George

In der Newton Street nahm man ihm sein Geld, seine Uhr und ein kleines Taschenmesser ab. Man wollte ihm auch sein Taschentuch abnehmen, damit er sich nicht damit erdrosseln könnte. George wandte ein, das Tuch sei zu diesem Zweck gänzlich ungeeignet, und durfte es behalten.

Er wurde für eine Stunde in eine helle, saubere Zelle gesteckt und dann mit dem 12:40 – Zug von New Street nach Cannock gebracht. Abfahrt Walsall 13:08, dachte George. Birchills 13:12. Bloxwich 13:16. Wyrley & Churchbridge 13:24. Cannock 13:29. Die beiden Polizisten sagten, sie würden ihm während der Fahrt keine Handschellen anlegen, wofür George dankbar war. Dennoch senkte er den Kopf und legte eine Hand vor die Wange, als der Zug in Wyrley einfuhr; es war ja möglich, dass Mr Merriman oder der Gepäckträger die Uniform des Sergeants erkannte und die Geschichte herumerzählte.

In Cannock wurde er in einem Einspänner zur Polizeiwache gefahren. Dort nahm man seine Körpermaße und seine Personalien auf. Seine Kleider wurden auf Blutflecken untersucht. Ein Beamter forderte ihn auf, die Manschettenknöpfe abzunehmen, und inspizierte die Ärmelaufschläge. Er fragte: »Haben Sie dieses Hemd gestern Nacht auf dem Feld getragen? Offenbar haben Sie sich umgezogen. Es ist kein Blut darauf.«

George gab keine Antwort. Er sah keinen Sinn darin. Wenn er die Frage mit nein beantwortete, würde der Beamte erwidern: »Dann geben Sie also zu, gestern Nacht auf dem Feld gewesen zu sein. Welches Hemd haben Sie denn nun getragen?« George fand, er habe sich bisher vollkommen kooperativ verhalten; von nun an würde er nur dann auf Fragen eingehen, wenn sie notwendig und nicht suggestiv waren.

Sie steckten ihn in eine winzige Zelle mit wenig Licht und noch weniger Luft, in der es roch wie in einer öffentlichen Bedürfnisanstalt. Es gab nicht einmal Wasser zum Waschen. Seine Uhr hatte man ihm abgenommen, doch seiner Schätzung nach war es etwa halb drei. Vor vierzehn Tagen, dachte er, vor vierzehn Tagen erst hatten Maud und ich gerade im Belle Vue unser gebratenes Hühnchen und den Apfelkuchen aufgegessen und gingen über die Marine Terrace zu den Castle Grounds, wo ich eine beiläufige Bemerkung über den Sale of Goods Act machte und ein Passant uns Mount Snowdon zeigen wollte. Nun saß er in einem Polizeigewahrsam auf einer niedrigen Pritsche, atmete so flach wie möglich und wartete, wie es weitergehen würde. Nach mehreren Stunden wurde er in das Vernehmungszimmer geführt, wo Campbell und Parsons auf ihn warteten.

»Also, Mr Edalji, Sie wissen, warum wir hier sind.«

»Ich weiß, warum Sie hier sind. Und es heißt Aidlji, nicht Ee-dal-ji.«

Campbell hörte gar nicht hin. Er dachte: Von jetzt an nenne ich dich, wie ich will, mein Herr Solicitor. »Und Sie kennen Ihre gesetzlichen Rechte?«

»Ich glaube schon, Inspector. Ich kenne die Polizeiverordnungen. Ich kenne das Beweisrecht und weiß, dass der Beschuldigte das Recht hat zu schweigen. Ich weiß, auf welche Entschädigungen im Falle ungesetzlicher Festnahme und Freiheitsberaubung Anspruch erhoben werden kann. Im Übrigen kenne ich mich auch im Rechtsgebiet der Verleumdung aus. Und ich weiß, innerhalb welcher Frist Sie Anklage gegen mich erheben und mich danach dem Magistrates’ Court vorführen müssen.«

Campbell hatte mit einer gewissen Widersetzlichkeit gerechnet, wenn auch nicht der üblichen Art, die oft nur mit Hilfe eines Sergeants und mehrerer Constables zu bändigen war.

