem Abend ein Beweis für Scharlatanerie oder für Gläubigkeit ist. Und wenn sie Gläubigkeit beweist, ob es ein wahrer oder ein falscher Glaube ist.

Mrs Roberts hat ihre Botschaft übermittelt und wendet sich an Mr Craze. Die Orgel dröhnt weiter, auch wenn es nichts mehr zu übertönen gibt. In der Familie Doyle werden Blicke gewechselt. Wie soll die Feier jetzt weitergehen? Alle Lieder sind gesungen, alle Huldigungen dargebracht. Das kühne Experiment ist durchgeführt, Sir Arthur ist in ihre Mitte gekommen, seine Botschaft ist überbracht.

Die Orgel spielt weiter. Offenbar verfällt sie nun allmählich in die Rhythmen, mit denen eine Gemeinde nach einer Hochzeit oder Beerdigung musikalisch verabschiedet wird: eindringliche und beharrliche Klänge, die die Versammelten in die alltägliche, schmutzige, irdische Welt ohne Zauber und Magie zurücktreiben. Die Familie Doyle verlässt die Bühne, dann folgen die Vorsitzenden der Marylebone Spiritualist Association, die Sprecher und Mrs Roberts. Leute stehen auf, Frauen suchen unter dem Sitz nach ihrer Handtasche, Männer im Frack entsinnen sich ihrer Zylinder, dann hört man Füßescharren und Gemurmel, man begrüßt Freunde und Bekannte, und in jedem Gang steht eine ruhige, nicht drängelnde Menschenschlange. Georges Nachbarn sammeln ihre Sachen ein, stehen auf, nicken ihm zu und schenken ihm ein Lächeln voller Herzlichkeit und Gewissheit. George antwortet mit einem Lächeln, das jenem nicht gleichkommt, und bleibt sitzen. Als sein Teil des Saales fast leer ist, greift er erneut nach unten und drückt das Fernglas gegen seine Brille. Er stellt die Gläser noch einmal auf die Bühne ein, auf die Hortensien, die Reihe leerer Stühle und den einen speziellen leeren Stuhl mit seiner Papptafel, den Platz, an dem Sir Arthur, möglicherweise, war. So schaut er durch mehrere geschliffene Gläser in die Luft und darüber hinaus.

Was sieht er?

Was hat er je gesehen?

Was wird er sehen?