Arthur

Sobald Wood sich mit dem Dossier vertraut gemacht hatte, wurde er als Kundschafter ausgeschickt. Er sollte die Gegend erforschen, sich einen Eindruck von der Wesensart der Einheimischen verschaffen, maßvoll in den Wirtshäusern trinken und Kontakt zu Harry Charlesworth aufnehmen. Er sollte jedoch nicht etwa Detektiv spielen, und vom Pfarrhaus sollte er sich fernhalten. Arthur hatte noch keinen bestimmten Schlachtplan, doch er wusste, sämtliche Informationsquellen würden sofort versiegen, wenn überall ausposaunt würde, er und Woodie seien hier, um die Unschuld von George Edalji zu beweisen. Und damit indirekt auch die Schuld eines anderen Einwohners. Er wollte die Sachwalter der Unwahrheit nicht vorzeitig aufschrecken.

Er selbst begann in der Bibliothek von Undershaw zu recherchieren. Er erfuhr, dass es in der Gemeinde Great Wyrley etliche gut gebaute Herrensitze und Bauernhäuser gab; dass der Boden aus lockerem Lehm über Ton und Kies bestand; dass hauptsächlich Weizen, Gerste, Rüben und Mangold angebaut wurden. Der Bahnhof lag eine Viertelmeile weiter nordwestlich an der Nebenstrecke Walsall, Cannock & Rugeley der London & North Western Railway. Das mit einer jährlichen Pfründe von £ 265 einschließlich Wohnung verbundene Amt des Pfarrers wurde seit 1876 von dem Reverend Shapurji Edalji ausgeübt, der am St. Augustine’s College, Canterbury, ausgebildet worden war. Das Working Men’s Institute im benachbarten Landywood bot 250 Plätze für Vorträge und Konzerte und eine gute Auswahl an Tages- und Wochenzeitungen. Rektor der Public Elementary School, 1882 erbaut, war Samuel John Mason. Das Postamt leitete William Henry Brookes, der zugleich eine Lebensmittel-, Tuch- und Eisenwarenhandlung betrieb; Bahnhofsvorsteher war Albert Ernest Merriman; er hatte dieses Amt offenbar von seinem Vater Samuel Merriman geerbt. Es gab drei Bierverleger im Dorf: Henry Badger, Mrs Ann Corbett und Thomas Yates. Der Fleischer hieß Bernard Greensill. Direktor der Great Wyrley Colliery Company war William Browell, sein Sekretär John Boult. William Wynn war der Klempner, Maler und Tapezierer, Gasinstallateur und Gemischtwarenhändler. Das klang alles so normal, so wohlgeordnet, so englisch.

Zu seinem Bedauern konnte er nicht mit dem Automobil hinfahren: Wenn auf den Feldwegen von Staffordshire ein tonnenschwerer, 12 PS starker Wolseley mit Kettenantrieb auftauchte, wäre das nicht gerade unauffällig. Schade, denn in Birmingham hatte er das Fahrzeug erst vor zwei Jahren abgeholt. Das war ein leichteres Unterfangen gewesen. Er erinnerte sich, dass er seine Segler-Schirmmütze getragen hatte, die unter Kraftfahrern gerade groß in Mode war. Bei der einheimischen Bevölkerung war das wohl nicht allgemein bekannt, denn als er auf dem Bahnsteig von New Street auf und ab ging und auf den Wolseley-Händler wartete, hatte ihn eine junge Frau angesprochen und im Befehlston Auskunft über die Züge nach Walsall verlangt.

Er ließ das Auto im Stall stehen und nahm den Zug von Haslemere nach Waterloo. Er wollte in London Zwischenstation machen und Jean besuchen; es würde erst sein vierter Besuch als Witwer und freier Mann sein. Er hatte ihr geschrieben, sie möge ihn an jenem Nachmittag erwarten; er hatte mit dem zärtlichsten Gruß geschlossen; doch als der Zug von Haslemere abfuhr, wünschte er vor allem, er säße in seinem Wolseley, die Seglermütze bis zu den Ohren heruntergezogen, die Schutzbrille dicht vor den Augen, und würde durch die Mitte Englands gen Staffordshire brausen. Er konnte diesen Wunsch, der ihn schuldbewusst und wütend zugleich machte, nicht begreifen. Er wusste, dass er Jean liebte, dass er sie heiraten und zur zweiten Lady Doyle machen würde; doch er freute sich nicht so auf das Wiedersehen mit ihr, wie er es gewollt hätte. Wenn Menschen nur so einfach konstruiert wären wie Maschinen.

Fast hätte Arthur aufgestöhnt, unterdrückte den Laut aber aus Rücksicht auf die anderen Fahrgäste der ersten Klasse. Das gehörte alles mit dazu – zu der Lebensweise, die einem aufgezwungen wurde. Man unterdrückte ein Stöhnen, man log über seine Liebe, man betrog seine angetraute Ehefrau, und alles im Namen der Ehre. Das war das verfluchte Paradox daran: Um sich gut zu verhalten, musste man sich schlecht verhalten. Warum konnte er Jean nicht in den Wolseley setzen, mit ihr nach Staffordshire fahren, sich im Hotel als Mann und Frau eintragen und jeden, der die Augenbrauen hochzog, mit seinem Sergeant-Major-Blick niederstarren? Weil er das nicht konnte, weil es nicht ginge, weil es einfach aussah, aber nicht war, weil, weil … Als der Zug durch die Außenbezirke von Woking fuhr, dachte er mit stillem Neid wieder an den australischen Soldaten draußen im Veld. Nr. 410, New South Wales Mounted Infantry, der regungslos dalag, und auf seiner Wasserflasche stand eine rote Schachfigur. Ein fairer Kampf unter freiem Himmel und eine gerechte Sache: Einen besseren Tod gibt es nicht. So sollte auch das Leben sein.

Er geht zu ihrer Wohnung; sie trägt blaue Seide; sie umarmen sich herzlich. Es ist nicht mehr geboten, sich zurückzuziehen, aber auch, wie er merkt, nicht erforderlich; das Wiedersehen lässt ihn ungerührt. Sie setzen sich; es gibt Tee; er erkundigt sich nach ihrer Familie; sie fragt, warum er nach Birmingham fährt.

Als er eine Stunde später noch immer beim Vorverfahren im Magistrates’ Court von Cannock ist, nimmt sie seine Hand und sagt:

»Es ist wunderbar, lieber Arthur, dass deine Lebensgeister wieder zurückgekehrt sind.«

»Deine auch, mein Liebling«, antwortet er und fährt mit seiner Geschichte fort. Er erzählt, wie zu erwarten, anschaulich und spannend; aber Jean ist auch gerührt und erleichtert, dass der Mann, den sie liebt, nun die Sorgen der vergangenen Monate abschüttelt. Doch als dann seine Geschichte beendet, seine Absicht erläutert, die Uhr gezückt und der Eisenbahnfahrplan nochmals konsultiert worden ist, ist ihre Enttäuschung offensichtlich.

»Ich wünschte, Arthur, ich könnte mit dir kommen.«

»Merkwürdig«, antwortet er und scheint sie dabei zum ersten Mal wirklich wahrzunehmen. »Weißt du, als ich im Zug saß, habe ich mir vorgestellt, wie ich mit dir an meiner Seite nach Staffordshire fahre, wir beide zusammen, wie Mann und Frau.«

Er schüttelt den Kopf über diese Übereinstimmung, die sich womöglich durch die Fähigkeit zur Gedankenübertragung erklären lässt, wenn sich zwei Herzen derart nahe sind. Dann steht er auf, nimmt Hut und Mantel und geht.

Jean ist deshalb nicht gekränkt – dafür ist sie allzu verliebt in Arthur –, doch als sie die Hände um die lauwarme Teekanne legt, wird ihr klar, dass ihre Position wie auch ihre künftige Position einige praktische Überlegungen erfordern. In den vergangenen Jahren war sie schwierig, sehr schwierig mit all den Arrangements und Zugeständnissen und der Heimlichtuerei. Woher dann die Annahme, mit Touies Tod würde sich alles ändern, und man würde sich unverzüglich im hellen Sonnenschein und unter dem Beifall von Freunden umarmen, während von Ferne englische Weisen herüberklängen? Einen solch plötzlichen Umschwung kann es nicht geben; und das Wenige, was ihnen an zusätzlicher Freiheit gewährt wurde, könnte sich als eher gefährlicher erweisen.

Jean denkt inzwischen anders über Touie. Sie ist nun nicht mehr die unantastbare Andere, deren Ehre gewahrt werden muss, die scheue Gastgeberin im Hintergrund, die schlichte, sanfte, liebevolle Ehefrau und Mutter, deren Sterben sich so lange hinzog. Touies hervorstechende Eigenschaft war, wie Arthur ihr einmal erzählte, dass sie zu allen seinen Vorschlägen stets Ja sagte. Wenn sie auf der Stelle packen und nach Österreich aufbrechen mussten, sagte sie Ja; wenn ein neues Haus gebaut werden sollten, sagte sie Ja; wenn er für ein paar Tage nach London oder für mehrere Monate nach Südafrika fahren wollte, sagte sie Ja. So war sie nun einmal; sie vertraute Arthur vollkommen, vertraute darauf, dass er für sich selbst wie für sie die richtige Entscheidung träfe.

Auch Jean vertraut Arthur; sie weiß, dass er ein Ehrenmann ist. Sie weiß ebenso – und das ist ein weiterer Grund, warum sie ihn liebt und bewundert –, dass er ständig in Bewegung ist, ob er nun ein neues Buch schreibt, sich für eine Idee einsetzt, um die Welt jagt oder sich in seine neueste Leidenschaft stürzt. Er wird nie zu den Männern gehören, deren Ambitionen sich auf eine Villa im Grünen, ein Paar Pantoffeln und einen Spaten für den Garten richten und die sich danach sehnen, an der Gartenpforte auf den Zeitungsboten zu warten, der ihnen Nachrichten aus fernen Ländern bringt.

Und so bildet sich in Jeans Innerem allmählich etwas heraus, das man noch keine Entscheidung nennen kann, sondern eher eine Art mahnendes Bewusstsein. Sie befindet sich seit dem fünfzehnten März 1897 im Wartestand; in wenigen Monaten jährt sich ihre Begegnung mit Arthur zum zehnten Mal. Zehn Jahre, zehn kostbare Schneeglöckchen. Sie würde lieber auf ihn warten, als mit irgendeinem anderen Mann auf der Welt zufrieden verheiratet zu sein. Doch nach diesem langen Warten hat sie kein Verlangen danach, seine Ehefrau im Wartestand zu werden. Sie stellt sich vor, sie wären verheiratet, und Arthur würde seine bevorstehende Abreise – ob nach Stoke Poges oder Timbuktu – ankündigen, um ein großes Unrecht gutzumachen; und sie stellt sich vor, wie sie antwortet, sie werde Woodie beauftragen, die Fahrkarten für sie beide zu besorgen. Für sie beide, wird sie ruhig sagen. Sie wird an seiner Seite sein. Sie reist mit ihm; sie sitzt bei seinen Vorträgen in der ersten Reihe; sie ebnet ihm den Weg und kümmert sich darum, dass sie im Hotel, im Zug und auf dem Schiff ordentlich bedient werden. Sie reitet Kopf an Kopf mit ihm, wenn nicht gar – in Anbetracht ihrer überlegenen Pferdeführung – ein wenig voraus. Vielleicht lernt sie sogar Golf spielen, wenn er weiter beim Golf bleibt. Sie wird nicht zu den Ehedrachen gehören, die ihrem Mann bis vor die Tür seines Clubs nachlaufen; aber sie wird an seiner Seite sein und durch Wort und fortwährende Tat deutlich machen, dass dies ihr Platz bleiben wird, bis dass der Tod sie scheidet. So eine Ehefrau will sie sein.

Derweil saß Arthur im Zug nach Birmingham und rief sich seine bisher einzige Erfahrung im Detektivspielen in Erinnerung. Die Society for Psychical Research hatte ihn um Hilfe bei der Untersuchung eines Spukhauses in Charmouth in Dorsetshire gebeten. Er war mit Dr. Scott und einem gewissen Mr Podmore hingefahren, einem in solchen Aufträgen erfahrenen Experten. Sie hatten alle üblichen Vorkehrungen getroffen, um einen Schwindel auszuschließen: Türen und Fenster verriegelt, Wollfäden über die Treppen gespannt. Dann hielten sie mit dem Hausherrn zwei Nächte hintereinander Wache. In der ersten stopfte Arthur seine Pfeife immer wieder neu und kämpfte gegen die Schlafsucht an; doch in der Mitte der zweiten Nacht, als sie eben jede Hoffnung aufgeben wollten, ließ sie ein Geräusch auffahren und für einen kurzen Moment zu Tode erschrecken; es klang, als würden ganz in der Nähe Möbelstücke heftig herumgestoßen. Der Lärm schien aus der Küche zu kommen, doch als sie dorthin eilten, war der Raum leer und alles an seinem Platz. Sie durchsuchten das Haus vom Keller bis zum Dachboden, um verborgene Winkel aufzuspüren; sie fanden nichts. Und die Türen waren nach wie vor verschlossen, die Fenster verriegelt, die Fäden intakt.

Podmore hatte sich erstaunlich negativ gegenüber diesem Spuk verhalten; er hatte den Verdacht, ein Komplize des Hausherrn hielte sich hinter der Holztäfelung versteckt. Arthur hatte sich damals dieser Meinung angeschlossen. Einige Jahre später war das Haus jedoch abgebrannt, und man hatte – wesentlicher noch – das Skelett eines höchstens zehn Jahre alten Kindes im Garten ausgegraben. Für Arthur hatte sich damit alles geändert. Wo ein junges Leben gewaltsam zerstört wird, wirkt oft eine Fülle ungenutzter Lebensenergie. In solchen Fällen dringt das Unbekannte und Wundersame von allen Seiten auf uns ein; es zeigt sich schemenhaft in ständig schwankenden Formen und gemahnt uns daran, wie beschränkt das ist, was wir Materie nennen. Dies schien Arthur die unwiderlegbare Erklärung zu sein; doch Podmore hatte sich geweigert, seinen Bericht im Nachhinein zu ändern. Ja, er hatte sich überhaupt mehr wie ein verdammter materialistischer Skeptiker aufgeführt als wie ein Experte, der beauftragt ist, die Echtheit parapsychischer Phänomene zu beglaubigen. Aber was soll man sich mit den Podmores dieser Welt abgeben, wenn man Crookes und Myers und Lodge und Alfred Russel hat? Im Stillen sagte sich Arthur wieder die Formel auf: Es ist unglaublich, aber es ist wahr. Als er das zum ersten Mal hörte, hatte es wie ein gummiweiches Paradox geklungen; nun erhärtete es sich allmählich zu einer ehernen Gewissheit.

Arthur traf im Imperial Family Hotel in der Temple Street mit Wood zusammen. Hier würde man ihn nicht so leicht erkennen wie im Grand Hotel, wo er normalerweise abgestiegen wäre. Sie mussten alles tun, damit nicht in den Gesellschaftsnachrichten der Gazette oder der Post die neckische Schlagzeile erschien: WAS WILL SHERLOCK HOLMES IN BIRMINGHAM?

Ihr erster Ausflug nach Great Wyrley war für den nächsten Spätnachmittag geplant. Sie wollten das dezemberliche Dämmerlicht ausnutzen, sich so unerkannt wie irgend möglich zum Pfarrhaus begeben und nach Birmingham zurückkehren, sobald ihre Mission erfüllt war. Arthur hätte sich für diese Expedition am liebsten bei einem Theaterkostümverleih mit einem falschen Bart ausgestattet; doch Wood war von der Idee nicht angetan. Er meinte, damit würden sie eher mehr als weniger Aufmerksamkeit erregen; ja, jeder Besuch bei einem Kostümverleih wäre eine Garantie für unliebsame Berichte in der Lokalpresse. Ein hochgestellter Kragen, ein dicker Schal und im Zug eine Zeitung vor dem Gesicht sollten genügen, um unbehelligt nach Wyrley zu kommen; dann würden sie einfach über den schwach erleuchteten Feldweg zum Pfarrhaus spazieren, als ob …

»Als ob wir was wären?«, fragte Arthur.

»Müssen wir uns denn verstellen?« Wood verstand nicht, warum sein Brotherr sich unbedingt maskieren wollte; erst physisch, dann psychologisch. Seiner Ansicht nach war es das unveräußerliche Recht eines jeden Engländers, sich andere Leute, und insbesondere neugierige andere Leute, mit dem Hinweis vom Leib zu halten, sie sollten sich um ihren eigenen Kram kümmern.

»Aber natürlich. Uns selbst zuliebe. Wir müssen uns vorstellen, wir wären … hmmm … Ich hab’s – Abgesandte der Church Commissioners, die sich aufgrund eines Berichts des Pfarrers ein Bild vom baulichen Zustand von St. Mark’s machen wollen.«

»Die Kirche ist relativ neu und stabil gebaut«, erwiderte Wood. Dann fing er den Blick seines Brotherrn auf. »Nun gut, wenn Sie darauf bestehen, Sir Arthur.«

Am Spätnachmittag des nächsten Tages wählten sie in New Street ein Zugabteil, in dem sie in Wyrley & Churchbridge möglichst weit vom Bahnhofsgebäude entfernt ankämen. Mit diesem Trick wollten sie aufdringlichen Blicken anderer aussteigender Fahrgäste entgehen. Doch dann waren die beiden falschen Kirchenmänner die Einzigen, die dort ausstiegen, was ihnen das ganz besondere Augenmerk des Bahnhofsvorstehers eintrug. Arthur zog seinen Schal schützend vor den Schnurrbart und wurde fast von Übermut gepackt. Du kennst mich nicht, dachte er, aber ich kenne dich: Albert Ernest Merriman, Sohn des Samuel. Was für ein Abenteuer!