»Nun, das macht es auch für uns leichter. Sie werden uns zweifellos einen Hinweis geben, wenn wir über die Stränge schlagen. Sie wissen also, warum Sie hier sind.«

»Ich bin hier, weil Sie mich festgenommen haben.«

»Mr Edalji, Ihre neunmalklugen Reden können Sie sich sparen. Ich bin schon mit ganz anderen als Ihnen fertiggeworden. Also, sagen Sie mir, warum Sie hier sind.«

»Inspector, ich habe nicht die Absicht, auf Allgemeinplätze der Art zu antworten, die Sie zweifellos einsetzen, um gewöhnliche Verbrecher zu übertölpeln. Ich habe auch nicht die Absicht, auf Fangfragen einzugehen, die unsere Gerichte als unzulässig zurückweisen würden. Wenn Sie mir jedoch konkrete und sachdienliche Fragen stellen, werde ich sie so wahrheitsgemäß beantworten, wie ich nur kann.«

»Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen. Dann erzählen Sie mir mal von dem Captain.«

»Von welchem Captain?«

»Genau das will ich von Ihnen wissen.«

»Ich kennen niemanden mit diesem Namen. Es sei denn, Sie meinen Captain Anson.«

»Nun werd mal nicht frech, George. Wir wissen, dass du zu dem Captain nach Northfield fährst.«

»Soweit ich weiß, war ich in meinem ganzen Leben noch nie in Northfield. Wann genau soll ich denn in Northfield gewesen sein?«

»Erzähl mir von der Great-Wyrley-Bande.«

»Der Great-Wyrley-Bande? Jetzt reden Sie aber daher wie ein Groschenroman, Inspector. Von einer solchen Bande habe ich noch nie gehört.«

»Wann hast du dich mit Shipton getroffen?«

»Ich kennen niemanden mit diesem Namen.«

»Wann hast du dich mit dem Träger Lee getroffen?«

»Dem Träger? Sie meinen einen Gepäckträger auf einem Bahnhof?«

»Nennen wir ihn einen Gepäckträger auf einem Bahnhof, wenn du das sagst.«

»Ich kenne keinen Gepäckträger, der Lee heißt. Allerdings könnte ich durchaus schon Gepäckträger gegrüßt haben, ohne ihren Namen zu kennen, und womöglich hieß einer davon Lee. Der Gepäckträger in Wyrley & Churchbridge heißt Janes.«

»Wann hast du dich mit William Greatorex getroffen?«

»Ich kenne niemanden … Greatorex? Der Junge aus dem Zug? Der in Walsall auf die Grammar School geht? Was hat denn der damit zu tun?«

»Genau das will ich von dir wissen.«

Schweigen.

»Gehören Shipton und Lee zu der Great-Wyrley-Bande?«

»Inspector, meine Antwort auf diese Frage ist bereits voll und ganz in meinen früheren Antworten enthalten. Bitte, beleidigen Sie nicht meine Intelligenz.«

»Ihre Intelligenz ist Ihnen wichtig, nicht wahr, Mr Edalji?«

Schweigen.

»Es ist Ihnen wichtig, intelligenter zu sein als andere, nicht wahr?«

Schweigen.

»Und diese größere Intelligenz unter Beweis zu stellen.«

Schweigen.

»Sind Sie der Captain?«

Schweigen.

»Schildern Sie mir genau, was Sie gestern getan haben.«

»Gestern. Ich ging wie üblich zur Arbeit. Ich war den ganzen Tag über in meiner Kanzlei in der Newhall Street mit Ausnahme des Zeitraums, in dem ich auf dem St Philip’s Place meine Sandwiches aß. Ich kehrte wie üblich gegen 18:30 nach Hause zurück. Ich brachte noch ein paar Vorgänge zum Abschluss …«

»Was für Vorgänge?«

»Juristische Vorgänge, die ich aus der Kanzlei mitgebracht hatte. Der Verkauf eines kleinen Grundstücks.«

»Und dann?«

»Dann verließ ich das Haus und ging zu Mr Hands, dem Stiefelmacher.«

»Warum?«

»Weil er ein Paar Stiefel für mich anfertigt.«

»Steckt Hands in der Sache auch mit drin?«

Schweigen.

»Und?«

»Und ich unterhielt mich mit ihm, während er eine Anprobe machte. Danach ging ich eine Weile spazieren. Kurz vor halb zehn war ich zum Abendessen zu Hause.«

»Wo sind Sie spazieren gegangen?«

»In der Gegend herum. Auf den Feldwegen. Ich gehe jeden Tag spazieren. Ich achte nie sonderlich darauf, wo ich hingehe.«

»Sie sind also in Richtung der Zeche gegangen?«

»Nein, ich glaube nicht.«

»Na komm, George, das nehm ich dir nicht ab. Du sagst, du bist in alle Richtungen gegangen, weißt aber nicht mehr, in welche. Eine Richtung von Wyrley aus führt zur Zeche. Warum sollst du nicht in diese Richtung gegangen sein?«

»Wenn Sie mir einen Moment Zeit lassen würden.« George presste die Finger gegen die Stirn. »Jetzt weiß ich es wieder. Ich bin die Straße nach Churchbridge entlanggegangen. Dann bin ich rechts in die Watling Street Road abgebogen, dann zur Walk Mill, dann weiter die Straße entlang bis zu Greens Hof.«

Campbell fand das sehr eindrucksvoll für jemanden, der sich nicht erinnern konnte, wo er gewesen war. »Und mit wem hast du dich auf Greens Hof getroffen?«

