Arthur
Stonyhurst bot an, Arthur das Schulgeld zu erlassen, falls er sich zum Priester ausbilden lassen würde; doch die Mama lehnte das Angebot ab. Arthur war strebsam und konnte sehr wohl Verantwortung tragen; er galt bereits als künftiger Cricket-Kapitän. Doch sie hatte keins ihrer Kinder zum geistlichen Ratgeber ausersehen. Arthur wiederum wusste, dass er unmöglich für die versprochene goldene Brille, das samtene Kleid und den Platz am Kamin sorgen konnte, wenn er sich einem Leben in Armut und Gehorsam weihte.
Seiner Ansicht nach waren die Jesuiten gar nicht so dumm. Sie hielten den Menschen für dem Wesen nach schwach, und ihr Misstrauen schien Arthur gerechtfertigt: Man schaue sich nur seinen eigenen Vater an. Sie hatten auch erkannt, dass Sündhaftigkeit schon früh beginnt. Die Jungen durften nie miteinander allein bleiben; auf Spaziergängen wurden sie stets von einem Lehrer begleitet, und jede Nacht wanderte eine schattenhafte Gestalt durch die Schlafsäle. Mochte die ständige Aufsicht auch Selbstachtung und Selbständigkeit untergraben, so hielt sie doch die an anderen Schulen grassierende Unmoral und Verrohung in engen Grenzen.
Arthur glaubte ganz allgemein daran, dass es Gott gab, dass Jungen von der Sünde versucht wurden und dass die Patres recht daran taten, sie mit dem Tolley zu schlagen. Über einzelne Glaubenssätze disputierte er dann unter vier Augen mit seinem Freund Partridge. Partridge hatte großen Eindruck auf ihn gemacht, als er einmal unmittelbar hinter dem Wicket stand, einen von Arthurs schnellsten Würfen direkt aus der Luft fing, den Ball schneller fest in den Händen hielt, als man überhaupt gucken konnte, und sich dann umdrehte und so tat, als schaue er dem zur Boundary entschwindenden Ball hinterher. Partridge war stets zu Possen aufgelegt, und das nicht nur auf dem Cricketplatz.
»Ist dir klar, dass die Doktrin von der Unbefleckten Empfängnis erst 1854 zum Glaubenssatz erhoben wurde?«
»Etwas spät, würde ich meinen, Partridge.«
»Denk nur: Die Kirche debattiert seit Jahrhunderten darüber, und es war nie Ketzerei, dieses Dogma zu leugnen. Jetzt plötzlich doch.«
»Hmm.«
»Warum beschließt Rom so lange nach dem Ereignis, die Beteiligung von Marias leiblichem Vater herunterzuspielen?«
»Sachte, sachte, mein Freund.«
Doch Partridge war bereits bei der Doktrin von der Päpstlichen Unfehlbarkeit, die erst fünf Jahre zuvor verkündet worden war. Warum sollten damit sämtliche Päpste der vergangenen Jahrhunderte implizit für fehlbar erklärt werden und alle gegenwärtigen wie auch künftigen Päpste zum Gegenteil? Ja, warum wohl, echote Arthur. Weil es, wie Partridge erwiderte, hier eher um Kirchenpolitik als um theologischen Fortschritt gehe. Es hänge alles damit zusammen, dass jetzt einflussreiche Jesuiten ganz oben im Vatikan säßen.
»Du bist gesandt, um mich zu versuchen«, wehrte Arthur manchmal ab.
»Im Gegenteil. Ich bin hier, um deinen Glauben zu stärken. Der Weg des wahren Gehorsams ist eigenständiges Denken innerhalb der Kirche. Immer, wenn die Kirche sich bedroht fühlt, verschärft sie die Regeln der Disziplin. Kurzfristig tut das seine Wirkung, auf Dauer aber nicht. Es ist dasselbe wie mit dem Tolley. Wenn man dich heute schlägt, lässt du dir morgen oder übermorgen nichts zuschulden kommen. Doch dass man sich sein Leben lang nichts mehr zuschulden kommen lässt, weil man noch an den Tolley denkt, das ist doch Unsinn, nicht wahr?«
»Nicht, wenn es wirkt.«
»Aber in ein, zwei Jahren sind wir dieser Anstalt entronnen. Dann gibt es keinen Tolley mehr. Wir müssen gerüstet sein, der Sünde und dem Verbrechen aus Vernunftgründen zu widerstehen, nicht aus Angst vor körperlichem Schmerz.«
»Ich bezweifle, dass Vernunftgründe bei einigen Jungen etwas bewirken.«
»Dann muss unbedingt der Tolley her. Und für die Außenwelt gilt dasselbe. Natürlich sind Gefängnisse und Zwangsarbeit und Henker nötig.«
»Aber wovon wird die Kirche denn bedroht? Mir erscheint sie stark.«
»Von der Wissenschaft. Von der Ausbreitung der Lehren des Skeptizismus. Vom Verlust des Kirchenstaates. Vom Verlust an politischem Einfluss. Von dem herannahenden zwanzigsten Jahrhundert.«
»Dem zwanzigsten Jahrhundert.« Darüber sann Arthur eine Weile nach. »So weit kann ich nicht denken. Wenn das nächste Jahrhundert beginnt, bin ich schon vierzig.«
»Und Kapitän der englischen Cricket-Mannschaft.«
»Da habe ich meine Zweifel, Partridge. Aber jedenfalls kein Priester.«
Arthur nahm nicht bewusst wahr, wie sein Glaube nachließ. Doch von eigenständigem Denken innerhalb der Kirche war es nur ein kleiner Schritt zu eigenständigem Denken außerhalb der Kirche. Er stellte fest, dass sein Verstand und sein Gewissen nicht immer akzeptieren konnten, was ihnen vorgesetzt wurde. In Arthurs letztem Schuljahr hielt Pater Murphy die Predigten. Grimmig und rotgesichtig stand er hoch oben auf der Kanzel und drohte allen, die der Kirche fernblieben, sichere und unausweichliche Verdammnis an. Ob sie sich aus Bosheit, Halsstarrigkeit oder bloßer Unwissenheit abseits hielten, es lief auf dasselbe hinaus: sichere und unausweichliche Verdammnis bis in alle Ewigkeit. Dann folgte eine eingehende Schilderung von Höllenqualen und Höllenpein, eigens dazu geschaffen, Jungen in Angst und Schrecken zu versetzen; doch Arthur hörte bereits nicht mehr zu. Die Mama hatte ihm gesagt, wie es sich verhielt, und Pater Murphy war für ihn nun ein Märchenerzähler, dem er keinen Glauben mehr schenkte.