Er folgte Wood über einen schummrigen Feldweg; einmal kamen sie an einem Wirtshaus vorbei, doch das einzige Zeichen von Leben war ein Mann, der auf der Vortreppe herumlungerte und eifrig an seiner Mütze kaute. Nach acht oder neun Minuten, in denen sie nur hier und da von einer Gaslaterne aufgestört wurden, waren sie an dem dunklen, wuchtigen Bau von St. Mark’s mit seinem hohen Satteldach angelangt. Wood führte seinen Brotherrn so dicht an der Südwand entlang, dass Arthur den grauen, purpurrot gemaserten Stein erkennen konnte. Als sie am Portal vorbeikamen, tauchten hinter der Kirche zwei rund dreißig Meter weiter westlich gelegene Gebäude auf: rechts ein Schulgebäude aus dunklem Backstein mit einem schwachen, heller abgesetzten Rautenmuster; links das stattlichere Pfarrhaus. Kurz darauf schaute Arthur auf die breite Treppe, auf der fünfzehn Jahre zuvor der Schlüssel zur Schule von Walsall gelegen hatte. Er hob den Türklopfer an, überlegte, wie behutsam er ihn fallen lassen sollte, und stellte sich dabei vor, mit wie viel mehr Getöse Inspector Campbell und sein Trupp von Hilfspolizisten hier eingebrochen waren und welchen Aufruhr sie in diesem stillen Haus verursacht hatten.

Der Pfarrer, seine Frau und seine Tochter erwarteten sie. Sir Arthur sah sofort, woher Georges ungekünstelte gute Umgangsformen und auch seine Zurückhaltung stammten. Die Familie freute sich über sein Eintreffen, doch ohne Überschwang; sie war sich seines Ruhms bewusst, doch nicht davon eingeschüchtert. Er war erleichtert, sich ausnahmsweise einmal in Gesellschaft dreier Menschen zu befinden, von denen keiner, darauf hätte er gewettet, je ein einziges seiner Bücher gelesen hatte.

Der Pfarrer war von hellerer Hautfarbe als sein Sohn, hatte einen breiten Kopf mit beginnender Stirnglatze und die kräftige Gestalt einer Bulldogge. Sein Mund war ebenso geformt wie der Georges, sah aber in Arthurs Augen zugleich schöner und auch westlicher aus.

Arthur wurden zwei dicke Aktenbündel vorgelegt. Er nahm aufs Geratewohl einen Brief heraus: Ein einziges Blatt war so gefaltet, dass vier eng beschriebene Seiten entstanden.

»Mein lieber Shapurji«, las er. »Es ist mir ein großes Vergnügen, Dich von unserer Absicht in Kenntnis zu setzen, die Verfolgung des Pfarrers zu revidieren!!! (der Schande von Great Wyrley).« Die Handschrift war eher kräftig als säuberlich, dachte er. »… ein gewisses Irrenhaus keine hundert Meilen von Deinem dreimal verfluchten Haus entfernt … und dass Du mit Gewalt fortgeschafft wirst, falls Du Dich zu deutlichen Meinungsäußerungen hinreißen lässt.« Bisher auch keine Rechtschreibfehler. »Ich werde bei erster Gelegenheit eine doppelte Anzahl der teuflischsten Postkarten in Deinem und Charlottes Namen abschicken.« Charlotte war vermutlich die Frau des Pfarrers. »Rache an Dir und Brookes …« Dieser Name war ihm von seinen Recherchen her bekannt. »… habe dem Courier in seinem Namen brieflich mitgeteilt, dass er nicht für die Schulden seiner Frau aufkommt … Ich wiederhole, wir brauchen kein Gesetz über Geisteskrankheiten, um Dich in Gewahrsam zu nehmen, denn diese Leute werden Dich mit Sicherheit festsetzen.« Und dann, in vier absteigenden Zeilen, ein spöttischer Abschiedsgruß:

Fröhliche Weihnachten und ein Frohes Neues Jahr

wünscht Dir

Dein Satan

Gott Satan

»Widerlich«, sagte Sir Arthur.

»Welchen haben Sie da?«

»Einen von Satan.«

»Ja«, sagte der Pfarrer. »Ein eifriger Briefeschreiber.«

Arthur sah sich noch einige andere Schriftstücke an. Von anonymen Briefen zu hören oder auch Auszüge daraus in der Presse zu lesen, war nicht weiter schlimm. Da klangen sie wie dumme Kinderstreiche. Aber einen solchen Brief in der Hand zu halten und dabei mit den Empfängern zusammenzusitzen, das war, wie er nun merkte, etwas ganz anderes. Dieser erste war unflätig mit seiner schurkischen Nennung der Pfarrersfrau bei ihrem Vornamen. Das Werk eines Irren vielleicht; allerdings eines Irren mit einer klaren, wohlgeformten Handschrift und der Fähigkeit, seinem krankhaften Hass und seinen wahnwitzigen Plänen deutlich Ausdruck zu geben. Es wunderte Arthur nicht, dass die Edaljis sich angewöhnt hatten, nachts die Türen zu versperren.

»Fröhliche Weihnachten«, las Arthur vor, noch immer halbwegs ungläubig. »Und Sie haben keinen Verdacht, wer diese ekelhaften Ergüsse geschrieben haben könnte?«

»Verdacht? Nein.«

»Dieses Hausmädchen, das Sie entlassen mussten?«

»Sie wohnt nicht mehr in der Gegend. Sie ist längst fort.«

»Die Familie des Mädchens?«

»Das sind anständige Leute. Sir Arthur, Sie können sich vorstellen, dass wir von Anfang an viel über all das nachgedacht haben. Aber ich habe keinen Verdacht. Ich höre nicht auf Klatsch und Gerüchte, und was hätte ich davon, wenn ich es täte? Klatsch und Gerüchte haben meinen Sohn ins Gefängnis gebracht. Ich kann wohl kaum wollen, dass einem anderen dasselbe angetan wird wie ihm.«

»Es sei denn, er ist der Täter.«

»Ganz recht.«

»Und dieser Brookes – das ist der Lebensmittel- und Eisenwarenhändler?«

»Ja. Er hat eine Zeitlang auch solche Schmähbriefe erhalten. Er hat das gleichgültiger hingenommen. Oder untätiger. Jedenfalls wollte er nicht zur Polizei gehen. Es gab da einen Vorfall mit seinem Sohn und noch einem anderen Jungen in der Eisenbahn – die Einzelheiten habe ich vergessen. Brookes wollte nie gemeinsame Sache mit uns machen. Die Polizei genießt hier in der Gegend wenig Respekt, wie ich leider sagen muss. Von allen Leuten hier brachte unsere Familie der Polizei ironischerweise noch am meisten Vertrauen entgegen.«

»Nur dem Chief Constable nicht.«

»Sein Verhalten war … nicht hilfreich.«

»Mr Aidlji« – Arthur gab sich bei der Aussprache besondere Mühe – »ich will herausfinden warum. Ich habe vor, den Fall noch einmal ganz von vorn aufzurollen. Sagen Sie, hatten Sie – von den direkten Verfolgungen abgesehen – noch unter anderen Feindseligkeiten zu leiden, seitdem Sie hier sind?«

Der Pfarrer sah seine Frau fragend an. »Die Wahl«, antwortete sie.

»Ja, das stimmt. Ich habe mehr als einmal das Schulzimmer für politische Versammlungen zur Verfügung gestellt. Die Liberalen hatten Probleme, Räumlichkeiten zu bekommen. Ich bin selbst ein Liberaler … Es gab Beschwerden von den eher konservativ gesinnten Gemeindemitgliedern.«

»Mehr als Beschwerden?«

»Ein oder zwei kamen nicht mehr in unsere Kirche, das ist wahr.«

»Und Sie haben die Räume weiter zur Verfügung gestellt?«

»Selbstverständlich. Aber ich will nicht übertreiben. Ich spreche von Protesten, scharf formuliert, aber höflich. Ich spreche nicht von Drohungen.«

Sir Arthur bewunderte die Präzision des Pfarrers ebenso wie seinen Mangel an Selbstmitleid. Dieselben Eigenschaften waren ihm auch bei George aufgefallen. »War Captain Anson daran beteiligt?«

»Anson? Nein, das war eine rein örtliche Angelegenheit. Anson spielte erst später eine Rolle. Ich habe Ihnen seine Briefe mit herausgelegt.«

Arthur ging dann mit der Familie noch einmal die Ereignisse von August bis Oktober 1903 durch, immer auf der Hut vor Unstimmigkeiten, übersehenen Einzelheiten oder widersprüchlichen Aussagen. »Im Nachhinein bedaure ich, dass Sie Inspector Campbell und seine Männer nicht fortgeschickt haben, bis die einen Durchsuchungsbefehl in der Hand hatten und Sie sich durch Hinzuziehung eines Solicitors für ihre Rückkehr gewappnet hatten.«

»Aber so würden sich Schuldige verhalten. Wir hatten nichts zu verbergen. Wir wussten, dass George unschuldig war. Je eher die Polizei unser Haus durchsuchte, desto eher würden sie ihre Ermittlungen in eine Richtung lenken, die mehr Erfolg versprach. Auf jeden Fall haben sich Inspector Campbell und seine Leute ganz korrekt verhalten.«

Nicht immer, dachte Arthur. Ihm fehlte noch etwas zum Verständnis des Falls, etwas, das mit diesem Besuch der Polizei zu tun hatte.

»Sir Arthur.« Das war Mrs Edalji, schmächtig, weißhaarig, mit leiser Stimme. »Darf ich Ihnen zwei Dinge sagen? Erstens, wie angenehm es ist, hierzulande wieder eine schottische Stimme zu hören. Erkenne ich da den Tonfall von Edinburgh?«

»So ist es, Ma’am.«

»Und das Zweite betrifft meinen Sohn. Sie haben George kennengelernt.«

»Er hat großen Eindruck auf mich gemacht. Ich kann mir nicht denken, dass viele andere sich nach drei Jahren in Lewes und Portland eine so große körperliche und geistige Stärke bewahrt hätten. Er macht Ihnen alle Ehre.«

Mrs Edalji lächelte kurz über dieses Kompliment. »Georges größter Wunsch ist, seine Arbeit als Solicitor wieder aufnehmen zu dürfen. Das ist alles, was er je wollte. Er leidet jetzt vielleicht mehr als damals im Gefängnis. Da war alles klarer. Jetzt ist alles ungewiss. Die Incorporated Law Society kann ihn nicht wieder zulassen, bis sein Name von jedem Makel reingewaschen ist.«

Nichts war für Arthur ein größerer Ansporn als eine von einer sanften, älteren, weiblichen schottischen Stimme vorgetragene Bitte.

»Seien Sie beruhigt, Ma’am, ich werde einen Riesenlärm machen. Ich werde Krawall schlagen. Etliche Leute werden nicht mehr so ruhig in ihrem Bett schlafen, nachdem ich sie mir vorgeknöpft habe.«

Dies war aber offenbar nicht das Versprechen, das Mrs Edalji hören wollte. »Das wird wohl so sein, Sir Arthur, und wir sind Ihnen dankbar dafür. Ich will etwas anderes sagen. George ist, wie Sie bemerkt haben, ein recht widerstandsfähiger Junge – oder vielmehr ein widerstandsfähiger junger Mann. Ehrlich gesagt hat uns das beide überrascht. Wir hatten ihn für zarter gehalten. Er ist entschlossen, gegen dieses Unrecht zu kämpfen. Aber das ist auch alles, was er will. Er möchte nicht im Licht der Öffentlichkeit stehen. Er möchte nicht zum Verfechter irgendeiner Sache werden. Er vertritt nichts und niemanden. Er möchte seine Arbeit wieder aufnehmen. Er möchte ein normales Leben führen.«

»Er möchte heiraten«, warf die Tochter ein, die bis zu diesem Moment geschwiegen hatte.

»Maud!«, rief der Pfarrer eher erstaunt als tadelnd. »Wie kann das sein? Seit wann? Charlotte – hast du etwas davon gewusst?«

»Vater, du brauchst nicht zu erschrecken. Ich meine, er möchte ganz allgemein verheiratet sein.«

»Ganz allgemein verheiratet«, wiederholte der Pfarrer. Er sah seinen berühmten Gast an. »Halten Sie das für möglich, Sir Arthur?«

»Ich persönlich«, antwortete Arthur mit leisem Lachen, »war nie anders als im Besonderen verheiratet. Dieses Prinzip verstehe ich, und das würde ich auch empfehlen.«

»Wenn das so ist« – und hier lächelte der Pfarrer zum ersten Mal – »müssen wir George verbieten, im Allgemeinen zu heiraten.«

Im Imperial Family Hotel nahmen Arthur und sein Sekretär ein spätes Abendessen ein und zogen sich dann in einen leeren Rauchsalon zurück. Arthur zündete seine Pfeife an und sah zu, wie Wood sich eine Zigarette minderer Sorte ansteckte.

»Eine prächtige Familie«, sagte Arthur. »Bescheiden, eindrucksvoll.«

»In der Tat.«

Plötzlich überkam Arthur eine Befürchtung, die von Mrs Edaljis Bemerkung herrührte. Wenn sein Erscheinen auf der Bildfläche nun erneute Verfolgungen auslöste? Schließlich lief Satan – ja, Gott Satan – noch frei herum, spitzte seine Feder und schärfte seine gebogene Waffe mit den konkaven Seiten. Gott Satan: Wie eigentümlich abstoßend die Perversionen einer institutionellen Religion waren, wenn ihr irreversibler Niedergang einmal begonnen hatte. Je eher das ganze Gebäude hinweggefegt wurde, desto besser.

»Woodie, ich möchte Sie gern als Versuchskaninchen benutzen, wenn ich darf.« Er wartete die Antwort gar nicht erst ab, und sein Sekretär hatte auch nicht geglaubt, dass eine erforderlich war. »Es gibt drei Aspekte dieses Falls, die ich im Moment noch nicht begreife. Diese Lücken wollen gefüllt werden. Die erste ist, warum Anson etwas gegen George Edalji hatte. Sie haben die Briefe gesehen, die er an den Pfarrer schrieb. Einem Schuljungen mit Zuchthaus zu drohen.«

»In der Tat.«

»Er ist ein Mensch von Rang. Ich habe Recherchen über ihn angestellt. Der zweite Sohn des Second Earl of Lichfield. Ehemals Royal Artillery. Chief Constable seit 1888. Warum schreibt so ein Mann so einen Brief?«

Wood räusperte sich nur.

»Nun?«

»Ich bin kein Detektiv, Sir Arthur. Ich habe gehört, wie Sie sagten, bei der Ermittlungsarbeit müsse man das Unmögliche ausschließen, und was dann übrig bleibe, müsse, wie unwahrscheinlich es auch sein möge, die Wahrheit sein.«

»Die Formulierung stammt leider nicht von mir. Aber ich würde sie unterschreiben.«

»Und darum eigne ich mich nicht zum Detektiv. Wenn mir jemand eine Frage stellt, suche ich einfach nach der naheliegenden Antwort.«

»Und was wäre für Sie die naheliegende Antwort im Fall von Captain Anson und George Edalji?«

»Dass er eine Abneigung gegen Farbige hat.«

»Also, das ist in der Tat sehr naheliegend, Alfred. So naheliegend, dass es nicht stimmen kann. Anson mag seine Fehler haben, aber er ist ein englischer Gentleman und ein Chief Constable.«

»Ich sagte doch, ich bin kein Detektiv.«

»Geben wir die Hoffnung nicht so schnell auf. Mal sehen, was Ihnen zu meiner zweiten Lücke einfällt. Hier ist sie. Von der ersten Episode mit dem Hausmädchen abgesehen, findet die Verfolgung der Edaljis in zwei getrennten Ausbrüchen statt. Der erste dauert von 1892 bis Anfang 1896. Er ist heftig und steigert sich immer mehr. Plötzlich hört er auf. Sieben Jahre lang geschieht nichts. Dann fängt es wieder an, und das erste Pferd wird aufgeschlitzt. Februar 1903. Warum diese Unterbrechung, das begreife ich nicht, warum die Unterbrechung? Detektiv Wood, was sagen Sie dazu?«

Der Sekretär fand keinen großen Gefallen an diesem Spiel; es schien ihm so angelegt, dass er dabei nur verlieren konnte. »Vielleicht deshalb, weil der Täter nicht da war.«

»Nicht wo war?«

»In Wyrley.«

»Wo war er dann?«

»Er war weg.«

»Und wo?«

»Ich weiß es nicht, Sir Arthur. Vielleicht saß er im Gefängnis. Vielleicht war er nach Birmingham gezogen. Vielleicht war er auf hoher See.«

»Das würde ich eher bezweifeln. Es ist wieder zu naheliegend. Die Leute in der Gegend hätten es gemerkt. Es hätte Gerede gegeben.«

»Die Edaljis sagten, sie hören nicht auf Gerede.«

»Hmm. Wir werden sehen, ob Harry Charlesworth darauf hört. Nun, und drittens verstehe ich das mit den Haaren auf den Kleidern nicht. Wenn wir das Naheliegende hier einmal ausschließen könnten …«

»Vielen Dank, Sir Arthur.«

»Ach, um Himmels willen, Woodie, seien Sie nicht beleidigt. Sie sind viel zu nützlich für mich, als dass Sie beleidigt sein könnten.«

Wood dachte, die Figur des Dr. Watson habe ihm schon immer leidgetan. »Was ist das Problem, Sir?«

»Das Problem ist Folgendes. Die Polizei hat Georges Kleidung im Pfarrhaus untersucht und gesagt, es seien Haare darauf. Der Pfarrer, seine Frau und seine Tochter haben die Kleidung untersucht und gesagt, es seien keine Haare darauf. Der Amtsarzt Dr. Butter – und meiner Erfahrung nach sind Amtsärzte äußerst gewissenhaft – hat ausgesagt, er habe neunundzwanzig Haare gefunden, die ›in Länge, Farbe und Struktur‹ denen des verstümmelten Ponys ähnlich waren. Hier liegt also ein klarer Widerspruch vor. Haben die Edaljis einen Meineid geschworen, um George zu schützen? Die Geschworenen gingen offenbar davon aus. Georges Erklärung war, er habe sich möglicherweise an ein Gatter zu einem Feld gelehnt, auf dem Kühe gehalten wurden. Es wundert mich nicht, dass die Geschworenen ihm nicht glaubten. Das klingt wie etwas, das man aus Angst sagt, nicht wie die Schilderung eines Geschehens. Außerdem hätte sich die Familie dann immer noch eines Meineids schuldig gemacht. Wenn die Haare auf seiner Kleidung gewesen wären, dann hätten sie sie doch gesehen, nicht wahr?«

Diesmal ließ Wood sich mit der Antwort Zeit. Seit er seinen Dienst bei Sir Arthur angetreten hatte, waren ihm immer neue Funktionen zugewachsen. Sekretär, Faktotum, Unterschriftenfälscher, Beifahrer, Golfpartner, Billardgegner; nun also Versuchskaninchen und Verkünder des Naheliegenden. Außerdem jemand, der sich auf Spott gefasst machen musste. Nun denn, so sei es. »Wenn die Haare nicht auf seinem Mantel waren, als die Edaljis ihn untersuchten …«

»Ja …«

»Und wenn sie auch vorher nicht da waren, weil George sich nicht an irgendein Gatter gelehnt hat …«

»Ja …«

»Dann müssen sie nachher dorthin gekommen sein.«

»Nach was?«

»Nachdem die Kleider aus dem Pfarrhaus fortgeschafft worden waren.«

»Sie meinen, Dr. Butter hätte sie dorthin getan?«

»Nein. Ich weiß es nicht. Aber wenn Sie die naheliegende Antwort hören wollen, dann sage ich, die Haare sind nachher dorthin gekommen. Irgendwie. Und in dem Fall lügt nur die Polizei. Oder einige Angehörige der Polizei.«

»Was durchaus möglich wäre. Wissen Sie, Alfred, Ihr Gedankengang ist nicht unbedingt falsch, das will ich Ihnen lassen.«

Ein Kompliment, dachte Wood, das Dr. Watson stolz gemacht hätte.