»Mit niemandem. Ich bin nicht hineingegangen. Ich kenne die Leute nicht.«

»Und wen hast du auf deinem Spaziergang getroffen?«

»Mr Hands.«

»Nein. Mr Hands hast du vor deinem Spaziergang getroffen.«

»Ich weiß es nicht mehr genau. Haben Sie mich nicht von einem Ihrer Hilfspolizisten verfolgen lassen? Fragen Sie den doch, dann bekommen Sie einen vollständigen Bericht über alles, was ich getan habe.«

»Oh, das tue ich, das tue ich. Und nicht nur den. Dann hast du also zu Abend gegessen. Und dann bist du noch einmal weggegangen.«

»Nein. Nach dem Abendessen habe ich mich schlafen gelegt.«

»Und später bist du wieder aufgestanden und weggegangen?«

»Nein, ich habe Ihnen doch gesagt, wann ich weggegangen bin.«

»Was hattest du an?«

»Was ich anhatte? Stiefel, Hose, Jacke, Mantel.«

»Was für einen Mantel?«

»Blauer Kammgarn.«

»Den, der an der Küchentür hängt, wo du deine Stiefel abstellst?«

George runzelte die Stirn. »Nein, das ist ein alter Hausmantel. Ich hatte den an, der auf dem Kleiderständer in der Diele hängt.«

»Warum war dann dein Mantel an der Hintertür feucht?«

»Ich habe keine Ahnung. Ich habe diesen Mantel seit Wochen, vielleicht auch Monaten nicht mehr angefasst.«

»Du hast ihn gestern Abend getragen. Das können wir beweisen.«

»Dann ist das eindeutig Gegenstand der Beweisaufnahme.«

»An den Kleidern, die du gestern Nacht anhattest, waren Tierhaare.«

»Das ist unmöglich.«

»Willst du deine Mutter als Lügnerin hinstellen?«

Schweigen.

»Wir haben deine Mutter gebeten, uns die Kleidungsstücke zu zeigen, die du gestern Nacht getragen hast. Das hat sie getan. Auf einigen davon waren Tierhaare. Wie erklärst du uns das?«

»Nun, ich lebe doch auf dem Land, Inspector. Leider Gottes.«

»Leider Gottes? Aber du melkst doch keine Kühe und beschlägst keine Pferde, oder?«

»Das versteht sich von selbst. Vielleicht habe ich mich an das Gatter zu einem Feld gelehnt, auf dem Kühe standen.«

»Gestern Nacht hat es geregnet, und heute Morgen waren deine Stiefel feucht.«

Schweigen.

»Das ist eine Frage, Mr Edalji.«

»Nein, Inspector, das ist eine tendenziöse Behauptung. Sie haben meine Stiefel untersucht. Wenn sie feucht waren, überrascht mich das nicht. Um diese Jahreszeit sind die Wege nass.«

»Aber die Felder sind noch nasser, und gestern Nacht hat es geregnet.«

Schweigen.

»Du bestreitest also, das Pfarrhaus zwischen 21 Uhr 30 und Tagesanbruch verlassen zu haben?«

»Noch später. Ich gehe um 7 Uhr 20 aus dem Haus.«

»Aber das kannst du unmöglich beweisen.«

»Im Gegenteil. Mein Vater und ich schlafen im selben Raum. Er schließt jeden Abend die Tür ab.«

Das verschlug dem Inspector die Sprache. Er schaute Parsons an, der noch damit beschäftigt war, den letzten Satz aufzuschreiben. Campbell hatte im Laufe der Jahre schon so manches windige Alibi zu hören bekommen, aber so etwas … »Entschuldigung, kannst du noch einmal wiederholen, was du da eben gesagt hast.«

»Mein Vater und ich schlafen im selben Raum. Er schließt jeden Abend die Tür ab.«

»Seit wann besteht dieses … Arrangement?«

»Seit meinem zehnten Lebensjahr.«

»Und wie alt bist du jetzt?«

»Siebenundzwanzig.«

»Verstehe.« Campbell verstand überhaupt nichts. »Und dein Vater – wenn er die Tür abschließt – du weißt, wo er den Schlüssel aufbewahrt?«

»Er bewahrt ihn nirgendwo auf. Er lässt ihn im Schloss stecken.«

»Du könntest also ohne weiteres das Zimmer verlassen?«

»Ich habe keinen Grund, das Zimmer zu verlassen.«

»Zum Verrichten der Notdurft?«

»Unter meinem Bett steht ein Nachttopf. Aber ich benutze ihn nie.«

»Nie?«

»Nie.«

»Na gut. Der Schlüssel steckt immer im Schloss. Du müsstest ihn also nicht erst suchen?«

»Mein Vater hat einen sehr leichten Schlaf und leidet zurzeit an einem Hexenschuss. Er wacht sehr schnell auf. Der Schlüssel macht ein sehr lautes, quietschendes Geräusch, wenn man ihn dreht.«

Campbell konnte sich nur mit Mühe zurückhalten, seinem Gegenüber nicht direkt ins Gesicht zu lachen. Was glaubte der denn, wen er vor sich hatte?

»Das trifft sich alles auffallend günstig für Sie, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten, Sir. Haben Sie nie daran gedacht, das Schloss zu ölen?«

Schweigen.

»Wie viele Rasiermesser besitzen Sie?«

»Wie viele Rasiermesser? Ich besitze kein Rasiermesser.«

»Aber Sie rasieren sich doch, nehme ich an?«

»Ich benutze ein Rasiermesser meines Vaters.«

»Warum vertraut man Ihnen kein eigenes Rasiermesser an?«

Schweigen.

»Wie alt sind Sie, Mr Edalji?«

»Diese Frage habe ich heute bereits dreimal beantwortet. Ich schlage vor, Sie konsultieren Ihre Aufzeichnungen.«

»Ein Mann von siebenundzwanzig Jahren, der kein Rasiermesser besitzen darf und jeden Abend von seinem Vater, der einen leichten Schlaf hat, im Schlafzimmer eingesperrt wird. Ist Ihnen bewusst, dass Sie eine seltene Ausnahmeerscheinung sind?«

Schweigen.

»Eine außerordentlich seltene, würde ich meinen. Und nun … erzählen Sie mir von Tieren.«

»Das ist keine Frage – Sie wollen mich in eine Falle locken.« George musste unwillkürlich lächeln.

»Bitte vielmals um Verzeihung.« Der Inspektor wurde immer aufgebrachter. Bisher hatte er den Mann ausgesprochen sanft behandelt. Nun, es gehörte nicht viel dazu, einen eingebildeten Rechtsanwalt in einen heulenden Schuljungen zu verwandeln. »Also gut, hier ist eine Frage. Was halten Sie von Tieren? Mögen Sie sie?«

»Was ich von Tieren halte? Ob ich sie mag? Nein, im Allgemeinen mag ich sie nicht.«

»Das hätte ich mir denken können.«

»Nein, Inspector, ich will das erklären.« George spürte, wie sich Campbells Haltung verhärtete, und hielt es für taktisch klug, ihm etwas entgegenzukommen. »Als ich vier Jahre alt war, hat man mir eine Kuh gezeigt. Sie hat sich beschmutzt. Das ist beinahe meine erste Erinnerung.«

»An eine Kuh, die sich beschmutzt?«

»Ja. Ich glaube, von dem Tag an war ich Tieren gegenüber misstrauisch.«

»Misstrauisch?«

»Ja. Weil man nie weiß, was sie als Nächstes tun. Sie sind unzuverlässig.«

»Ich verstehe. Und das ist Ihre erste Erinnerung, sagen Sie?«

»Ja.«

»Und seitdem sind Sie Tieren gegenüber misstrauisch. Allen Tieren.«

»Nun, unserer Hauskatze gegenüber nicht. Und Tante Stonehams Hund gegenüber auch nicht. Diese Tiere habe ich sehr gern.«

»Ich verstehe. Aber große Tiere sind etwas anderes. Kühe, zum Beispiel.«

»Ja.«

»Pferde?«

»Pferde sind unzuverlässig, ja.«

»Schafe?«

»Schafe sind einfach nur dumm.«

»Amseln?«, fragte Sergeant Parsons. Bisher hatte er noch kein Wort gesagt.

»Amseln sind keine Tiere.«

»Affen?«

»In Staffordshire gibt es keine Affen.«

»Das wissen wir wohl ganz genau, ja?«

George merkte, dass er in Zorn geriet. Er wartete absichtlich einen Moment mit der Antwort. »Inspector, gestatten Sie mir die Bemerkung, dass die Taktik Ihres Sergeants vollkommen verfehlt ist.«

»Ach, ich glaube nicht, dass das Taktik war, Mr Edalji. Sergeant Parsons ist ein guter Freund von Sergeant Robinson in Hednesford. Jemand hat gedroht, Sergeant Robinson in den Kopf zu schießen.«

Schweigen.

»Jemand hat außerdem gedroht, in dem Dorf, in dem Sie wohnen, zwanzig junge Mädchen zu zerstückeln.«

Schweigen.

»Nun, er scheint nicht sehr entsetzt zu sein über diese Ankündigungen, Sergeant. Dann haben Sie ihn wohl nicht sonderlich überrascht.«

Schweigen. George dachte: Es war ein Fehler, überhaupt auf ihn einzugehen. Alles, was keine klare Antwort auf eine klare Frage ist, liefert ihm Munition. Also lass es bleiben.