Am nächsten Tag gaben sie sich weniger Mühe mit ihrer Tarnung, kehrten nach Wyrley zurück und suchten Harry Charlesworth in seinem Melkhaus auf. Durch die Hinterlassenschaften einer Kuhherde wateten sie zu einem kleinen, auf der Rückseite des Bauernhauses angebauten Büro. Dort gab es drei wackelige Stühle, einen kleinen Schreibtisch, eine verdreckte Bastmatte und einen schief an der Wand hängenden Kalender vom vergangenen Monat. Harry war ein blonder junger Mann mit offenen Gesichtszügen, der sich über diese Unterbrechung seiner Arbeit zu freuen schien.

»Sie kommen wohl wegen George?«

Arthur sah Wood ärgerlich an, aber der schüttelte den Kopf.

»Woher wissen Sie das?«

»Sie waren gestern Abend im Pfarrhaus.«

»Ach ja?«

»Na, jedenfalls wurden zwei Fremde gesehen, die nach Einbruch der Dunkelheit zum Pfarrhaus gingen, und einer davon war ein großer Herr, der seinen Schal hochzog, um seinen Schnurrbart zu verbergen, und der andere war kleiner und trug einen Bowlerhut.«

»Oje«, sagte Arthur. Vielleicht hätte er doch zu dem Kostümverleih gehen sollen.

»Und jetzt kommen dieselben beiden Herren, wenn auch nicht mehr so offensichtlich verkleidet, in einer Angelegenheit zu mir, die mir als vertraulich bezeichnet wurde, aber sicher bald verraten wird.« Harry Charlesworth amüsierte sich königlich. Er war auch gern bereit, in Erinnerungen zu schwelgen.

»Ja, wir sind zusammen zur Schule gegangen, als wir noch klein waren. George war immer sehr still. Hat nie was angestellt wie wir anderen alle. Und intelligent noch dazu. Intelligenter als ich, und ich war damals intelligent. Nicht, dass man das jetzt noch merken würde. Die Intelligenz nimmt nämlich wirklich Schaden, wenn man den ganzen Tag die Kehrseite einer Kuh anguckt.«

Arthur überhörte diese Abschweifung ins Vulgär-Autobiographische. »Aber hatte George irgendwelche Feinde? War er unbeliebt – wegen seiner Hautfarbe zum Beispiel?«

Harry überlegte kurz. »Soweit ich mich erinnere, nicht. Aber Sie wissen ja, wie das bei Jungen so ist – sie haben andere Neigungen und Abneigungen als Erwachsene. Und die ändern sich von einem Monat zum anderen. Falls George unbeliebt war, dann eher deshalb, weil er intelligent war. Oder weil sein Vater der Pfarrer war und missbilligte, was Jungen so im Schilde führen. Oder weil er kurzsichtig war. Der Lehrer ließ ihn ganz vorne sitzen, damit er erkennen konnte, was an der Tafel stand. Vielleicht sah das nach Bevorzugung aus. Damit macht man sich eher unbeliebt, als wenn man farbig ist.«

Harrys Analyse der Gräueltaten von Wyrley war nicht sehr komplex. Die Anklage gegen George war dämlich. Die Polizei war dämlich. Und dass eine mysteriöse Bande nach Einbruch der Dunkelheit unter dem Kommando eines mysteriösen Captains umherschleichen sollte, war das Dämlichste überhaupt.

»Harry, wir müssen uns mit dem Kavalleriesoldaten Green unterhalten. Er ist ja der einzige Mensch aus der Gegend, der wirklich zugibt, ein Pferd aufgeschlitzt zu haben.«

»Sie haben wohl Lust auf eine lange Reise, ja?«

»Wohin?«

»Südafrika. Ah, das wussten Sie nicht. Harry Green hat sich eine Fahrkarte nach Südafrika besorgt, da war der Prozess gerade erst ein paar Wochen zu Ende. Und das war keine Rückfahrkarte.«

»Interessant. Haben Sie eine Ahnung, wer die bezahlt hat?«

»Tja, Harry Green nicht, so viel ist sicher. Jemand, der ein Interesse daran hatte, dass er hier wegkommt.«

»Die Polizei?«

»Schon möglich. Die hatte aber auch nicht mehr allzu viel für ihn übrig, als er dann abreiste. Er hatte sein Geständnis zurückgenommen. Angeblich hatte er das Tier gar nicht aufgeschlitzt, aber die Polizei hätte ihm so zugesetzt, dass er alles zugab.«

»Donnerwetter! Was halten Sie davon, Woodie?«

Wood sprach pflichtschuldig das Naheliegende aus. »Nun, ich würde sagen, er hat entweder beim ersten oder beim zweiten Mal gelogen. Oder«, fügte er mit einem Anflug von Schalkhaftigkeit hinzu, »womöglich auch beide Male.«

»Harry, können Sie herausfinden, ob Mr Green eine Adresse von seinem Sohn in Südafrika hat?«

»Ich kann’s auf jeden Fall versuchen.«

»Und noch etwas. Wurde in Wyrley darüber geredet, wer das gewesen sein könnte, da George es nun mal nicht war?«

»Geredet wird immer. Kostet ja nichts. Ich kann nur sagen, es muss jemand sein, der mit Tieren umgehen kann. Man kann nicht einfach zu einem Pferd oder Schaf oder einer Kuh hingehen und sagen, halt mal still, mein Schatz, ich will dir die Eingeweide rausreißen. Das möchte ich sehen, wie George Edalji hier ankommt und versucht, meine Kühe zu melken …« Harry amüsiert sich einen Moment über diese Vorstellung. »Der wär totgetreten worden oder in die Scheiße gefallen, bevor er auch nur seinen Schemel aufgestellt hätte.«

Arthur beugte sich zu ihm vor. »Harry, würden Sie uns helfen, den Namen Ihres Freundes und Schulkameraden reinzuwaschen?«

Harry Charlesworth nahm die gedämpfte Stimme und den schmeichelnden Ton wahr, aber das machte ihn eher misstrauisch. »Eigentlich war er gar nicht mein Freund.« Dann hellte sich seine Miene auf. »Ich müsste mir natürlich in der Molkerei freinehmen …«

Arthur hatte Harry Charlesworth anfangs für loyaler gehalten, wollte jetzt aber nicht enttäuscht sein. Nachdem man sich über einen Vorschuss und die Honorargestaltung geeinigt hatte, zeigte Harry ihnen in seiner neuen Eigenschaft als Assistent des beratenden Detektivs den Weg, den George angeblich in jener verregneten Augustnacht vor dreieinhalb Jahren gegangen war. Sie brachen auf dem Feld hinter dem Pfarrhaus auf, kletterten über einen Zaun, zwängten sich durch eine Hecke, gelangten durch einen unterirdischen Gang auf die andere Seite der Eisenbahnschienen, kletterten über einen zweiten Zaun, überquerten ein weiteres Feld, kämpften sich durch eine dichte Dornenhecke, überquerten noch eine Pferdekoppel und fanden sich am Rande des Grubenfeldes wieder. Eine dreiviertel Meile, grob geschätzt.

Wood zog seine Taschenuhr. »Achtzehneinhalb Minuten.«

»Und wir sind kräftige Männer«, bemerkte Arthur, der sich immer noch Schlamm von den Schuhen wischte und Dornen aus seinem Mantel zupfte. »Und es ist heller Tag, und es regnet nicht, und wir haben ausgezeichnete Augen.«

Als sie wieder in der Molkerei waren und Geld von Hand zu Hand gegangen war, erkundigte sich Arthur, welche Verbrechen denn so allgemein in dieser Gegend vorkämen. Offenbar das Übliche: Tierdiebstahl, Trunkenheit in der Öffentlichkeit, Anzünden von Heuschobern. Hatte es außer den Angriffen auf das Vieh noch andere Gewalttätigkeiten gegeben? Harry hatte eine vage Erinnerung an einen Vorfall aus der Zeit von Georges Verurteilung. Ein Überfall auf eine Mutter und ihre kleine Tochter. Zwei Burschen mit einem Messer. Hatte etwas Aufruhr ausgelöst, war aber nie vor Gericht gekommen. Ja, er würde sich gern um die Angelegenheit kümmern.

Sie gaben sich die Hand, und Harry brachte sie zu dem Geschäft des Eisenwarenhändlers, das zugleich als Lebensmittelgeschäft, Tuchhandlung und Postamt diente.

William Brookes war ein rundlicher kleiner Mann mit einem buschigen, weißen Backenbart, der einen gewissen Ausgleich zu seinem kahlen Schädel bildete; er trug eine grüne, mit den Jahren fleckig gewordene Schürze. Er ließ weder Herzlichkeit noch Misstrauen erkennen. Brookes wollte sie schon in ein Hinterzimmer führen, als Sir Arthur seinem Sekretär heimlich einen Stoß gab und erklärte, er brauche dringend einen Stiefelkratzer. Er zeigte heftiges Interesse an der zur Verfügung stehenden Auswahl, und als Kauf und Verpackung abgeschlossen waren, tat er, als sei der Rest ihres Besuchs nichts als ein glücklicher nachträglicher Einfall.

Im Lagerraum kramte Brookes so lange brummelnd in Schubladen herum, dass Sir Arthur sich schon fragte, ob er noch eine Zinkwanne und ein paar Besen kaufen müsste, um die Angelegenheit zu beschleunigen. Schließlich aber förderte der Eisenwarenhändler ein mit Bindfaden verschnürtes kleines Bündel stark verknitterter Briefe zutage. Arthur erkannte das Papier sofort, auf dem sie geschrieben waren; dieselbe billige Kladde war auch für die Briefe ans Pfarrhaus benutzt worden.

Brookes erinnerte sich, so gut es ging, an den fehlgeschlagenen Erpressungsversuch vor so langer Zeit. Angeblich hatten sein Sohn Frederick und ein weiterer Junge auf dem Bahnhof von Walsall eine alte Frau angespuckt, und er sollte Geld an das dortige Postamt schicken, wenn er eine strafrechtliche Verfolgung seines Sohnes vermeiden wollte.

»Sie haben damals nichts unternommen?«

»’türlich nicht. Schauen Sie sich die Briefe doch an. Sehen Sie sich die Handschrift an. Das war nur ein dummer Streich.«

»Sie haben nie daran gedacht zu bezahlen?«

»Nein.«

»Haben Sie erwogen, zur Polizei zu gehen?«

Brookes blies verächtlich die Backen auf. »Keine Minute. Nicht mal den Bruchteil einer Minute. Ich hab das ignoriert, und es ist vorbeigegangen. Aber der Pfarrer, der hat einen Riesenwirbel gemacht. Ist überall rumgelaufen und hat sich beschwert, hat an den Chief Constable geschrieben und so weiter, und was hat er davon gehabt? Hat alles nur noch schlimmer gemacht, stimmt’s? Für ihn und seinen Jungen. Nicht, dass ich ihm die Schuld gebe an dem, was passiert ist, verstehen Sie. Er hat nur nie begriffen, was das hier für ein Dorf ist. Er ist ein bisschen zu … sehr in seinen Ansichten befangen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Arthur äußerte sich dazu nicht. »Und warum hatte es der Erpresser Ihrer Meinung nach auf Ihren Jungen und den anderen abgesehen?«

Wieder blies Brookes die Backen auf. »Wie gesagt, Sir, das ist jetzt Jahre her. Zehn? Vielleicht auch mehr. Fragen Sie doch meinen Jungen, nun ja, er ist jetzt schon ein Mann.«

»Wissen Sie noch, wer dieser andere Junge war?«

»Wozu sollte ich mir das merken.«

»Wohnt Ihr Junge noch hier?«

»Fred? Nein, Fred ist längst fort. Er wohnt jetzt in Birmingham. Arbeitet am Kanal. Will den Laden nicht übernehmen.« Der Eisenwarenhändler schwieg kurz und fügte dann mit jäher Heftigkeit hinzu: »Der kleine Drecksack.«

»Und hätten Sie vielleicht seine Adresse?«

»Vielleicht. Und hätten Sie vielleicht noch einen Wunsch außer dem Stiefelkratzer?«

Auf der Rückfahrt nach Birmingham war Arthur in Hochstimmung. Immer wieder sah er die drei Päckchen neben Wood an, alle in braunes Ölpapier eingeschlagen und mit Bindfaden verschnürt, und lächelte über den Lauf der Welt.

»Was halten Sie von unserem Tagewerk, Alfred?«

Was er davon hielt? Was war die naheliegende Antwort? Nun ja, was war die wahre Antwort? »Um ganz ehrlich zu sein, ich glaube, wir haben keine großen Fortschritte gemacht.«

»Nein, besser noch. Wir haben in mehrere verschiedene Richtungen keine großen Fortschritte gemacht. Und wir brauchten wirklich einen Stiefelkratzer.«

»Ja? Ich dachte, wir hätten einen in Undershaw.«

»Seien Sie kein Spielverderber, Woodie. Es kann in einem Haushalt nie genug Stiefelkratzer geben. Eines schönen Tages ist er für uns der Edalji-Kratzer, und wenn wir dann unsere Stiefel daran abputzen, denken wir jedes Mal an dieses Abenteuer zurück.«

»Wenn Sie meinen.«

Arthur überließ Wood seiner seltsamen Stimmung und schaute aus dem Fenster auf die vorbeiziehenden Felder und Hecken. Er versuchte, sich George Edalji in diesem Zug vorzustellen, unterwegs ins Mason College, dann zu Sangster, Vickery & Speight, dann zu seiner eigenen Kanzlei in der Newhall Street. Er versuchte, sich George Edalji in dem Dorf Great Wyrley vorzustellen, wie er über die Feldwege streifte, zum Stiefelmacher ging, bei Brookes Einkäufe erledigte. Der junge Solicitor hätte – auch wenn er sich noch so vornehm ausdrückte und kleidete – selbst in Hindhead als seltsamer Kauz gegolten, und hier im tiefsten Staffordshire wirkte er zweifellos noch seltsamer. Er war eindeutig ein ausgezeichneter Bursche von scharfem Verstand und großer Charakterstärke. Doch auf den ersten Blick – zumal den ersten Blick eines ungebildeten Landarbeiters, eines dümmlichen Dorfpolizisten, eines engstirnigen englischen Geschworenen oder eines argwöhnischen Vorsitzenden der Quarter Sessions – sah man womöglich nicht mehr als braune Haut und eigentümliche Augen. Er käme einem seltsam vor. Und wenn dann seltsame Dinge passierten, brächte das, was man in einem unaufgeklärten Dorf unter Logik verstand, im Handumdrehen Mensch und Geschehen zusammen.

Und wenn die Vernunft – die wahre Vernunft – einmal auf der Strecke geblieben ist, verabschiedet man sich am besten gleich ganz von ihr. Die Tugenden eines Menschen werden zu seinen Fehlern umgemünzt. Selbstbeherrschung gilt als Heimlichtuerei, Intelligenz als Verschlagenheit. Und so wird aus einem ehrbaren, halbblinden Solicitor von schmächtiger Gestalt ein Entarteter, der in tiefster Nacht über die Felder schleicht und den wachsamen Augen von zwanzig Hilfspolizisten entgeht, nur damit er im Blut verstümmelter Tiere waten kann. Das ist so vollkommen verdreht, dass es schon wieder logisch erscheint. Und nach Arthurs Ansicht lief alles auf den eigentümlichen Sehfehler hinaus, den er im Foyer des Grand Hotel in Charing Cross sofort erkannt hatte. Darauf gründete sich die moralische Gewissheit der Unschuld George Edaljis, und darum war er zum Sündenbock geworden.

In Birmingham suchten sie Frederick Brookes in seinem möblierten Zimmer unweit des Kanals auf. Er taxierte die beiden Herren, die für ihn nach London rochen, erkannte das Einschlagpapier der drei Päckchen unter dem Arm des kleineren Herrn und verkündete, sein Preis für Auskünfte sei eine halbe Krone. Sir Arthur gewöhnte sich allmählich an die einheimischen Sitten und bot eine gleitende Skala von einem Shilling Threepence bis zwei Shilling Sixpence an, je nach Nützlichkeit der Antworten. Brookes willigte ein.