Der Inspektor schaute in ein vor ihm liegendes Notizbuch. »Bei deiner Festnahme hast du gesagt: ›Das alles überrascht mich nicht. Ich habe es schon seit geraumer Zeit erwartet.‹ Wie hast du das gemeint?«

»So, wie ich es gesagt habe.«

»Na, dann will ich dir sagen, wie ich das verstanden habe und wie der Sergeant das verstanden hat und wie der Mann auf der Straße es verstehen würde. Dass du nun endlich gefasst wurdest und dass du im Grunde darüber erleichtert bist.«

Schweigen.

»Also, was glaubst du, warum du hier bist?«

Schweigen.

»Vielleicht glaubst du, du bist hier, weil dein Vater Hindu ist.«

»Mein Vater ist eigentlich Parse.«

»An deinen Stiefeln klebt Schlamm.«

Schweigen.

»An deinem Rasiermesser klebt Blut.«

Schweigen.

»An deinem Mantel sind Pferdehaare.«

Schweigen.

»Du warst nicht überrascht über deine Festnahme.«

Schweigen.

»Ich glaube nicht, dass all das irgendetwas damit zu tun hat, ob dein Vater nun Hindu oder Parse oder Hottentotte ist.«

Schweigen.

»Nun, er findet offenbar keine Worte mehr, Sergeant. Wahrscheinlich spart er sie sich für den Magistrates’ Court in Cannock auf.«

George wurde in seine Zelle zurückgebracht, wo ein Teller mit kaltem Fraß auf ihn wartete. Er rührte ihn nicht an. Alle zwanzig Minuten hörte er ein Scharren am Guckloch; jede Stunde wurde – seiner Schätzung nach – die Tür aufgeschlossen, und ein Constable schaute herein.

Beim zweiten Mal sagte der Polizist einen offenkundig vorbereiteten Text auf: »Nun, Mr Edalji, tut mir leid, Sie hier zu sehen – wie haben Sie es nur geschafft, allen unseren Leuten zu entwischen? Wann haben Sie sich das Pferd denn vorgenommen?«

George hatte den Constable noch nie gesehen, daher rührte ihn dessen Mitgefühl wenig, und es entlockte ihm auch keine Antwort.

Eine Stunde später sagte der Polizist: »Offen gestanden, Sir, würde ich Ihnen raten, reinen Tisch zu machen. Sonst tut das nämlich bestimmt jemand anderes für Sie.«

Beim vierten Besuch fragte George, ob diese ständigen Kontrollen die ganze Nacht weitergehen würden.

»Befehl ist Befehl.«

»Und Sie haben Befehl, mich wach zu halten?«

»Aber nein, Sir. Wir haben Befehl, Sie am Leben zu erhalten. Wenn Sie sich was antun, muss ich den Kopf dafür hinhalten.« George erkannte, dass jeder Protest gegen diese andauernden Störungen zwecklos war. Der Constable fuhr fort: »Es wäre natürlich leichter für alle Beteiligten, Sie selbst eingeschlossen, wenn Sie sich einweisen ließen.«

»Mich einweisen lassen? Wohin denn?«

Der Constable wand sich ein wenig. »An einen Ort, wo Sie in Sicherheit sind.«

»Ah, ich verstehe«, sagte George, und wieder wallte jäher Zorn in ihm auf. »Ich soll mich für übergeschnappt erklären.« Er benutzte dieses Wort mit Absicht und im vollen Bewusstsein, dass sein Vater es missbilligt hätte.

»Das macht es der Familie oft sehr viel leichter. Denken Sie darüber nach, Sir. Denken Sie daran, was das für Ihre Eltern bedeutet. Soweit ich weiß, sind sie nicht mehr die Jüngsten.«

Die Zellentür schloss sich. George lag auf seiner Pritsche und konnte vor Wut und Erschöpfung nicht einschlafen. Immer wieder rasten seine Gedanken zum Pfarrhaus zurück, zu dem Klopfen an der Tür und dem Haus voller Polizisten. Sein Vater, seine Mutter, Maud. Seine Kanzlei in der Newhall Street, nunmehr verschlossen und verlassen, seine Sekretärin bis auf weiteres nach Hause geschickt. Sein Bruder Horace, der am nächsten Morgen die Zeitung aufschlägt. Seine Anwaltskollegen in Birmingham, die sich die Neuigkeit am Telefon weitererzählen.