Fred Wynn, sagte er, sei der Name seines Gefährten gewesen. Ja, er war mit dem Klempner und Gasinstallateur von Wyrley verwandt. Ein Neffe vielleicht oder ein Vetter zweiten Grades. Wynn wohnte zwei Bahnstationen weiter, und sie gingen zusammen in Walsall zur Schule. Nein, er hatte gar keinen Kontakt mehr zu ihm. Und was diesen Vorfall damals vor vielen Jahren betraf, den Brief und die Spuckerei – er und Wynn waren sich damals ziemlich sicher gewesen, dass der Junge dahintersteckte, der das Abteilfenster eingeschlagen hatte und dann die Schuld auf sie beide schieben wollte. Sie wiederum hatten diesen Jungen beschuldigt, und die Herren von der Eisenbahngesellschaft hatten sie alle drei sowie Wynns Vater und Brookes Vater befragt. Aber es ließ sich nicht herausfinden, wer nun die Wahrheit sagte, darum erteilten sie am Ende einfach allen eine Verwarnung. Und damit war die Sache erledigt. Der andere Junge hieß Speck. Er wohnte irgendwo in der Nähe von Wyrley. Doch nein, Brookes hatte ihn seit Jahren nicht mehr gesehen.

Arthur notierte sich alles mit seinem silbernen Drehbleistift. Er befand, die Information sei zwei Shilling Threepence wert. Frederick Brookes erhob keinen Widerspruch.

Bei der Rückkehr in das Imperial Family Hotel wurde Arthur eine Nachricht von Jean übergeben.

Mein liebster Arthur,

ich bin gespannt, wie Deine großen Ermittlungen vorankommen. Wie gern wäre ich an Deiner Seite, während Du Beweise sammelst und Verdächtige befragst. Alles, was Du tust, bedeutet mir so viel wie mein eigenes Leben. Du fehlst mir, aber ich erfreue mich an dem Gedanken, was Du für Deinen jungen Freund zu erreichen suchst. Berichte alle Deine Erkenntnisse eilends an

Deine Dich innig liebende

Jean

Arthur war verblüfft. Für einen Liebesbrief war das ungewöhnlich direkt. Vielleicht war es gar kein Liebesbrief. Doch, natürlich. Aber irgendwie anders. Nun, Jean war ja auch anders – anders als alles, was er je gekannt hatte. Sie setzte ihn auch nach zehn Jahren noch in Erstaunen. Er war stolz auf sie und stolz auf sein Erstaunen.

Später, als Arthur die Nachricht ein letztes Mal an diesem Abend las, lag Alfred Wood in einem kleineren Zimmer auf einer höheren Etage wach. In der Dunkelheit konnte er auf seinem Toilettentisch gerade noch die drei eingeschlagenen Päckchen erkennen, die der verschmitzte Eisenwarenhändler ihnen verkauft hatte. Außerdem hatte Brookes Sir Arthur eine »Kaution« dafür abverlangt, dass er ihm die anonymen Briefe aus seinem Besitz leihweise überließ. Wood hatte sich absichtlich weder an Ort und Stelle noch später dazu geäußert, was wohl der Grund dafür war, dass sein Brotherr ihm im Zug vorwarf, er sei eingeschnappt.

Heute war ihm die Rolle eines assistierenden Detektivs zugefallen: Sir Arthurs Partner, beinahe schon Freund. Nach dem Abendessen waren sie als gleichberechtigte Rivalen an den Billardtisch getreten. Morgen würde er wieder seine übliche Stellung als Sekretär und Faktotum bekleiden und Diktate aufnehmen wie eine Stenographin. Diese Vielfalt von Funktionen und geistigen Ebenen störte ihn nicht. Er war seinem Brotherrn treu ergeben und diente ihm in jeder erforderlichen Eigenschaft fleißig und gewissenhaft. Wenn Sir Arthur wollte, dass er das Naheliegende und Offensichtliche aussprach, dann tat er das. Wenn Sir Arthur wollte, dass er das Naheliegende und Offensichtliche nicht aussprach, blieb er stumm.

Zugleich wurde von ihm erwartet, dass er das Offensichtliche nicht wahrnahm. Als in der Hotelhalle ein Angestellter mit einem Brief auf sie zugeeilt war, hatte er weder bemerkt, wie Sir Arthurs Hand zitterte, als er ihn entgegennahm, noch dass er ihn wie ein Schuljunge in der Tasche verschwinden ließ. Auch die Eile, mit der es seinen Brotherrn vor dem Abendessen in sein Zimmer zog, und dessen nachfolgende Fröhlichkeit während der gesamten Mahlzeit nahm er nicht wahr. Das war eine wichtige berufliche Fähigkeit – Beobachten ohne wahrzunehmen –, und sie war ihm in den letzten Jahren immer nützlicher geworden.

Er dachte, es werde eine Weile dauern, bis er sich auf Miss Leckie eingestellt hatte – allerdings glaubte er nicht, dass sie übers Jahr noch ihren Mädchennamen tragen würde. Er würde der zweiten Lady Conan Doyle so eifrig dienen wie der ersten, auch wenn er nicht ganz mit dem Herzen dabei war. Er wusste nicht recht, wie sehr er Jean Leckie mochte. Das war natürlich gar nicht von Belang. Ein Lehrer musste die Ehefrau des Rektors auch nicht mögen. Und man würde ihn nie um seine Meinung bitten. Darum war es gleichgültig. Doch während der acht oder neun Jahre, die sie nach Undershaw kam, hatte er sich oft bei dem Gedanken ertappt, ob sie wirklich ganz ohne Falsch sei. Irgendwann hatte sie seine Bedeutung im täglichen Leben Sir Arthurs erkannt und war daraufhin betont nett zu ihm gewesen. Mehr als nett. Plötzlich lag eine Hand auf seinem Arm, und dann war Miss Leckie sogar Sir Arthurs Beispiel gefolgt und hatte ihn Woodie genannt. Er hielt das für eine Vertraulichkeit, die sie sich nicht verdient hatte. Selbst Mrs Doyle – wie er sie in Gedanken stets nannte – hätte diese Anrede nicht gebraucht. Miss Leckie machte viel Aufhebens von ihrer Natürlichkeit, so, als könne sie manchmal nur mit Mühe eine große instinktive Herzlichkeit zurückhalten; doch auf Wood wirkte das wie eine Art Koketterie. Er wäre jede Wette eingegangen, dass Sir Arthur das nicht so sah. Sein Brotherr behauptete gern, das Golfspiel sei wie eine kokette Frau; Wood hatte allerdings den Eindruck, der Sport treibe ein ehrlicheres Spiel mit einem Mann als die meisten Frauen.

Auch das war gleichgültig. Wenn Sir Arthur bekam, was er wollte, und Jean Leckie auch, und sie miteinander glücklich waren, was war dagegen einzuwenden? Doch es trug noch zu Alfred Woods Erleichterung darüber bei, dass er selbst sich nie mit Heiratsgedanken getragen hatte. Er sah keinen Vorteil in diesem Arrangement, außer unter hygienischen Gesichtspunkten. Man heiratete eine treue Frau, und dann langweilte man sich mit ihr; man heiratete eine hinterhältige und merkte nicht, dass man an der Nase herumgeführt wurde. Dies waren anscheinend die beiden einzigen Alternativen für einen Mann.

Sir Arthur warf ihm oft vor, er sei launenhaft. Er selbst hielt sich eher für schweigsam – und für jemanden, der sich seine naheliegenden Gedanken machte. Zum Beispiel über Mrs Doyle: über glückliche Tage in Southsea, arbeitsreiche in London und die langen, traurigen Monate am Ende. Und auch über die künftige Lady Conan Doyle und den Einfluss, den sie womöglich auf Sir Arthur und den Haushalt hätte. Über Kingsley und Mary und wie sie auf eine Stiefmutter – genauer gesagt, auf diese bestimmte Stiefmutter – reagieren würden. Kingsley würde zweifellos darüber hinwegkommen: Er hatte jetzt schon die fröhliche Männlichkeit seines Vaters. Doch um Mary machte sich Wood etwas Sorgen, sie war so ein unbeholfenes, sehnsüchtiges Mädchen.

Nun, das war für heute genug. Nur eins noch: Er dachte, er werde am Morgen vielleicht den Stiefelkratzer und die anderen Päckchen aus Versehen hier liegen lassen.

In Undershaw zog Arthur sich in sein Arbeitszimmer zurück, stopfte seine Pfeife und begann mit der Ausarbeitung eines Schlachtplans. Es lag auf der Hand, dass der Angriff von zwei Seiten erfolgen musste. Der erste Vorstoß würde ein für alle Mal erweisen, dass George Edalji unschuldig war; nicht nur aufgrund irreführender Zeugenaussagen zu Unrecht verurteilt, sondern voll und ganz unschuldig, hundertprozentig unschuldig. Der zweite Vorstoß würde den wahren Täter namhaft machen, das Innenministerium zum Eingeständnis seiner Fehler zwingen und in ein neues Strafverfahren münden.

Als Arthur sich an die Arbeit machte, fühlte er sich wieder auf vertrautem Terrain. Es war wie der Anfang eines neuen Buchs: Man hatte die Handlung, aber nicht ganz; die meisten Figuren, aber nicht alle; einige, aber nicht alle Kausalverbindungen. Man hatte den Anfang, und man hatte das Ende. Man musste eine Vielzahl von Themen gleichzeitig im Kopf behalten. Einige davon waren in Bewegung, andere statisch; manche rasten nur so dahin, andere widersetzten sich aller geistigen Energie, die man auf sie verwenden mochte. Nun, das war er gewöhnt. Und darum stellte er die wesentlichen Punkte wie bei einem Roman tabellarisch dar und versah sie mit kurzen Anmerkungen.

1. PROZESS

Es war ein Vorteil des Ruhms, das gab Arthur zu, dass sein Name ihm Türen öffnete. Ob er nun einen Schmetterlingskundler brauchte oder einen Fachmann für die Geschichte des Langbogens, einen Amtsarzt oder einen Chief Constable – normalerweise würde seine Bitte um ein Gespräch nur ein Lächeln hervorrufen. Dieses Privileg hatte er zum Großteil Holmes zu verdanken – obwohl er Holmes nur widerwillig dankte. Als er seinen beratenden Detektiv ersann, hatte er nicht ahnen können, dass der sich einmal in einen Generalschlüssel verwandeln würde.

Er zündete seine Pfeife neu an und wandte sich dem zweiten Teil seiner thematischen Aufstellung zu.

2. TÄTER

Und das war im Moment eigentlich alles. Arthur paffte seine Pfeife, ließ den Blick über die Aufstellungen schweifen und überlegte, welche Punkte weitere Erkenntnisse versprachen. Farrington zum Beispiel. Farrington war ein raubeiniger Bergarbeiter, der für die Wyrley Colliery arbeitete und im Frühjahr ’04 – gerade um die Zeit, als George von Lewes nach Portland verlegt wurde – wegen Verstümmelung eines Pferdes, zweier Schafe und eines Lamms verurteilt worden war. Die Polizei behauptete selbstverständlich, dieser ungehobelte Bursche, der weder lesen noch schreiben konnte und ständig in Wirtshäusern herumhockte, sei ein Komplize des als kriminell bekannten Edalji. Eindeutig verwandte Seelen, dachte Arthur sarkastisch. Ob Farrington ihn wohl weiterbrächte? Ob er lediglich ein Nachahmungstäter war?

Vielleicht konnte er aus dem geschäftstüchtigen Brookes und dem geheimnisvollen Speck etwas herausholen. Speck war ein seltsamer Name – der ihn im Moment allerdings gedanklich nur nach Südafrika führte. Dort hatte er viel Speck gegessen, der in den afrikanischen Kolonien ein beliebtes Nahrungsmittel war. Im Unterschied zum britischen Speck konnte er von allen möglichen Tieren stammen – ja, er erinnerte sich, einmal Nilpferdspeck gegessen zu haben. Wo war das gleich gewesen? In Bloemfontein oder auf der Reise nach Norden?

Jetzt schweiften seine Gedanken ab. Und Arthurs Erfahrung nach musste man erst seinen Kopf klären, bevor man sich konzentrieren konnte. Holmes hätte wohl auf seiner Geige gespielt oder sich dem Genuss hingegeben, der seinem Schöpfer mittlerweile peinlich war. Keine Kokainspritze für Arthur: Er schwor auf eine Tasche voller Golfschläger mit Hickoryschaft.

Er hatte immer gemeint, das Spiel sei – theoretisch – perfekt auf ihn zugeschnitten. Es verlangte ein gutes Auge, Verstand und Körpergeschick: genau die richtige Kombination für einen Ophthalmologen, der zum Schriftsteller geworden war und sich seine körperliche Vitalität bewahrt hatte. So weit jedenfalls die Theorie. In der Praxis war Golf wie eine lockende Verführerin, die sich dann doch wieder entzog. Auf dem ganzen Erdball hatte sie schon ihr Possenspiel mit ihm getrieben.

Auf der Fahrt zum Clubhaus von Hankley musste er wieder an die rudimentäre Anlage vor dem Hotel Mena House denken. Dort landete ein Slice womöglich im Bunker eines Grabs von irgendeinem Ramses oder Thothmes von ehedem. Eines Nachmittags hatte ein Passant Arthurs kraftvolles, aber erratisches Spiel taxiert und bissig bemerkt, seines Wissens seien Ausgrabungen in Ägypten mit einer Sondersteuer belegt. Noch verrückter aber war die Runde Golf gewesen, die er mit Kipling bei dessen Haus in Vermont gespielt hatte. Das war um Thanksgiving herum, es lag bereits hoher Schnee, und jeder geschlagene Ball wurde umgehend unsichtbar. Zum Glück kam einer von ihnen – sie stritten immer noch darum, wer es gewesen war – auf die Idee, die Bälle rot anzumalen. Damit hörte die Verrücktheit aber noch nicht auf, denn die eisige Schneekruste ließ jeden auch nur annähernd anständigen Schlag phantastisch rollen. Irgendwann hatten er und Rudyard ihre Drives von einem abschüssigen Hang abgeschlagen; es gab keinen Grund, warum die leuchtend bunten Bälle jemals Halt machen sollten, und so schlitterten sie ganze zwei Meilen weit bis in den Connecticut River. Zwei Meilen: Das hatten er und Rudyard immer steif und fest behauptet, und wenn gewisse Clubhäuser da skeptisch waren, sollte sie der Teufel holen.

Heute aber zeigte sich die kokette Verführerin von der freundlichen Seite, und auf dem achtzehnten Fairway sah er noch Chancen, unter 80 zu bleiben. Wenn er mit seinem Niblick so weit pitchen würde, dass er einlochen könnte … Als er zum Schlag ansetzte, wurde ihm plötzlich bewusst, dass er nicht mehr oft auf diesem Platz spielen würde. Aus dem einfachen Grund, dass er aus Undershaw fortziehen musste. Aus Undershaw fortziehen? Unmöglich, antwortete er automatisch. Ja, aber dennoch unumgänglich. Er hatte das Haus für Touie gebaut, die dessen erste und einzige Herrin gewesen war. Wie könnte er Jean als seine Braut dorthin führen? Das wäre nicht nur ehrlos, sondern geradezu unanständig. Dass Touie in ihrer Engelsgüte von der Möglichkeit gesprochen hatte, dass er wieder heiraten könnte, war gut und schön; doch eine zweite Frau in dieses Haus zu führen und dort mit ihr eben die Wonnen zu genießen, die ihm und Touie jede Nacht ihres gemeinsamen Lebens unter diesem Dach verboten gewesen waren, das war eine ganz andere Sache.

Natürlich kam das überhaupt nicht in Frage. Aber war es nicht äußerst taktvoll und klug von Jean, ihn nicht darauf anzusprechen, sondern ihn selbst zu dieser Erkenntnis finden zu lassen? Sie war wirklich eine außergewöhnliche Frau. Und es rührte ihn auch, dass sie sich in dem Fall Edalji engagieren wollte. Für einen Gentleman gehörte es sich nicht, Vergleiche anzustellen, doch Touie hätte zwar sein Vorhaben gutgeheißen, wäre aber über einen Misserfolg ebenso glücklich gewesen wie über einen Erfolg. Das würde für Jean sicherlich auch gelten; doch ihr Interesse änderte alles. Nun wollte er unbedingt einen Erfolg für George erzielen, im Namen der Gerechtigkeit, im Namen – um noch höher zu greifen – der Ehre seines Landes; aber auch für die geliebte Frau. Es wäre eine Trophäe, die er ihr zu Füßen legen konnte.

Von solchen Gefühlen beherrscht, schlug Arthur seinen ersten Putt ganze vier Meter am Loch vorbei, den nächsten fast zwei Meter zu kurz, sodass er es auch diesmal verfehlte. 82 statt 79: Ja, Frauen hatten auf dem Golfplatz wirklich nichts zu suchen. Man sollte sie nicht nur von Fairway und Grün verbannen, sondern auch aus den Köpfen der Spieler, sonst würde Chaos ausbrechen, wie eben jetzt. Jean hatte einmal überlegt, mit dem Golfspielen zu beginnen, und damals hatte er mit zurückhaltender Begeisterung reagiert. Doch es war eindeutig keine gute Idee. Nicht nur der Zugang zur Wahlurne sollte dem schönen Geschlecht im Interesse der staatsbürgerlichen Eintracht versperrt bleiben.

Bei der Rückkehr nach Undershaw sah er, dass mit der Nachmittagspost ein Brief von Mr Kenneth Scott vom Manchester Square gekommen war.

»Da haben wir’s!«, rief er und stieß die Tür zu Woods Büro auf. »Da haben wir’s!«

Sein Sekretär schaute auf das ihm vorgelegte Blatt. Er las:

Rechtes Auge: 8.75 dpt sph
1.75 dpt cyl a 90°
Linkes Auge: 8.25 dpt sph

»Scott hat auf meine Bitte hin die Akkomodation mit Atropin gelähmt, damit das Ergebnis absolut patientenunabhängig ist. Nur für den Fall, dass jemand behauptet, George täusche Blindheit vor. Das ist genau das, was ich mir erhofft habe. Hieb- und stichfest! Unanfechtbar!«

»Darf ich fragen«, sagte Wood, dem die Rolle des Watson an diesem Tag leichter fiel, »was das genau bedeutet?«

»Das bedeutet, das bedeutet … ich kann mich nicht erinnern, in meiner gesamten Zeit als praktizierender Okulist je eine so hochgradige astigmatische Myopie korrigiert zu haben. Hier, hören Sie nur, was Scott schreibt.« Er riss den Brief wieder an sich. »›Wie alle Kurzsichtigen muss Mr Edalji fortwährend Mühe haben, mehr als einige Zentimeter entfernte Gegenstände deutlich zu erkennen, und im Dämmerlicht wäre er praktisch außerstande sich zurechtzufinden, wenn ihm die Örtlichkeiten nicht vollkommen vertraut sind.‹

Mit anderen Worten, Alfred, mit anderen Worten, meine Herren Geschworenen, er ist so blind wie der sprichwörtliche Maulwurf. Nur dass dieser Maulwurf sich, anders als unser Freund, in dunkler Nacht auf einem Feld schon zurechtfinden würde. Ich weiß, was ich jetzt tue. Ich fordere zu einer Wette auf. Ich erbiete mich, eine Brille nach dieser Verordnung anfertigen zu lassen, und verbürge mich dafür, dass kein Anhänger der Polizei mit dieser Brille nachts den Weg vom Pfarrhaus zum Feld und wieder zurück in weniger als einer Stunde zurücklegen kann. Dafür setze ich meinen guten Ruf aufs Spiel. Warum schauen Sie so skeptisch, mein Herr Geschworener?«

»Ich habe Ihnen nur zugehört, Sir Arthur.«

»Nein, Sie haben skeptisch geschaut. Ich weiß doch, wie ein skeptischer Blick aussieht. Na los, stellen Sie die naheliegende Frage.«

Wood seufzte. »Ich habe nur überlegt, ob Georges Augen in drei Jahren im Zuchthaus nicht schlechter geworden sein könnten.«

»Aha! Ich hab mir schon gedacht, dass Sie das denken könnten. Das ist absolut nicht der Fall. Georges Sehschwäche ist chronisch und organisch bedingt. Das ist amtlich. Demnach war sie 1903 genauso ausgeprägt wie jetzt. Und damals hatte er noch nicht einmal eine Brille. Noch weitere Fragen?«

»Nein, Sir Arthur.« Es lag ihm allerdings eine Bemerkung auf der Zunge, die er nicht zu äußern wagte. Sein Brotherr mochte in der Tat während seiner gesamten Tätigkeit als Okulist nie einer derart starken astigmatischen Kurzsichtigkeit begegnet sein. Andererseits hatte Wood oft gehört, wie er eine Tischgesellschaft mit der Geschichte ergötzte, er habe das allerleerste Wartezimmer am Devonshire Place sein eigen genannt, und durch diesen phänomenalen Patientenmangel habe er Zeit gehabt, seine Bücher zu schreiben.

»Ich glaube, ich verlange dreitausend.«

»Dreitausend was?«

»Pfund, Mann, Pfund. Ich beziehe mich dabei auf den Fall Beck.«

Woods Miene war ein einziges Fragezeichen.

»Der Fall Beck, Sie erinnern sich doch sicher an den Fall Beck? Wirklich nicht?«

Sir Arthur schüttelte scherzhaft-tadelnd den Kopf. »Adolf Beck. Norwegischer Herkunft, soweit ich mich erinnere. Verurteilt wegen betrügerischen Verhaltens gegenüber Frauen. Man hielt ihn für einen ehemaligen Sträfling namens – ausgerechnet! – John Smith, der wegen ähnlicher Vergehen im Gefängnis gesessen hatte. Beck bekam sieben Jahre Zuchthaus. Vor etwa fünf Jahren wurde er bedingt entlassen. Drei Jahre später erneut festgenommen. Wieder für schuldig befunden. Dem Richter kamen Zweifel, das Urteil wurde aufgeschoben, und wer taucht in der Zwischenzeit auf – der eigentliche Betrüger Mr Smith. An eine Einzelheit des Falls erinnere ich mich noch gut. Woher wusste man, dass Beck und Smith nicht ein und dieselbe Person waren? Der eine war beschnitten, der andere nicht. Von solchen Kleinigkeiten hängt bisweilen die ganze Gerechtigkeit ab.

Ah. Jetzt sehen Sie noch verwirrter aus als vorher. Durchaus verständlich. Der springende Punkt. Zwei springende Punkte. Erstens, Beck wurde aufgrund der falschen Identifizierung durch mehrere Zeuginnen verurteilt. Zehn oder elf, um genau zu sein. Ich enthalte mich jeden Kommentars. Er wurde aber auch aufgrund des eindeutigen Gutachtens eines gewissen Sachverständigen für gefälschte und anonyme Handschriften verurteilt. Unseres alten Freundes Thomas Gurrin. Der wurde vor den Untersuchungsausschuss zum Fall Beck zitiert und musste zugeben, dass sein Gutachten zweimal zur Verurteilung eines Unschuldigen geführt hatte. Und ein knappes Jahr vor diesem Eingeständnis seiner Unfähigkeit schwor er tausend Eide gegen George Edalji. Meiner Ansicht nach sollte ihm jeder weitere Auftritt im Zeugenstand verboten werden, und jeder Fall, an dem er beteiligt war, sollte erneut überprüft werden.

Aber egal, Punkt zwei. Nach dem Bericht des Untersuchungsausschusses wurde Beck begnadigt und bekam fünftausend Pfund aus der Staatskasse zugesprochen. Fünftausend Pfund für fünf Jahre. Sie können sich den Tarif selbst ausrechnen. Ich fordere dreitausend.«

Die Kampagne kam voran. Er würde an Dr. Butter schreiben und um ein Gespräch bitten; an den Rektor der Schule von Walsall, um Erkundigungen über den Jungen Speck einzuholen; an Captain Anson, um die Polizeiakten über diesen Fall einsehen zu dürfen; und an George, um ihn zu fragen, ob er in Walsall je in irgendwelche Händel verwickelt gewesen war. Er würde den Bericht über den Fall Beck einsehen und sich das ganze Ausmaß von Gurrins Erniedrigung bestätigen lassen, und vom Innenministerium würde er in aller Form eine neue und abschließende Untersuchung der ganzen Angelegenheit fordern.

In den nächsten Tagen wollte er sich mit den anonymen Briefen befassen und versuchen, ihnen ihre Anonymität zu nehmen, indem er von der Graphologie zur Psychologie und weiter zu einer möglichen Identität gelangte. Dann würde er das Dossier an Dr. Lindsay Johnson senden, damit dieser fachmännische Vergleiche mit Proben von Georges Handschrift anstellte. Johnson war die größte Kapazität in ganz Europa und von Maître Labori in der Dreyfus-Affäre hinzugezogen worden. Ja, dachte er: Wenn ich mit alldem fertig bin, mache ich aus dem Fall Edalji einen ebensolchen Skandal, wie sie es drüben in Frankreich aus der Dreyfus-Affäre gemacht haben.

Er setzte sich mit den Briefbündeln, einer Lupe, einem Notizbuch und seinem Drehbleistift an den Schreibtisch. Er holte tief Luft und löste dann langsam, vorsichtig, als könnte ein böser Geist daraus entfleuchen, die Bänder von den Päckchen des Pfarrers und den Bindfaden von dem Brookes. Die Briefe des Pfarrers waren mit Bleistift datiert und in der Reihenfolge des Eintreffens nummeriert; die des Eisenwarenhändlers wiesen keine erkennbare Ordnung auf.

Er las sie durch, las sich durch all den giftigen Hass und die anzügliche Vertraulichkeit, die Prahlerei und den Wahnsinn, die großspurigen Behauptungen und die Banalität. Ich bin Gott ich bin der allmächtige Gott ich bin ein Narr ein Lügner ein Verleumder ein Denunziant Oh ich mache dem Mann von der Post die Hölle heiß. Es war lächerlich, doch eine Lächerlichkeit um die andere ergab eine Grausamkeit, dass die Opfer darunter hätten geistig zusammenbrechen können. Während Arthur weiterlas, ließen seine Wut und sein Abscheu allmählich nach, und er versuchte, sich in die Formulierungen zu vertiefen. Ihr dreckigen Denunzianten ihr wollt wohl zwölf Monate im Zuchthaus sitzen … Ich bin ein ganz gerissener Bruder … Du großer dicker Lump jetzt hab ich dich du dreckiger Schuft du verdammtes Biest … Ich kenne alle feinen Pinkel und wenn ich ausseh wie ein Teufelskerl dann ist mein Gesicht nicht schlechter als deins … Wer hat Mittwochnacht die Eier geklaut, na du doch oder dein Handlanger aber sie bringen mich bestimmt nicht an den Galgen …

Er las und las, sortierte und sortierte, analysierte, verglich, machte Anmerkungen. Schritt für Schritt wurden aus Andeutungen Verdachtsmomente und dann Hypothesen. Zunächst einmal war, ob es nun eine Bande von Tierschlitzern gab oder nicht, zweifellos eine Bande von Briefeschreibern am Werk gewesen. Von drei Briefeschreibern, mutmaßte er: zwei jungen Erwachsenen und einem Jungen. Die beiden Erwachsenen schienen bisweilen miteinander zu verschmelzen, doch er konnte auch einen Unterschied erkennen. Der eine war ausschließlich bösartig, während der andere Anfälle von religiösem Wahn hatte, in denen mal hysterische Frömmigkeit, mal unerhörte Gotteslästerung zum Ausbruch kam. Dieser Schreiber unterzeichnete als Satan, als Gott und als die theologische Vereinigung beider, nämlich Gott Satan. Der Junge hingegen war ausgesprochen unflätig, und Arthur schätzte sein Alter auf zwölf bis sechzehn Jahre. Die Erwachsenen rühmten sich auch ihres Fälschertalents. »Glaubst du, wir könnten die Handschrift deines Kindes nicht nachmachen?«, hatte einer von ihnen 1892 an den Pfarrer geschrieben. Und zum Beweis war eine ganze Seite sorgfältig mit glaubhaften Unterschriften der gesamten Familie Edalji, der Familie Brookes und anderer aus der Gegend gefüllt worden.

Ein großer Teil der Briefe war auf dem gleichen Papier und in ähnlichen Umschlägen angekommen. Manchmal begann ein Verfasser und übergab dann an einen anderen: den Ergüssen Gott Satans folgten auf demselben Blatt das primitive Gekritzel und die – in jedem Sinne des Wortes – derben Zeichnungen des Jungen. Das legte die Vermutung nahe, dass alle drei unter demselben Dach wohnten. Wo mochte dieses Dach stehen? Da mehrere Briefe persönlich bei den Opfern in Wyrley abgegeben worden waren, konnte man vernünftigerweise davon ausgehen, dass es höchstens ein, zwei Meilen entfernt war.

Dann stellte sich die Frage, unter was für einem Dach drei solche Schreiberlinge Platz fänden. Eine Institution, die junge Männer verschiedenen Alters beherbergte? Eine besondere Schule vielleicht? Arthur konsultierte Verzeichnisse von Lehranstalten, fand aber nichts im engeren Umkreis. Waren die Übeltäter womöglich drei Schreiber in einem Büro oder drei Gehilfen in einem Betrieb? Je mehr er über die Angelegenheit nachdachte, desto mehr neigte er zu dem Schluss, dass alle derselben Familie angehörten, zwei ältere Brüder und ein jüngerer. Manche Briefe waren ausgesprochen lang, was für einen Haushalt von Faulenzern sprach, die Zeit im Überfluss hatten.

Er brauchte nähere Angaben. Zum Beispiel schien die Schule von Walsall ein konstanter Faktor zu sein, doch wie bedeutsam war dieser Faktor? Und was war dann mit diesem Brief? Hier bezog sich der mit dem religiösen Wahn offensichtlich auf Milton. Das Verlorene Paradies, Erstes Buch: der Sturz Satans und der brennende Höllensee, den der Briefeschreiber als seinen eigenen Bestimmungsort bezeichnete. Wenn es nach Arthur ginge, käme er ganz sicher dorthin. Das war also eine weitere Frage an den Rektor: Hatte Das Verlorene Paradies je auf dem Lehrplan der Schule gestanden, und wenn ja, wann, und wie viele Jungen hatten es gelesen, und war einer besonders davon angetan gewesen? Klammerte er sich jetzt an Strohhalme, oder ging er jeder Möglichkeit nach? Schwer zu entscheiden.

Er las die Briefe vorwärts; er las sie rückwärts; er las sie in willkürlicher Folge; er mischte sie wie ein Kartenspiel. Und dann blieb sein Blick an einer Stelle hängen, und fünf Minuten später stand er im Büro seines Sekretärs und knallte die Tür hinter sich zu.

»Alfred, ich gratuliere Ihnen. Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen.«

»Ach ja?«

Arthur warf einen Brief auf Woods Schreibtisch. »Da, sehen Sie. Und da, und da.« Der Sekretär verfolgte verständnislos, wohin Arthurs Finger stieß.

»Welchen Nagel habe ich getroffen?«

»Da, Mann, sehen Sie doch: Junge muss fort auf hohe See. Und hier: Wellen rollen über dich hinweg. Das ist der erste Brief von Greatorex, verstehen Sie? Und hier noch einmal: Sie bringen mich bestimmt nicht an den Galgen, sondern schicken mich fort auf hohe See

Woods Miene machte deutlich, dass ihm das Offensichtliche entging.

»Die Unterbrechung, Woodie, die Unterbrechung. Die sieben Jahre. Warum diese Unterbrechung, habe ich gefragt, warum diese Unterbrechung? Und Sie haben geantwortet, Weil er nicht da war. Und ich habe gesagt, Wo war er denn, und Sie haben geantwortet, Vielleicht war er auf hoher See. Und hier ist der erste anonyme Brief nach dieser Pause von sieben Jahren. Ich prüfe das noch einmal extra nach, aber ich wette um Ihr Gehalt, dass es in allen früheren Briefen keinen einzigen Hinweis auf die hohe See gibt.«

»Nun ja«, sagte Wood und gestattete sich einen Hauch von Selbstgefälligkeit, »es schien mir tatsächlich eine mögliche Erklärung zu sein.«

»Und falls Sie noch den geringsten Zweifel hegen« – nur war der Sekretär ja eben erst für seine brillanten Gedanken beglückwünscht worden und darum eigentlich nicht zu Zweifeln aufgelegt – »liefert der Ort, von dem der letzte Streich ausging, den endgültigen Beweis.«

»Da müssen Sie meinem Gedächtnis leider auf die Sprünge helfen, Sir Arthur.«

»Dezember 1895, Sie erinnern sich? Eine Annonce in einer Blackpooler Zeitung, in der die gesamte Einrichtung des Pfarrhauses zum Verkauf per Versteigerung angeboten wurde.«

»Ja?«

»Kommen Sie, Mann, kommen Sie. Blackpool, was ist Blackpool? Da fährt man von Liverpool aus hin, um sich zu vergnügen. Dort hat er sich eingeschifft, in Liverpool. Ist doch sonnenklar.«

An diesem Nachmittag hatte Alfred Wood viel zu tun. Ein Brief an den Rektor der Schule von Walsall mit Fragen zum Unterricht über Milton; einer an Harry Charlesworth mit der Anweisung, alle Einheimischen ausfindig zu machen, die zwischen 1896 und 1903 zur See gefahren waren, und einen Jungen oder Mann namens Speck aufzuspüren; und einer an Dr. Lindsay Johnson mit der Bitte, möglichst umgehend die Briefe im beiliegenden Dossier mit den bereits vorgelegten, eigenhändig von George Edalji geschriebenen zu vergleichen. Arthur schrieb währenddessen an die Mama und Jean, um sie von seinen Fortschritten in dem Fall zu unterrichten.

Am nächsten Morgen lag ein Brief in einem vertrauten Umschlag in der Post. Er war in Cannock abgestempelt:

Werter Herr,

hiermit teilen wir Ihnen in aller Kürze mit, dass wir Polizeispitzel sind und wissen, dass Edalji das Pferd getötet und die Briefe geschrieben hat. Hat keinen Sinn, es auf andere schieben zu wollen. Es war Edalji, und das wird bewiesen werden, denn er ist kein rechter Kerl und …

Arthur drehte das Blatt um, las weiter und brüllte wie ein Stier:

… man konnte in Walsall überhaupt nichts lernen als das verdammte Schwein Aldis in der Oberschule das Sagen hatte. Er wurde gefeuert nachdem die Verwaltung ein paar Briefe über ihn erhalten hatte. Ha, ha.«

Der Rektor der Schule von Walsall erhielt eine zusätzliche Anfrage, unter welchen Umständen sein Vorgänger ausgeschieden sei; dann wurde dieses neue Beweisstück an Dr. Lindsay Johnson weitergeleitet.

In Undershaw schien alles ruhig. Die Kinder waren fort: Kingsley in seinem ersten Halbjahr in Eton, Mary in Prior’s Field, Godalming. Das Wetter war düster; Arthur nahm seine einsamen Mahlzeiten am prasselnden Kamin ein; abends spielte er mit Woodie Billard. Er sah bereits seinen fünfzigsten Geburtstag am Horizont – falls ein Horizont nur zwei kurze Jahre entfernt sein konnte. Er spielte immer noch Cricket, und hin und wieder gelang ihm ein wunderschöner Schlag, für den der gegnerische Kapitän freundlicherweise ein lobendes Wort fand. Allzu häufig aber stand er wartend da, sah einen respektlosen Bowler mit wirbelnden Armen auf sich zu rennen, spürte einen dumpfen Schlag auf seine Schutzpolster, starrte wütend über den Platz zum Schiedsrichter und hörte aus zwanzig Meter Entfernung das abschlägige Urteil: »Bedaure sehr, Sir Arthur.« Eine Entscheidung, gegen die keine Berufung möglich war.