Doch hinter der Erschöpfung, der Wut und der Angst entdeckte George noch eine andere Empfindung: Erleichterung. So weit war es jetzt also gekommen: Nun, umso besser. Gegen die üblen Streiche, die Verfolgungen und die unflätigen anonymen Briefe hatte er wenig tun können; und auch nicht viel mehr, als die Polizei hilflos herumtappte – außer ihr vernünftige Ratschläge zu geben, die sie verächtlich von sich gewiesen hatte. Doch jene Peiniger und diese hilflosen Stümper hatten ihn an einen Ort gebracht, an dem er in Sicherheit war: in seine zweite Heimat, die englische Justiz. Nun wusste er, wo er war. Auch wenn ihn seine Arbeit nur selten in einen Gerichtssaal führte, kannte er sich dort aus wie in seinem natürlichen Lebensraum. Er hatte oft genug Verhandlungen beigewohnt und gesehen, wie die Angst ganz gewöhnlichen Menschen die Kehle zuschnürte, sodass sie angesichts der hehren Pracht des Gerichts kaum in der Lage waren, eine Aussage zu machen. Er hatte Polizisten erlebt, die erst selbstsicher und im Vollgefühl ihrer Beamtenwürde auftraten und dann von einem drittklassigen Verteidiger als verlogene Narren hingestellt wurden. Und er hatte gemerkt – nein, nicht nur gemerkt, auch gespürt, beinahe mit Händen greifen können –, dass alle, die von Berufs wegen mit der Rechtsprechung zu tun hatten, durch ein unsichtbares, unauflösbares Netz verbunden waren. Richter, Laienrichter, Barrister, Solicitors, Protokollführer, Saaldiener: Dies war ihr Reich, in dem sie sich in einer lingua franca unterhielten, die andere oft kaum verstanden.

Natürlich würde sein Fall gar nicht erst vor Richter und Barrister kommen. Die Polizei hatte keine Beweise gegen ihn in der Hand, und er hatte das wasserdichteste Alibi, das man überhaupt haben konnte. Ein Geistlicher der Kirche von England würde auf die heilige Bibel schwören, dass sein Sohn zu der Zeit, als das Verbrechen begangen wurde, in einem verschlossenen Raum in tiefem Schlaf lag. Die Laienrichter der ersten Instanz würden nur einen kurzen Blick wechseln und sich gar nicht erst zur Beratung zurückziehen. Inspector Campbell würde einen scharfen Verweis einstecken müssen, und damit wäre die Sache erledigt. Natürlich musste er den richtigen Solicitor verpflichten und meinte, ihn in Mr Litchfield Meek gefunden zu haben. Verfahren eingestellt, Kosten der Gerichtskasse auferlegt, er selbst mit makellosem Leumund entlassen, Polizei heftig gerügt.

Nein, jetzt wurde er leichtsinnig. Außerdem griff er viel zu weit vor, wie ein ganz gewöhnlicher, unbedarfter Mensch. Er durfte nie aufhören, wie ein Jurist zu denken. Er musste voraussehen, was die Polizei vorbringen könnte, was sein Verteidiger wissen musste, was das Gericht als Beweis zulassen würde. Er musste sich mit absoluter Gewissheit erinnern, wo er während des gesamten Zeitraums der angeblichen kriminellen Betätigung war, was er getan und gesagt hatte und wer was zu ihm gesagt hatte.

Er ging die letzten beiden Tage systematisch durch und bereitete sich darauf vor, den Ablauf bis ins kleinste und unstrittigste Detail über jeden vernünftigen Zweifel hinaus belegen zu können. Er stellte eine Liste der Zeugen auf, die er möglicherweise brauchen würde: seine Sekretärin, den Stiefelmacher Mr Hands, den Stationsvorsteher Mr Merriman. Jeden, der ihn bei irgendetwas gesehen hatte. Markew, zum Beispiel. Falls Merriman nicht bestätigen konnte, dass er den 7:39 – Zug nach Birmingham genommen hatte, dann wusste er, an wen er sich zu wenden hatte. George hatte auf dem Bahnsteig gestanden, als Joseph Markew ihn ansprach und ihm nahelegte, einen späteren Zug zu nehmen, da Inspector Campbell ihn zu sprechen wünsche. Markew war früher Police Constable gewesen und nunmehr Gastwirt; es war durchaus möglich, dass er als Hilfspolizist angeheuert worden war, doch er hatte sich nicht als solcher zu erkennen gegeben. George hatte gefragt, was Campbell von ihm wolle, aber Markew hatte gesagt, das wisse er nicht. Als George noch überlegte, was er tun sollte und was seine Mitreisenden wohl von diesem Wortwechsel halten mochten, hatte Markew einen herrischen Ton angeschlagen und in etwa gesagt – nein, nicht in etwa, denn nun fielen George seine genauen Worte wieder ein. Markew hatte gesagt: »Na los, Mr Edalji, können Sie nicht mal einen Tag Urlaub machen?« Und George hatte gedacht, mein guter Mann, ich habe doch erst vor genau zwei Wochen Urlaub gemacht, ich war mit meiner Schwester in Aberystwyth, doch wenn es um meinen Urlaub gehen soll, dann höre ich lieber auf mich selbst oder meinen Vater als auf die Staffordshire Constabulary, die sich in den letzten Wochen nicht gerade von ihrer höflichsten Seite gezeigt hat. Darum hatte er erklärt, dass in der Newhall Street dringende Angelegenheiten auf ihn warteten, und Markew, als der 7:39 einfuhr, auf dem Bahnsteig stehen lassen.