Er musste wohl einsehen, dass seine ruhmreichen Tage vorüber waren. Da hatte er in einer Saison gegen Cambridgeshire sieben Wickets genommen und dafür nur 61 Runs kassiert und sich in der nächsten das Wicket von W. G. Grace geholt. Zugegeben, dieser legendäre Spieler hatte bereits hundert Runs geschlagen, als Arthur als fünftklassiger Bowler daherkam und ihn mit seiner Off-Spin-Theorie in die Knie zwang, direkt stümperhaft. Dennoch, hinterher stand in den Scorebooks: W. G. Grace out – gefangen von W. Storer – Bowler A. I. Conan Doyle. Zur Feier dieses Triumphs hatte er ein komisch-heroisches Gedicht von neunzehn Strophen verfasst; doch weder seine Verse noch die Heldentat, die sie für die Nachwelt festhielten, konnten ihn in Wisden’s Almanack bringen. Kapitän von England, wie Partridge einst geweissagt hatte? Eher schon Kapitän im Match Schriftsteller gegen Schauspieler, wie letzten Sommer auf dem Lord’s. An jenem Junitag hatte er als Schlagmann das Spiel mit Wodehouse eröffnet, der komischerweise direkt out war, ohne einen einzigen Punkt zu machen. Arthur selbst schaffte zwei Punkte und Hornung spielte erst gar nicht. Horace Bleakley hatte vierundfünfzig Punkte erzielt. Vielleicht gaben die besten Schriftsteller die schlechtesten Cricketspieler ab.

Und beim Golf war es das Gleiche, auch dort wurde die Kluft zwischen Traum und Wirklichkeit mit jedem Jahr größer. Aber Billard … also, Billard war ein Spiel, bei dem der Niedergang nicht automatisch auf der Tagesordnung stand. Da konnte man ohne erkennbare Verfallserscheinungen weiterspielen, auch wenn man die Fünfzig, die Sechzig, sogar die Siebzig überschritten hatte. Die Körperkraft war nicht das Entscheidende; es kam auf Erfahrung und Taktik an. Kiss Cannons, Ricochet Cannons, Postman’s Knock, Nursery Cannons an der Kopfbande – was für ein Spiel. Warum sollte er mit ein bisschen mehr Übung und vielleicht dem einen oder anderen Rat von einem Profi nicht zum English Amateur Championship antreten? Seine Long Jennies müsste er natürlich noch verbessern. Er sollte sich jedes Mal sagen: Setz den Ball im Baulk für einen einfachen halben Ball in die obere Tasche auf, und dann spiel ihn ruhig und mit so viel Effet, wie du nur kannst. Wood hatte kaum Probleme mit seinen Long Jennies; bei den Zweibändern hatte er allerdings noch einen weiten Weg vor sich, wie Arthur ihm ständig vor Augen hielt.

Er ging auf die Fünfzig zu: Bald begann, wenn auch mit Verzögerung, seine zweite Lebenshälfte. Er hatte Touie verloren und Jean gefunden. Er hatte sich von dem wissenschaftlichen Materialismus losgesagt, in den er eingeführt worden war, und einen Weg gefunden, die große Tür zum Jenseits einen Spalt aufzustoßen. Witzbolde behaupteten gern, da den Engländern jeder spirituelle Instinkt abgehe, hätten sie das Cricketspiel erfunden, um ein Gefühl von Ewigkeit zu bekommen. Ignorante Zuschauer bildeten sich ein, Billard sei die endlose Wiederholung des Gleichen. Das war beides dummes Zeug. Die Engländer zeigten ihre Gefühle nicht gern, das stimmte schon – sie waren keine Italiener –, doch sie waren ebenso spirituell veranlagt wie jedes andere Volk. Und zwei Billardstöße waren niemals gleich, so wenig wie zwei menschliche Seelen einander gleich waren.

Er besuchte Touies Grab in Grayshott. Er legte Blumen darauf, er weinte, und als er gehen wollte, ertappte er sich bei der Überlegung, wann er das nächste Mal wiederkommen würde. In der folgenden Woche oder in zwei Wochen? Und danach? Und danach? Irgendwann würden die Blumen aufhören und seine Besuche seltener werden. Er würde mit Jean ein neues Leben anfangen, vielleicht in Crowborough, in der Nähe ihrer Eltern. Es würde … beschwerlich werden, Touie zu besuchen. Er würde sich einreden, es sei genug, wenn er an sie dächte. Jean würde ihm – so es Gott gefiel – Kinder schenken. Wer würde Touie dann besuchen? Er schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken zu vertreiben. Es war sinnlos, künftige Schuld vorwegzunehmen. Man musste nach seinen besten Grundsätzen handeln und alles Weitere so nehmen, wie es kam.

Dennoch zog es ihn bei der Rückkehr nach Undershaw – bei der Rückkehr in Touies leeres Haus – in ihr Schlafzimmer. Er hatte es nicht umgestalten oder renovieren lassen – wie könnte er? Da stand also das Bett, in dem sie um drei Uhr morgens gestorben war, als der Duft von Veilchen in der Luft lag und ihre zarte Hand in seiner großen, plumpen Pranke ruhte. Mary und Kingsley hatten artig, aber erschöpft und verschreckt dabeigesessen. Touie hatte sich mit ihrem beinahe letzten Atemzug aufgerichtet und zu Mary gesagt, sie solle sich um Kingsley kümmern … Arthur seufzte und trat ans Fenster. Vor zehn Jahren hatte er diesen Raum für sie ausgesucht, weil man von hier den besten Blick hatte, in den Garten hinunter und auf das eigene, spitz zulaufende Tal, wo die Wälder sich trafen. Touies Schlafzimmer, ihr Krankenzimmer, ihr Sterbezimmer – er hatte sich stets bemüht, ihr alles so angenehm und schmerzlos zu machen, wie er nur konnte.

Das hatte er sich gesagt – hatte es sich und anderen so oft gesagt, dass er es am Ende selbst glaubte. Hatte er sich fortwährend etwas vorgemacht? Denn dies war ebender Raum, in dem Touie wenige Wochen vor ihrem Tod ihrer Tochter erklärte, dass ihr Vater wieder heiraten werde. Als Mary ihm von diesem Gespräch berichtete, hatte er die Sache auf die leichte Schulter nehmen wollen – eine törichte Entscheidung, wie ihm nun klar wurde. Er hätte die Gelegenheit ergreifen sollen, Touie zu rühmen und zugleich das Terrain zu bereiten; stattdessen hatte er sich in Scherze geflüchtet und etwas gefragt wie: »Hatte sie eine spezielle Kandidatin im Sinn?« Worauf Mary sagte: »Vater!« Und die Missbilligung, mit der dieses Wort ausgesprochen wurde, war nicht zu überhören.

Er schaute weiter aus dem Schlafzimmerfenster über den seit langem vernachlässigten Tennisplatz hinweg in das Tal, bei dem er einst in einer wunderlichen Anwandlung an ein deutsches Volksmärchen denken musste. Jetzt sah es nur noch wie eine Landschaft in Surrey aus. Er konnte dieses Gespräch mit Mary wohl kaum wieder aufnehmen. Doch eins stand fest: Wenn Touie damals Bescheid gewusst hatte, dann war er verloren. Wenn Touie Bescheid wusste und Mary Bescheid wusste, dann war er doppelt verloren. Wenn Touie Bescheid wusste, dann hatte Hornung recht. Wenn Touie Bescheid wusste, dann hatte die Mama unrecht. Wenn Touie Bescheid wusste, dann hatte er sich vor Connie aufgespielt wie ein elender Heuchler und die alte Mrs Hawkins schändlich hinters Licht geführt. Wenn Touie Bescheid wusste, dann war sein ganzes Konzept des ehrenwerten Verhaltens nichts als Schwindel. Auf den Hügeln über Masongill hatte er zu der Mama gesagt, Ehre und Unehre lägen so nahe beieinander, dass man sie kaum voneinander unterscheiden könne, und die Mama hatte geantwortet, genau das mache die Bedeutung der Ehre aus. Und wenn er nun die ganze Zeit über in der Schande herumgetappt war und sich selbst, aber niemandem sonst etwas vorgemacht hatte? Wenn die Welt ihn für einen ganz gewöhnlichen Ehebrecher hielt – und er das ebenso gut hätte sein können, selbst wenn er es nicht war? Wenn Hornung nun recht hatte und es keinen Unterschied gab zwischen Schuld und Unschuld?

Er ließ sich schwer auf das Bett fallen und dachte an die verbotenen Reisen nach Yorkshire: Wie er und Jean mit verschiedenen Zügen angekommen und mit verschiedenen Zügen abgereist waren, sodass sie Anspruch auf Unschuld erheben konnten. Ingleton lag zweihundertfünfzig Meilen von Hindhead entfernt; dort waren sie sicher. Doch er hatte Sicherheit mit Ehre verwechselt. Im Laufe der Jahre musste es für jedermann offensichtlich geworden sein. Was war ein englisches Dorf anderes als ein Wirbel von Klatsch und Tratsch? Mochte Jean auch von einer Anstandsdame begleitet werden, mochten er und Jean auch eindeutig nie unter demselben Dach übernachtet haben, er war der berühmte Arthur Conan Doyle, der in der Gemeindekirche geheiratet hatte und nun mit einer anderen Frau an seiner Seite über Berg und Tal wanderte.

Und dann war da noch Waller. In seiner fröhlichen Selbstgefälligkeit hatte er sich niemals gefragt, was Waller von alldem hielt. Die Mama hatte das Vorgehen ihres Sohns gebilligt, und das hatte ihm genügt. Was Waller dachte, war nicht von Belang. Und Waller war in seiner aalglatten und ungezwungenen Art nie taktlos geworden. Er hatte sich benommen, als glaube er sämtliche Geschichten, die ihm aufgetischt wurden, unbesehen. Dass die Leckies alte Freunde der Doyles waren; dass die Mama die Tochter der Leckies schon immer gemocht hatte. Waller hatte nie mehr und nie weniger gesagt, als pure Höflichkeit und pure Vernunft geboten. Er versuchte nicht, Arthur den Golfschwung mit einer Bemerkung darüber zu verderben, was für eine hübsche junge Frau Jean Leckie doch sei. Aber Waller hatte alle Finten bestimmt sofort durchschaut. Womöglich hatte er – Gott bewahre – hinter Arthurs Rücken mit der Mama darüber gesprochen. Nein, diese Vorstellung war unerträglich. Aber Waller hatte auf jeden Fall gesehen und verstanden. Und – was das Schlimmste war, wie Arthur nun erkannte – Waller konnte ihn mit ungeheurer Genugtuung betrachten. Während sie miteinander Rebhühner schossen und auf Frettchenjagd gingen, dachte Waller an den eben aus Österreich zurückgekehrten Schuljungen zurück, der ihn für ein Kuckucksei hielt und in plump-dreister Ahnungslosigkeit, aber von heftigen Spekulationen und heftiger Verlegenheit erfüllt vor ihm stand. Und dann waren die Jahre vergangen, und Arthur kam auf ein paar gestohlene Stunden mit Jean allein nach Masongill. Und nun konnte Waller stillschweigend, ohne den leisesten Ton – was natürlich alles nur noch schlimmer, noch überheblicher machte –, nun konnte Waller moralisch Rache üben. Du hast gewagt, mich missbilligend anzuschauen? Du hast gewagt zu denken, du verstündest etwas vom Leben? Du hast gewagt, die Ehre deiner Mutter in Zweifel zu ziehen? Und jetzt kommst du her und benutzt deine Mutter und mich und das ganze Dorf als Deckmantel für ein Rendezvous? Du nimmst den Ponywagen deiner Mutter und fährst an St. Oswald’s vorbei, und neben dir sitzt deine Geliebte. Du meinst, das Dorf würde das nicht merken? Du bildest dir ein, der Mann, der bei deiner Hochzeit an deiner Seite stand, leide an Gedächtnisschwund? Du redest dir – und anderen – ein, dein Verhalten sei ehrenhaft?

Nein, er musste damit aufhören. Diese Spirale kannte er schon allzu gut, er kannte ihre verführerische Abwärtsbewegung und wusste genau, wohin sie führte: zu Lethargie, Verzweiflung und Selbstverachtung. Nein, er musste sich an erwiesene Tatsachen halten. Die Mama hatte sein Tun gebilligt. Und alle anderen bis auf Hornung auch. Waller hatte nichts gesagt. Touie hatte Mary lediglich vorgewarnt, damit sie keinen Schock bekam, falls er wieder heiraten sollte – die Worte einer liebevollen und fürsorglichen Ehefrau und Mutter. Mehr hatte Touie nicht gesagt und darum auch nicht gewusst. Mary wusste nichts. Seine Selbstquälerei nützte weder den Lebenden noch den Toten. Und das Leben musste weitergehen. Touie hatte das gewusst, und Touie hatte deswegen keinen Groll empfunden. Das Leben musste weitergehen.

Dr. Butter erklärte sich zu einem Treffen in London bereit; von anderer Seite hingegen kam wenig Ermutigendes. George hatte nie etwas in Walsall zu tun gehabt. Mr Mitchell, der Rektor der Schule von Walsall, teilte ihm mit, es habe in den letzten zwanzig Jahren keinen Schüler namens Speck bei ihnen gegeben; und sein Vorgänger, Mr Aldis, habe seinen Dienst sechzehn Jahre lang hervorragend verrichtet, und die Unterstellung, er sei denunziert oder gar entlassen worden, sei schierer Unsinn. Der Innenminister Mr Herbert Gladstone empfahl sich Sir Arthur hochachtungsvoll und lehnte nach mehreren Absätzen voller Schmeichelei und Geschwätz mit dem Ausdruck des Bedauerns jede weitere Überprüfung des bereits mehrfach überprüften Falles Edalji ab. Das letzte Schreiben stand auf dem amtlichen Briefbogen der Staffordshire County Police. »Sehr geehrter Herr«, begann es. »Ich bin äußerst gespannt, was Sherlock Holmes zu einem Fall aus dem wirklichen Leben zu sagen hat …« Doch der spaßhafte Ton war kein Ausweis von Kooperationsbereitschaft: Captain Anson war nicht geneigt, Sir Arthur irgendwie behilflich zu sein. Es sei noch nie vorgekommen, dass eine Polizeiakte einem gewöhnlichen Bürger ausgehändigt worden sei, auch wenn dieser noch so berühmt sein mochte; desgleichen sei es noch nie vorgekommen, dass einem solchen Bürger gestattet worden sei, dem Captain unterstellte Polizeibeamte zu befragen. Ja, da es Sir Arthurs offenkundige Absicht sei, die Staffordshire Constabulary in Misskredit zu bringen, könne ihr Chief Constable nicht erkennen, warum eine Zusammenarbeit mit dem Feind strategisch oder auch taktisch ratsam sein solle.

Arthur war die streitbare Unverblümtheit des ehemaligen Offiziers der Artillerie sympathischer als die heuchlerischen Phrasen des Politikers. Vielleicht konnte er Anson doch noch für sich gewinnen; seine militärische Ausdrucksweise bewog Arthur allerdings zu der Überlegung, ob er nicht, statt sich artig Schuss um Schuss mit seinen Gegnern auseinanderzusetzen – sein Experte gegen ihren Experten – lieber gleich schweres Geschütz auffahren und die feindliche Stellung im Sturm nehmen sollte. Ja, warum nicht? Wenn sie einen Handschriftenexperten hatten, würde er im Gegenzug mehrere beibringen: nicht nur Dr. Lindsay Johnson, sondern vielleicht auch noch Mr Gobert und Mr Douglas Blackburn. Und falls jemand Mr Kenneth Scott vom Manchester Square keinen Glauben schenkte, würde er George noch zu mehreren anderen Augenärzten schicken. Yelverton hatte eine Zermürbungstaktik verfolgt, die bis zu der Pattsituation am Schluss zufriedenstellende Ergebnisse erbracht hatte; jetzt würde Arthur zum Generalangriff blasen und an allen Fronten zugleich vorrücken.

Er verabredete sich mit Dr. Butter im Grand Hotel, Charing Cross. Diesmal hatte er sich nicht verspätet, als er von der Northumberland Avenue dort hereinkam; er drückte sich auch nicht verstohlen herum, um den Amtsarzt zu beobachten. Den Charakter dieses Mannes hätte er ohnehin schon aus seinem Gutachten erschließen können: Er war maßvoll, vorsichtig und neigte nicht zu wilden und leichtfertigen Spekulationen. Im Prozess hatte er nie mehr behauptet, als sich durch seine Beobachtungen erhärten ließ: Das war bei den Blutflecken für die Verteidigung von Vorteil gewesen, bei den Haaren von Nachteil. George hatte seine Jahre in Lewes und Portland eher Butters Aussagen als denen des Scharlatans Gurrin zu verdanken.

»Es ist sehr freundlich von Ihnen, dass Sie sich Zeit für mich nehmen, Dr. Butter.« Sie saßen in demselben Schreibzimmer, in dem er nur wenige Wochen zuvor seine ersten Eindrücke von George Edalji gewonnen hatte.

Der Arzt lächelte. Er war ein gut aussehender, grauhaariger Mann, etwa zehn Jahre älter als Arthur. »Es ist mir ein Vergnügen. Ich freue mich über die Gelegenheit, dem Mann zu danken, der der Verfasser von« – und hier folgte anscheinend eine mikroskopisch kleine Pause, wenn sie nicht überhaupt nur in Arthurs Kopf eintrat – »›The White Company‹ ist.«

Arthur lächelte zurück. Er hatte die Gesellschaft von Amtsärzten schon immer ebenso angenehm wie lehrreich gefunden.

»Dr. Butter, wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich gerne offen mit Ihnen reden. Damit will ich sagen, ich weiß Ihr Gutachten sehr zu schätzen, möchte Ihnen aber verschiedene Fragen und sogar Spekulationen unterbreiten. Alles, was Sie sagen, wird vertraulich behandelt, und ich werde kein einziges Wort davon wiederholen, ohne Ihnen vorher Gelegenheit zu geben, es zu bestätigen, zu korrigieren oder vollständig zurückzunehmen. Wären Sie damit einverstanden?«

Dr. Butter willigte ein, und Arthur ging zunächst die Teile des Gutachtens mit ihm durch, die eher unstrittig oder jedenfalls von der Verteidigung nicht zu widerlegen waren. Die Rasiermesser, die Stiefel, die Flecken verschiedener Art.

»Hat es Sie überrascht, Dr. Butter, dass in Anbetracht dessen, was George Edalji zur Last gelegt wurde, nur so wenig Blut auf seiner Kleidung war?«

»Nein. Besser gesagt, Ihre Frage ist zu weit gefasst. Hätte Edalji gesagt, ja, ich habe das Pony verstümmelt, mit diesem Werkzeug habe ich es getan, diese Kleider habe ich dabei getragen, und ich habe allein gehandelt, dann wäre ich in der Lage, eine Meinung zu äußern. Und unter diesen Umständen müsste ich Ihnen sagen, ja, es hat mich sehr überrascht, um nicht zu sagen erstaunt.«

»Aber?«

»Aber mein Gutachten befasste sich wie immer mit dem, was ich vorfand: Diese Menge Säugetierblut auf jenem Kleidungsstück und so weiter. Das war mein Gutachten. Solange ich nicht weiß, wie und wann das Blut dorthin gekommen ist, kann ich mich nicht weiter dazu äußern.«

»Im Zeugenstand natürlich nicht. Aber unter uns …«

»Unter uns würde ich meinen, wenn ein Mann ein Pferd aufschlitzt, fließt eine Menge Blut, und er hat keinen Einfluss darauf, wo es hinläuft, vor allem wenn die Tat in einer dunklen Nacht begangen wird.«

»Dann sind wir uns also einig? Er kann es nicht getan haben?«

»Nein, Sir Arthur, wir sind uns nicht einig. Ich bin ganz und gar nicht mit Ihnen einig. Zwischen unseren beiden Standpunkten liegt ein weites Feld. Zum Beispiel wäre jeder, der mit der Absicht loszieht, ein Pferd aufzuschlitzen, so schlau, eine Art Schürze zu tragen, wie die Schlachter das tun. Das wäre eine nahliegende Vorsichtsmaßnahme. Einige Tropfen könnten aber danebengehen und unbemerkt bleiben.«

»Von einer Schürze war vor Gericht nicht die Rede.«

»Das habe ich nicht gemeint. Ich gebe Ihnen nur eine Erklärung, die von der Ihren abweicht. Eine andere wäre, dass noch andere Personen zugegen waren. Wenn es eine Bande gewesen wäre, wie verschiedentlich behauptet wurde, dann hätte der junge Mann das Aufschlitzen vielleicht nicht selbst besorgt, sondern nur daneben gestanden, und dabei hätten ein paar Blutstropfen auf seine Kleidung geraten können.«

»Auch davon war nie die Rede.«

»Aber es wurde sehr viel von einer Bande gesprochen, nicht wahr?«

»Es gab mit Absicht Gerede von einer Bande. Aber nicht den Funken eines Beweises.«

»Der andere Mann, der sein Pferd aufgeschlitzt hat?«

»Green. Aber selbst Green hat nie behauptet, es gebe eine Bande.«

»Sir Arthur, ich kann Ihre Argumentation wie auch Ihren Wunsch, sie mit Beweisen zu untermauern, durchaus nachvollziehen. Ich sage nur, es gibt auch andere Möglichkeiten, ob sie nun vor Gericht zur Sprache gekommen sind oder nicht.«

»Sie haben völlig recht.« Arthur beschloss, nicht weiter auf diesem Punkt zu insistieren. »Könnten wir dann über die Haare sprechen? In Ihrem Gutachten haben Sie ausgeführt, Sie hätten neunundzwanzig Haare von der Kleidung abgenommen und mikroskopisch untersucht, und sie seien – wenn ich Ihre Worte richtig in Erinnerung habe – ›in Länge, Farbe und Struktur ähnlich‹ gewesen wie die auf dem Hautfetzen, der von dem Grubenpony abgeschnitten wurde.«

»Das ist korrekt.«

»›Ähnlich.‹ Sie sagten nicht ›genau gleich‹.«

»Nein.«

»Weil sie nicht genau gleich waren?«

»Nein, weil das eine Folgerung ist und keine Beobachtung. Aber die Formulierung, sie seien in Länge, Farbe und Struktur ähnlich, bedeutet laienhaft gesagt, dass sie genau gleich waren.«

»Und das steht für Sie zweifelsfrei fest?«

»Sir Arthur, im Zeugenstand bin ich immer übervorsichtig. Unter uns, und unter den Bedingungen, die Sie für dieses Gespräch vorgeschlagen haben, würde ich Ihnen versichern, dass die Haare auf der Kleidung von demselben Tier stammten, dessen Fell ich unter dem Mikroskop untersucht habe.«

»Und auch von exakt demselben Körperteil?«

»Ich kann Ihnen nicht folgen.«

»Von demselben Tier, aber auch von demselben Körperteil des Tiers, nämlich dem Bauch?«

»Ja, das ist richtig.«

»Aber die Haare von verschiedenen Teilen eines Pferds oder Ponys wären der Länge und vielleicht auch der Stärke und Struktur nach unterschiedlich. Haare aus dem Schwanz oder der Mähne, zum Beispiel, sähen anders aus?«

»Auch das ist richtig.«

»Und doch waren die neunundzwanzig Haare, die Sie untersucht haben, alle genau gleich und stammten alle von genau demselben Teil des Ponys?«

»Ganz recht.«

»Können wir gemeinsam unsere Phantasie spielen lassen, Dr. Butter? Wieder vollkommen vertraulich und innerhalb dieser anonymen Wände. Stellen wir uns vor – auch wenn es uns noch so zuwider ist –, Sie oder ich würden uns daran machen, einem Pferd die Eingeweide herauszureißen.«

»Wenn ich Sie korrigieren darf – dem Pony wurden die Eingeweide nicht herausgerissen.«

»Nein?«

»Den Zeugenaussagen nach war es aufgeschlitzt worden, es blutete und musste erschossen werden. Doch die Eingeweide hingen nicht aus der Wunde heraus, wie es ansonsten der Fall gewesen wäre.«

»Danke. Also, stellen wir uns vor, wir wollten ein Pony aufschlitzen. Wir müssten auf es zugehen, es beruhigen. Müssten ihm vielleicht das Maul streicheln, zu ihm reden, seine Flanke tätscheln. Dann stellen Sie sich vor, wie wir es hielten, während wir es aufschlitzen. Wenn wir den Bauch aufschlitzen wollten, könnten wir uns an die Flanke lehnen, vielleicht einen Arm auf den Rücken legen und es so festhalten, während wir mit irgendeinem Instrument nach unten greifen.«

»Ich weiß nicht. Ich war nie bei einer solch schauerlichen Szene zugegen.«

»Aber Sie bestreiten nicht, dass Sie womöglich so vorgegangen wären? Ich habe selbst Pferde und weiß, was das für nervöse Geschöpfe sind.«

»Wir waren nicht dabei. Und das war kein Pferd aus Ihrem Stall, Sir Arthur. Es war ein Grubenpony. Sind Grubenponys nicht bekannt für ihre Fügsamkeit? Sind sie nicht gewöhnt, von Bergleuten angefasst zu werden? Sind sie Menschen gegenüber nicht zutraulich?«

»Sie haben recht, wir waren nicht dabei. Aber lassen Sie mich einen Moment lang gewähren. Stellen Sie sich vor, die Tat wurde so begangen, wie ich es beschrieben habe.«

»Nun gut. Aber sie könnte natürlich auch ganz anders begangen worden sein. Wenn zum Beispiel mehr als ein Mensch zugegen war.«

»Das gebe ich zu, Dr. Butter. Und im Gegenzug müssen Sie auch etwas zugeben: Wenn die Tat in etwa so begangen wurde, wie ich es geschildert habe, dann ist es undenkbar, dass die einzigen Haare, die auf die Kleidung dieser Person gerieten, allesamt von derselben Stelle stammten, nämlich dem Bauch, wo man das Tier sowieso nicht anfassen würde, um es zu beruhigen. Des Weiteren wurden dieselben Haare an verschiedenen Stellen der Kleidung gefunden – sowohl am Ärmel als auch am linken Vorderteil der Jacke. Würden Sie nicht allerwenigstens einige Haare von einem anderen Teil des Ponys erwarten?«

»Vielleicht. Falls Ihre Darstellung des Vorgangs zutrifft. Doch Sie bieten wie zuvor nur zwei mögliche Erklärungen an – die der Anklage und Ihre eigene. Zwischen beiden liegt ein weites Feld. Zum Beispiel könnten auf der Kleidung einige längere Haare gewesen sein, aber der Täter hat sie bemerkt und entfernt. Das wäre nicht weiter verwunderlich, nicht wahr? Oder der Wind hat sie fortgeweht. Oder es hätte auch eine Bande gewesen sein können …«

Dann steuerte Arthur, äußerst behutsam, auf die »naheliegende« Lösung zu, die Wood eingefallen war.

»Sie arbeiten in Cannock, soviel ich weiß?«

»Ja.«

»Der Hautfetzen wurde nicht von Ihnen abgeschnitten?«

»Nein, von Mr Lewis, der das Tier versorgt hat.«

»Und er wurde Ihnen nach Cannock geliefert?«

»Ja.«

»Und auch die Kleidung wurde dorthin geliefert?«

»Ja.«

»Vorher oder nachher?«

»Wie meinen Sie das?«

»Traf die Kleidung vor der Haut ein oder die Haut vor der Kleidung?«

»Ah, ich verstehe. Nein, sie sind zusammen eingetroffen.«

»Gleichzeitig?«

»Ja.«

»Mit demselben Polizeibeamten?«

»Ja.«

»Im selben Paket?«

»Ja.«

»Wer war der Polizeibeamte?«

»Ich habe keine Ahnung. Es gehen so viele bei mir ein und aus. Außerdem sehen sie für mich inzwischen alle jung aus und darum alle gleich.«

»Wissen Sie noch, was er gesagt hat?«

»Sir Arthur, das liegt über drei Jahre zurück. Es gibt nicht den geringsten Grund, warum ich mich auch nur an ein Wort erinnern sollte, das er gesagt hat. Wahrscheinlich hat er mir nur mitgeteilt, das Paket komme von Inspector Campbell. Vielleicht hat er außerdem noch gesagt, was darin ist. Vielleicht hat er gesagt, es seien Proben zur Untersuchung, aber das brauchte ja kaum eigens erwähnt zu werden, nicht wahr?«

»Und während die Proben in Ihrem Besitz waren, wurden Haut und Kleidung immer sorgfältig voneinander getrennt aufbewahrt? Ich will mich nicht anhören wie ein Rechtsanwalt.«

»Sie kommen dem aber sehr nahe, wenn ich das sagen darf. Und ich merke natürlich, worauf Sie hinauswollen. Eine Kontamination in meinem Labor ist ausgeschlossen, das kann ich Ihnen versichern.«

»Das wollte ich nicht einen Moment lang andeuten, Dr. Butter. Ich wollte auf etwas anderes hinaus. Können Sie mir das Paket beschreiben, das Sie erhielten?«

»Sir Arthur, ich sehe genau, worauf Sie hinauswollen. Ich habe nicht zwanzig Jahre lang im Kreuzverhör der Verteidiger gestanden, ohne einen derartigen Ansatz zu erkennen oder ohne für das Vorgehen der Polizei geradestehen zu müssen. Sie hatten gehofft, ich würde sagen, Haut und Kleidung wären zusammen in ein altes Stück Sackleinen eingerollt gewesen, in das die Polizei sie in ihrer Unfähigkeit gestopft hatte. Womit Sie meine Integrität ebenso infrage stellen wie die der Polizei.«

Dr. Butters Höflichkeit hatte jetzt etwas Stählernes. So einen Zeugen wusste man lieber auf der eigenen Seite.

»Das würde ich nie tun«, sagte Arthur beschwichtigend.

»Sie haben es eben getan, Sir Arthur. Sie haben unterstellt, ich könnte die Möglichkeit einer Kontamination übersehen haben. Die Proben waren einzeln verpackt und versiegelt, und man hätte sie rütteln und schütteln können, so viel man wollte, die Haare wären nicht aus der einen Packung in die andere geraten.«

»Ich bin Ihnen sehr verbunden, Dr. Butter, dass Sie diese Möglichkeit ausgeschlossen haben.« Und damit blieben nur noch zwei andere: Unfähigkeit der Polizei, bevor die Proben getrennt verpackt wurden, oder Böswilligkeit der Polizei, während dies geschah. Nun, er hatte Butter schon genügend zugesetzt. Außer … »Darf ich noch eine Frage stellen? Es ist eine reine Sachfrage.«

»Aber sicher. Verzeihen Sie meine Verärgerung.«

»Sie ist verständlich. Ich habe mich zu sehr wie ein Anwalt der Verteidigung aufgeführt, wie Sie bemerkt haben.«

»Das war es gar nicht. Es war eher dies: Ich arbeite seit gut zwanzig Jahren mit der Staffordshire Constabulary zusammen. Seit zwanzig Jahren stehe ich vor Gericht und muss ausgefuchste Fragen beantworten, die von – wie ich weiß – falschen Annahmen ausgehen. Seit zwanzig Jahren sehe ich, wie die Unwissenheit der Geschworenen ausgenutzt wird. Seit zwanzig Jahren lege ich Gutachten vor, die so klar und eindeutig sind, wie es irgend geht, und auf streng wissenschaftlicher Analyse beruhen, und dann werde ich, wenn nicht als Schwindler, so doch als jemand behandelt, der nur eine Meinung äußert, und diese Meinung ist nicht mehr wert als die anderer Leute. Nur haben andere Leute kein Mikroskop, und wenn sie eins hätten, wüssten sie nicht damit umzugehen. Ich lege dar, was ich beobachtet habe – was ich weiß –, und dann wird mir herablassend erklärt, das sei nur meine persönliche Ansicht.«

»Sie haben mein volles Mitgefühl«, sagte Sir Arthur.

»Nun ja. Aber zu Ihrer Frage.«

»Um welche Uhrzeit haben Sie das Paket der Polizei in Empfang genommen?«

»Um welche Zeit? Gegen neun Uhr.«

Arthur staunte über diese Geschwindigkeit. Das Pony war etwa um 6 Uhr 20 aufgefunden worden, Campbell war noch auf dem Feld, als George aus dem Haus ging, um den 7:39 – Zug zu nehmen, und kam mit Parsons und seinem Trupp von Hilfspolizisten kurz vor acht im Pfarrhaus an. Dann mussten sie noch das Haus durchsuchen, mit den Edaljis diskutieren …

»Verzeihen Sie, Dr. Butter, ich will mich nicht wieder wie ein Anwalt anhören, aber es war doch sicher später?«

»Später? Ganz bestimmt nicht. Ich weiß genau, wann das Paket eintraf. Ich habe mich nämlich beschwert. Sie wollten mir das Paket unbedingt noch am selben Tag übergeben. Ich habe ihnen erklärt, ich könne unmöglich länger als neun Uhr bleiben. Ich hatte meine Uhr in der Hand, als das Paket kam. Neun Uhr.«

»Das Missverständnis liegt ganz auf meiner Seite. Ich dachte, Sie meinten neun Uhr morgens.«

Jetzt wirkte der Arzt erstaunt. »Sir Arthur, meiner Erfahrung nach ist die Polizei ebenso kompetent wie fleißig. Und ehrlich noch dazu. Aber Wunder kann sie nicht vollbringen.«

Sir Arthur stimmte ihm zu, und sie schieden in freundlichem Einvernehmen. Doch im Nachhinein stellte er fest, dass er genau das dachte: Die Polizei kann tatsächlich Wunder vollbringen. Sie kann durch bloße Geisteskraft neunundzwanzig Pferdehaare aus einem versiegelten Paket in ein anderes überführen. Vielleicht sollte er der Society of Psychical Research von dieser Fähigkeit berichten.

Ja, er könnte die Polizei als Apportmedien darstellen, die ja angeblich in der Lage waren, Gegenstände zu entmaterialisieren und dann wieder zu rematerialisieren, sodass es altertümliche Münzen auf den Séance-Tisch regnete, von kleinen assyrischen Täfelchen und Halbedelsteinen ganz zu schweigen. Diesem Zweig des Spiritismus gegenüber blieb Arthur zutiefst skeptisch; ja, in aller Regel konnte der laienhafteste Detektiv die Spur der altertümlichen Münzen bis zum nächstgelegenen Numismatiker verfolgen. Und diese Burschen, die mit Schlangen und Schildkröten und lebenden Vögeln arbeiteten: Für Arthur gehörten sie eher in den Zirkus oder in die Marktbude eines Zauberkünstlers. Oder in die Staffordshire Constabulary.

Jetzt wurde er übermütig. Aber das war nur der Überschwang der Freude. Zwölf Stunden – darin lag die Lösung. Die Polizei hatte die Beweismittel zwölf Stunden lang in ihrem Besitz gehabt, ehe sie die Proben an Dr. Butter weiterschickte. Wo waren sie gewesen, wer war für sie verantwortlich, was war mit ihnen geschehen? War es eine zufällige Kontamination oder ein bewusster Akt mit der gezielten Absicht, George Edalji zu belasten? Das würde man wahrscheinlich nie herausfinden, nicht ohne ein Geständnis auf dem Totenbett – und Geständnisse auf dem Totenbett waren Arthur immer suspekt gewesen.

Seine überschwängliche Freude nahm weiter zu, als Dr. Lindsay Johnsons Bericht in Undershaw eintraf. Als Beleg waren zwei Notizbücher mit Johnsons detaillierter graphologischer Analyse beigefügt. Die größte Kapazität in ganz Europa war zu dem Schluss gekommen, keiner der ihm vorgelegten Briefe, ob von einem bösartigen Intigranten, religiösen Fanatiker oder entarteten Schuljungen verfasst, weise eine signifikante Übereinstimmung mit echten, von George Edalji geschriebenen Papieren auf. In gewissen Proben finde sich eine trügerische Ähnlichkeit; doch dies sei nicht anders zu erwarten, wenn ein Fälscher zugebe, die Handschrift eines anderen nachahmen zu wollen. Man könne davon ausgehen, dass ihm ab und zu ein glaubwürdiges Faksimile gelinge; es gebe jedoch immer Anzeichen, die bewiesen, dass George dabei – buchstäblich – nicht die Hand im Spiel gehabt habe.

Der erste Teil von Arthurs Liste war nun mehr als zur Hälfte abgehakt: YelvertonHaareBriefeSehkraft. Außerdem stand da noch Green – hier blieb noch etwas zu tun – und Anson. Den Chief Constable wollte er sich direkt vorknöpfen. »Ich bin äußerst gespannt, was Sherlock Holmes zu einem Fall aus dem wirklichen Leben zu sagen hat …«, war Ansons sarkastische Antwort gewesen. Nun, dann würde Arthur ihn beim Wort nehmen; er würde seine bisherigen Erkenntnisse zusammenstellen, sie Anson schicken und ihn um seinen Kommentar bitten.