Ebenso gewissenhaft ging George auch andere, selbst die banalsten Gespräche durch. Endlich schlief er doch ein oder nahm zumindest das Scharren am Guckloch und die Störung durch den Constable weniger wahr. Am Morgen brachte man ihm einen Eimer Wasser, einen Klumpen schmieriger Seife und einen Lappen, der ihm als Handtuch dienen sollte. Er durfte seinen Vater sehen, der ihm aus dem Pfarrhaus ein Frühstück mitgebracht hatte. Außerdem durfte er zwei kurze Briefe schreiben, in denen er seinen Mandanten erläuterte, warum sich die Erledigung ihrer Angelegenheiten notgedrungen verzögern würde.

Etwa eine Stunde später erschienen zwei Constables, um ihn in den Gerichtssaal zu führen. Während sie warteten, bis er zum Aufbruch bereit war, beachteten sie ihn nicht und sprachen über seinen Kopf hinweg von einem Fall, der sie offenkundig viel mehr interessierte als der seine. Er betraf das mysteriöse Verschwinden einer Ärztin in London.

»Dabei soll sie ein Meter achtundsiebzig groß sein.«

»Also nicht allzu schwer zu erkennen.«

»Sollte man meinen, nicht wahr?«

Sie führten ihn die hundertfünfzig Meter von der Polizeiwache durch eine Menschenmenge, die anscheinend vor allem aus Neugier gekommen war. Einmal schrie eine alte Frau wirre Beschimpfungen, aber sie wurde abgeführt. Im Gericht wartete Mr Litchfield Meek auf ihn: ein Anwalt der alten Schule, hager und weißhaarig, der für seine Höflichkeit ebenso bekannt war wie für seinen Starrsinn. Im Gegensatz zu George rechnete er nicht mit einer umgehenden Einstellung des Verfahrens.

Die Laienrichter zogen ein: Mr J. Williamson, Mr J. T. Hatton und Colonel R. S. Williamson. George Ernest Thompson Edalji wurde zur Last gelegt, am 17. August widerrechtlich und böswillig ein Pferd verletzt zu haben, das Eigentum der Great Wyrley Colliery Company war. George erklärte sich für nicht schuldig, und Inspector Campbell wurde aufgerufen, die Anklage zu begründen. Er schilderte, wie er gegen 7 Uhr morgens auf ein Feld nahe der Zeche geholt worden war und dort ein Pony in elendem Zustand vorfand, das anschließend erschossen werden musste. Er habe sich dann zu dem Haus des Angeklagten begeben, wo er eine Jacke mit Blutflecken an den Ärmelaufschlägen, weißlichen Speichelflecken an den Ärmeln und Haaren an Ärmeln und Vorderteil entdeckt habe. Es habe auch eine Weste mit einem Speichelfleck gegeben. In der Jackentasche habe sich ein Taschentuch mit den Initialen SE und einem bräunlichen Fleck an einer Ecke befunden, der möglicherweise Blut sein könnte. Danach habe er sich mit Sergeant Parsons zum Geschäftssitz des Angeklagten in Birmingham begeben, ihn festgenommen und zur Vernehmung nach Cannock gebracht. Der Angeklagte habe geleugnet, in der voraufgegangenen Nacht die ihm beschriebenen Kleidungsstücke getragen zu haben, dies jedoch zugegeben, nachdem man ihn davon in Kenntnis gesetzt hatte, dass seine Mutter es bestätigt habe. Er sei dann nach den Haaren auf seiner Kleidung befragt worden. Zunächst habe er deren Vorhandensein bestritten, dann aber vermutet, sie könnten auf seine Kleidung gekommen sein, als er sich an ein Gatter gelehnt habe.

George sah zu Mr Meek hinüber: Dies war wohl kaum der Tenor seiner Unterredung mit dem Inspektor vom gestrigen Nachmittag. Doch Mr Meek zeigte kein Interesse daran, den Blick seines Mandanten aufzufangen. Stattdessen erhob er sich und stellte Campbell einige Fragen, die George allesamt harmlos, wenn nicht geradezu freundlich erschienen.

Danach rief Mr Meek den Reverend Shapurji Edalji auf, der als »Angehöriger des geistlichen Stands« bezeichnet wurde. George sah zu, wie sein Vater präzise, aber von ziemlich langen Pausen unterbrochen die Schlafarrangements im Pfarrhaus schilderte – dass er immer die Schlafzimmertür abschließe; dass der Schlüssel sich nur mit Mühe drehen ließe und quietsche; dass er einen sehr leichten Schlaf habe, seit Monaten von einem Hexenschuss geplagt werde und bestimmt aufgewacht wäre, falls jemand den Schlüssel umgedreht hätte; dass er auf jeden Fall nicht länger als bis fünf Uhr morgens geschlafen habe.