Als er sich an den Schreibtisch setzte, um mit seinem Konzept zu beginnen, hatte er zum ersten Mal seit Touies Tod das Gefühl, dass alles so war, wie es sein sollte. Nach der Niedergeschlagenheit, den Schuldgefühlen und der Lethargie, nach der Herausforderung und dem Ruf zur Tat war er nun dort, wo er hingehörte: Ein Mann an einem Schreibtisch mit der Feder in der Hand, der darauf brannte, eine Geschichte zu erzählen, auf dass die Menschen die Dinge in einem anderen Licht sähen; und draußen, in London, wartete die Frau – wenn auch nicht mehr sehr lange –, die von nun an seine erste Leserin und die erste Zeugin seines Lebens sein würde. Er war voller Energie, er hatte Material in Hülle und Fülle, er hatte ein klares Ziel. Er begann mit einem Satz, an dem er in Eisenbahnzügen und Hotels und Mietdroschken gefeilt hatte, einem Satz, der dramatisch und informativ zugleich war:

Der erste Blick, den ich je auf Mr George Edalji warf, reichte aus, um mich zu überzeugen, wie ausgesprochen unwahrscheinlich es war, dass er des Verbrechens schuldig sein könnte, für das man ihn verurteilt hatte, und zumindest einige der Gründe aufzuzeigen, die ihn in Verdacht geraten ließen.

Und von da an brach alles Weitere aus ihm hervor wie eine große Kette, bei der jedes Glied gestählt und gehärtet war, so gut er es nur konnte. In zwei Tagen schrieb er fünfzehntausend Wörter. Vielleicht musste er noch mehr hinzufügen, wenn die weiteren Berichte von Okulisten und Handschriftexperten eintrafen. Er ging auch leichthin über die mutmaßliche Rolle Ansons in der Affäre hinweg: Es war ja nicht viel Hilfreiches von jemandem zu erwarten, den man hart angriff, bevor man überhaupt seine Bekanntschaft gemacht hatte. Wood tippte den Bericht dann ab, und eine Kopie wurde per Einschreiben an den Chief Constable gesandt.

Als Antwort kam zwei Tage darauf eine Einladung aus Green Hall, Stafford, an Sir Arthur, an einem beliebigen Tag der folgenden Woche mit Captain und Mrs Anson zu speisen. Selbstverständlich könne er gern über Nacht bleiben. Arthurs Bericht wurde mit keinem Wort erwähnt, es gab nur ein launiges Postskriptum: »Sie dürfen auch Mr Sherlock Holmes mitbringen, wenn Sie möchten. Mrs Anson würde ihn liebend gern kennenlernen. Lassen Sie es mich wissen, falls er gleichfalls ein Quartier benötigt.«

Sir Arthur zeigte den Brief seinem Sekretär. »Wie es aussieht, will er sein Pulver trocken halten.«

Wood nickte und war klug genug, sich nicht zu dem PS zu äußern.

»Sie haben wohl keine Lust, Woodie, mich als Holmes zu begleiten?«

»Wenn Sie es wünschen, werde ich Sie begleiten, Sir Arthur, aber Sie wissen ja, was ich von Kostümierungen halte.« Außerdem war er der Meinung, da ihm bereits die Rolle des Watson zugefallen war, würde es seine schauspielerische Wendigkeit überfordern, wenn er zudem noch den Holmes mimen sollte. »Vielleicht haben Sie mehr davon, wenn ich mich weiter im Billard übe.«

»Ganz recht, Alfred. Sie halten hier die Stellung. Und vernachlässigen Sie Ihre Zweibänder nicht. Ich will mal sehen, aus welchem Holz Anson geschnitzt ist.«

Während Arthur seinen Ausflug nach Staffordshire plant, denkt Jean weiter voraus. Es wird allmählich Zeit, den Übergang von der Freundin im Wartestand zur nichtwartenden Ehefrau in Angriff zu nehmen. Jetzt ist Januar. Touie ist im vergangenen Juli gestorben; vor Ablauf des Trauerjahrs kann Arthur auf keinen Fall heiraten. Sie haben bisher noch nicht über ein Datum gesprochen, aber eine Hochzeit im Herbst ist durchaus eine Möglichkeit. Fünfzehn Monate – bei diesem zeitlichen Abstand wäre kaum jemand entsetzt. Sentimentale Naturen haben eine Vorliebe für Hochzeiten im Frühjahr; doch eine zweite Heirat passt Jeans Meinung nach besser in den Herbst. Danach Flitterwochen auf dem Kontinent. Italien, natürlich, und dann – nun, Konstantinopel war schon immer eine Stadt ihrer Sehnsucht.

Zu einer Hochzeit gehören Brautjungfern, aber das ist schon lange geregelt: Leslie Rose und Lily Loder-Symonds sind für diese Aufgabe ausersehen. Zu einer Hochzeit gehört aber auch eine Kirche, und eine Kirche bedeutet Religion. Die Mama hat Arthur katholisch erzogen, doch seither sind beide von diesem Glauben abgefallen: die Mama zugunsten der anglikanischen Kirche, Arthur zugunsten des sonntäglichen Golfspiels. Inzwischen hält Arthur sogar seinen zweiten Vornamen, Ignatius, geheim. Es besteht also wenig Aussicht, dass sie, von der Wiege an Katholikin, als solche heiratet. Das wird ihre Eltern, vor allem ihre Mutter, wahrscheinlich betrüben; doch wenn das der Preis ist, wird Jean ihn zahlen.

Ob sie noch einen weiteren Preis zahlen muss? Wenn sie Arthur in allem zur Seite stehen will, dann muss sie dem ins Auge sehen, wovor sie bislang davongelaufen ist. Bei den seltenen Gelegenheiten, wo Arthur von seinem Interesse für das Übersinnliche sprach, hat sie sich abgewandt. Im Innern schaudert es sie vor dem Vulgären und Stumpfsinnigen jener Welt: vor törichten alten Männern, die angeblich in Trance fallen, vor alten Weibern mit grässlichen Perücken, die in Kristallkugeln starren, vor Leuten, die sich im Dunkeln an den Händen halten und einander zum Hüpfen bringen. Und es hat überhaupt nichts mit Religion, das heißt mit Moral zu tun. Und die Vorstellung, dass ihr geliebter Arthur an diesem … Mumpitz Gefallen findet, ist zugleich verstörend und kaum zu glauben. Wie kann jemand wie Arthur mit seiner hervorragenden Urteilskraft sich nur mit solchen Leuten abgeben?

Zwar ist ihre Busenfreundin Lily Loder-Symonds eine begeisterte Tischrückerin, doch das ist für Jean nur eine überspannte Laune. Sie geht Gesprächen über Séancen aus dem Weg, auch wenn Lily ihr versichert, es gebe dort viele angesehene Leute. Vielleicht sollte sie die Angelegenheit zunächst mit Lily besprechen, um so ihre Abneigung zu überwinden. Nein, das wäre kleinmütig. Schließlich heiratet sie Arthur, nicht Lily.

Daher lässt sie ihn, als er sie auf dem Weg nach Norden besucht, Platz nehmen, hört sich gehorsam die Neuigkeiten von den Ermittlungen an und sagt dann zu seinem sichtlichen Erstaunen: »Ich würde diesen jungen Mann sehr gern kennenlernen.«

»Ach ja, mein Liebling? Er ist ein hochanständiger Bursche, der übel verleumdet wurde. Er würde sich bestimmt freuen und sehr geehrt fühlen.«

»Sagtest du nicht, er ist Parse?«

»Nun ja, nicht direkt. Sein Vater …«

»An was glauben Parsen, Arthur? Sind das Hindus?«

»Nein, sie sind Zoroastrier.« Arthur liebt solche Fragen. Das grundlegende Mysterium der Frauen wird, so meint er, eingekreist und in Schach gehalten, solange er ihnen etwas erklären darf. Mit ruhigem Selbstvertrauen schildert er die historischen Ursprünge der Parsen, ihr typisches Erscheinungsbild, ihre Kopfbedeckungen, ihre liberale Einstellung zu Frauen, ihre Tradition, dass Geburten stets im Erdgeschoss des Hauses stattfinden. Er übergeht die Reinigungszeremonie, da sie eine Waschung mit dem Urin von Kühen einschließt, spricht aber ausführlich von der zentralen Stellung der Astrologie im parsischen Leben und will sich eben den Türmen des Schweigens und den postumen Diensten der Geier zuwenden, da hebt Jean die Hand, um ihm Einhalt zu gebieten. Sie merkt, dass es so nicht geht. Die Geschichte des Zoroastrismus trägt nicht zu dem glatten Übergang bei, den sie sich erhofft hat. Es erscheint ihr auch unehrlich, nicht im Einklang mit dem Bild, dass sie von sich hat.

»Arthur, mein Lieber«, unterbricht sie ihn. »Da ist etwas, über das ich mit dir reden möchte.«

Er wirkt überrascht und ein wenig erschrocken. Auch wenn er ihre direkte Art seit jeher schätzt, ist ihm doch ein Rest von Argwohn geblieben – wenn eine Frau sagt, sie müsse über etwas reden, ist das für einen Mann nur selten erfreulich oder vorteilhaft.

»Erkläre mir doch bitte deine Beschäftigung mit dem … heißt es Spiritismus oder Spiritualismus?«

»Ich ziehe die Bezeichnung Spiritismus vor, sie scheint aber immer mehr außer Gebrauch zu kommen. Doch ich dachte, dir missfällt der bloße Gedanke.« Er meint mehr als das: dass sie den bloßen Gedanken fürchtet und verachtet – und seine Anhänger erst recht.

»Arthur, mir kann nichts missfallen, was dich interessiert.« Sie meint weniger als das: dass sie hofft, ihr könne nichts missfallen, was ihn interessiert.

Und so beginnt er seine Beschäftigung zu erläutern, von Experimenten der Gedankenübertragung mit dem späteren Architekten von Undershaw bis zu Gesprächen mit Sir Oliver Lodge im Buckingham Palace. Dabei hebt er ständig die wissenschaftlichen Ursprünge und Verfahren der übersinnlichen Forschung hervor. Er geht sehr behutsam vor und stellt alles so seriös und so wenig bedrohlich dar, wie er nur kann. Sein Tonfall wie auch seine Worte beruhigen sie ein wenig.

»Arthur, Lily hat mir ja schon vom Tischrücken erzählt, aber ich habe das wohl immer für etwas gehalten, das zu den Lehren der Kirche im Widerspruch steht. Ist es denn keine Häresie?«

»Es steht im Widerspruch zu den Institutionen der Kirche, das ist wahr. Nicht zuletzt, weil es den Mittelsmann ausschließt.«

»Arthur! So redet man doch nicht über den Klerus.«

»Aber historisch gesehen stimmt es. Die Geistlichen waren Mittelsmänner, Zwischenträger. Anfangs Überbringer der Wahrheit, aber dann zunehmend Kontrolleure der Wahrheit, Verschleierer, Politiker. Die Katharer waren auf der richtigen Spur, der des direkten Zugangs zu Gott ohne die Hindernisse der verschiedenen Hierarchie-Ebenen. Rom hat die Katharer natürlich vernichtet.«

»Dann machen dich deine – soll ich sie Anschauungen nennen? – also zum Gegner meiner Kirche?« Und damit, meint sie, zum Gegner aller Mitglieder dieser Kirche. Eines bestimmten Mitglieds dieser Kirche.

»Nein, meine Liebste. Und ich würde dich nie davon abhalten wollen, in deine Kirche zu gehen. Doch wir bewegen uns in eine Richtung, die über alle Religionen hinausgeht. Sie werden bald – historisch gesehen sehr bald – der Vergangenheit angehören. Sieh es einmal so. Ist die Religion die einzige Sphäre des Geistes, die keine Entwicklung kennt? Wäre das nicht seltsam? Sollen wir uns für ewige Zeiten an Richtlinien halten müssen, die vor zweitausend Jahren aufgestellt wurden? Ist es nicht einleuchtend, dass die Evolution des menschlichen Gehirns mit einer Erweiterung des Horizonts einhergehen muss? Ein halb entwickeltes Gehirn schafft sich einen halb entwickelten Gott, und wer sagt denn, dass unser Gehirn bislang auch nur halb entwickelt ist?«

Jean schweigt. Sie denkt, dass die vor zweitausend Jahren aufgestellten Richtlinien wahr sind und befolgt werden sollten; und dass sich das Gehirn zwar entwickeln und alle möglichen wissenschaftlichen Fortschritte hervorbringen mag, die Seele aber der Funke des Göttlichen ist und etwas ganz Eigenes und Unveränderliches und keiner Evolution unterworfen.

»Weißt du noch, dass ich einmal Preisrichter bei einem Körper-Wettbewerb war? In der Albert Hall? Der Sieger hieß Murray. Ich bin ihm in die Nacht hinaus gefolgt. Er hatte eine goldene Statue unter dem Arm, er war der stärkste Mann Großbritanniens. Und doch war er im Nebel verloren …«

Nein, eine Metapher ist nicht der richtige Ansatz. Metaphern sind etwas für die institutionalisierten Religionen. Metaphern sprechen mit gespaltener Zunge.

»Wir machen etwas ganz Einfaches, Jean. Wir nehmen die Essenz der großen Religionen, und das ist der lebendige Geist, und machen ihn sichtbarer und damit verständlicher.«

Das klingt für sie wie die Stimme eines Versuchers, und ihre Antwort ist knapp und scharf. »Durch Séancen und Tischrücken?«

»Auf Außenstehende wirkt das merkwürdig, das gebe ich gern zu. Genau wie die Zeremonien deiner Kirche für einen zoroastrischen Besucher merkwürdig aussähen. Leib und Blut Christi auf einem Teller und in einem Becher – das könnte er für reinen Hokuspokus halten. Die Religionen – alle Religionen – stecken in einem Morast von Ritualen und Despotie fest. Wir sagen nicht, kommt und betet in unserer Kirche und folgt unseren Anweisungen, und vielleicht werdet ihr eines Tages im Jenseits dafür belohnt. Das ist wie der Schacher von Teppichhändlern. Nein, wir demonstrieren euch jetzt, da ihr am Leben seid, die Realität gewisser übersinnlicher Phänomene, und das beweist euch die körperliche Aufhebung des Todes.«

»Du glaubst also nicht an die Wiederauferstehung des Leibes?«

»Dass wir in die Erde kommen und verwesen und irgendwann später wieder ganz zusammengesetzt werden? Nein. Der Leib ist eine bloße Hülle, ein Behältnis, das wir abwerfen. Es ist wahr, einige Seelen wandern nach dem Tode eine Zeitlang im Dunkeln, aber nur, weil sie nicht für den Übergang auf die andere Seite gerüstet sind. Ein wahrer Spiritist, der den Vorgang begreift, wird leicht und ohne Qualen hinübergehen. Und auch schneller mit der Welt, die er hinter sich gelassen hat, kommunizieren können.«

»Hast du das schon erlebt?«

»O ja. Und ich hoffe, es immer häufiger zu erleben, wenn ich mehr verstehe.«

Plötzlich überläuft es Jean kalt. »Du wirst doch hoffentlich kein Medium werden, lieber Arthur.« Sie hat ein Bild vor Augen, wie ihr geliebter Mann als marktschreierischer Greis in Trance fällt und mit komischer Stimme spricht. Und wie man die zweite Lady Doyle für die Frau eines Marktschreiers hält.

»O nein, über solche Kräfte verfüge ich nicht. Wahre Medien sind sehr, sehr selten. Das sind oft schlichte, bescheidene Menschen. Wie Jesus Christus, zum Beispiel.«

Jean überhört diesen Vergleich. »Und wie ist das mit der Moral, Arthur?«

»Die Moral bleibt unangetastet. Das heißt, die wahre Moral – die dem Gewissen des Einzelnen und der Liebe Gottes entspringt.«

»Ich meine nicht für dich, Arthur. Du weißt, was ich meine. Wenn die Menschen – die gewöhnlichen Menschen – keine Kirche haben, die ihnen sagt, wie sie sich verhalten sollen, dann fallen sie in primitive Rohheit und Eigennutz zurück.«

»Das ist für mich nicht die Alternative. Spiritisten, wahre Spiritisten, sind Männer und Frauen von hoher Moral. Ich könnte dir mehrere nennen. Und ihre Moral ist noch höher, da sie dem Verständnis spiritueller Wahrheit näher sind. Wenn der gewöhnliche Mensch, von dem du sprichst, einen unmittelbaren Beweis für die Geisteswelt sehen, wenn er erkennen könnte, wie nahe sie uns zu jeder Zeit ist, dann würden Rohheit und Eigennutz ihren Reiz verlieren. Wenn die Wahrheit offenbar wird, kommt die Moral von allein.«

»Arthur, das ist mir zu viel auf einmal.« Eigentlich merkt Jean, dass sie Kopfschmerzen bekommt; ja, sie befürchtet eine Migräne.

»Du hast recht. Wir haben ja noch das ganze Leben vor uns. Und dann die ganze Ewigkeit miteinander.«

Jean lächelt. Sie fragt sich, was Touie die ganze Ewigkeit lang machen wird, die sie und Arthur miteinander vor sich haben. Obwohl sich das Problem natürlich ohnehin stellen wird, egal, ob ihre Kirche die Wahrheit sagt oder diese Medien aus dem niederen Volk, die so viel Eindruck auf ihren künftigen Ehemann machen.

Arthur selbst ist weit davon entfernt, Kopfschmerzen zu bekommen. Das Leben ist wieder in Bewegung: Erst der Fall Edalji und jetzt Jeans plötzliches Interesse an den wahrhaft bedeutsamen Dingen dieser Welt. Bald wird er wieder richtig in Schwung sein. An der Tür nimmt er seine Freundin im Wartestand in die Arme und verspürt, zum ersten Mal seit Touies Tod, die Regungen eines angehenden Bräutigams.