Superintendent Barrett, ein rundlicher Mann mit einem kurzen weißen Bart, der seine Mütze vor den gewölbten Bauch hielt, erklärte dem Gericht, der Chief Constable habe ihn angewiesen, gegen eine Freilassung auf Kaution Einspruch zu erheben. Nach kurzer Beratung luden die Richter den Angeklagten unter Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft für den folgenden Montag erneut vor; dann sollte über eine Freilassung gegen Kaution verhandelt werden. Zwischenzeitlich werde der Angeklagte in das Gefängnis von Stafford verlegt. Das war alles. Mr Meek versprach, George am nächsten Tag zu besuchen, wahrscheinlich am Nachmittag. George bat, ihm eine Birminghamer Zeitung mitzubringen. Er müsse wissen, was seine Kollegen erfahren hatten. Die Gazette wäre ihm am liebsten, aber die Post würde auch genügen.

Im Gefängnis von Stafford fragte man ihn, welcher Religion er angehöre, und ob er des Lesens und Schreibens kundig sei. Dann musste er sich nackt ausziehen und eine entwürdigende Haltung einnehmen. Er wurde dem Gefängnisdirektor, Captain Synge, vorgeführt, der ihm mitteilte, er werde im Krankentrakt untergebracht, bis eine Zelle frei sei. Danach wurden ihm seine Vergünstigungen als Untersuchungsgefangener erläutert: Er durfte seine eigene Kleidung tragen, sich Bewegung im Freien verschaffen, Briefe schreiben, Zeitungen und Zeitschriften empfangen. Er durfte seinen Anwalt unter vier Augen sprechen, wobei ihn ein Wärter hinter einer Glastür beobachten würde. Alle anderen Besuche würden überwacht.

George war in seinem leichten Sommeranzug festgenommen worden, und seine einzige Kopfbedeckung war ein Strohhut. Er bat um Erlaubnis, sich andere Kleider kommen zu lassen. Dies sei, wurde ihm erklärt, gegen die Vorschriften. Untersuchungsgefangene genössen das Privileg, ihre persönliche Kleidung behalten zu dürfen; dies sei jedoch nicht als das Recht auf Einrichtung einer Privatgarderobe in der Zelle zu verstehen.

SENSATION IN GREAT WYRLEY las George am nächsten Nachmittag. PFARRERSSOHN VOR GERICHT. »Die Festnahme war im gesamten Bezirk Cannock Chase eine Sensation. Davon zeugte auch die Menschenmenge, die gestern über die Straßen zum Pfarrhaus von Great Wyrley, dem Wohnsitz des Angeklagten, sowie zum Polizeigericht und zur Polizeiwache von Cannock zog.« Die Vorstellung, dass man das Pfarrhaus belagerte, entsetzte George. »Die Polizei durfte das Haus ohne richterliche Anordnung durchsuchen. Nach bisher vorliegenden Informationen erbrachte die Durchsuchung eine Anzahl blutbefleckter Kleidungsstücke, mehrere Rasiermesser sowie ein Paar Stiefel, wobei letztere auf einem Feld nahe dem Schauplatz der Verstümmelung gefunden wurden.«

»Auf einem Feld gefunden wurden«, wiederholte er und sah Mr Meek an. »Auf einem Feld gefunden? Hat jemand meine Stiefel auf ein Feld gebracht? Eine Anzahl blutbefleckter Kleidungsstücke? Eine Anzahl

Meek schien all dies mit erstaunlicher Ruhe aufzunehmen. Nein, er beabsichtige nicht, die Polizei nach der angeblichen Entdeckung eines Stiefelpaars auf einem Feld zu befragen. Nein, er habe nicht vor, die Birminghamer Daily Gazette um den Abdruck einer Erklärung zu bitten, in der sie ihre Angaben über die Menge der blutbefleckten Kleidungsstücke zurücknahm.

»Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte, Mr Edalji.«

»Selbstverständlich.«

»Ich habe, wie Sie sich denken können, schon viele Mandanten in einer ähnlichen Lage wie der Ihren gehabt, und die meisten wollen unbedingt die Zeitungsberichte über ihren Fall lesen. Das regt sie bisweilen allzu sehr auf. In dem Fall rate ich immer, auch die nächste Spalte zu lesen. Oft hilft das anscheinend.«

»Die nächste Spalte?« George ließ den Blick ein wenig nach links wandern. ÄRZTIN VERMISST lautete die Überschrift. Und darunter: KEINE SPUR VON MISS HICKMAN.

»Lesen Sie laut vor«, sagte Mr Meek.

»Bislang gibt es noch keine Spur im Falle der verschwundenen Miss Sophie Frances Hickman, einer Ärztin vom Royal Free Hospital …«

Meek ließ sich den vollständigen Artikel vorlesen. Er lauschte aufmerksam, seufzte, schüttelte den Kopf und schnalzte ab und zu sogar mit der Zunge.

»Aber Mr Meek«, sagte George am Ende, »woher soll ich wissen, ob irgendetwas davon wahr ist, wenn ich bedenke, was sie über mich schreiben?«

»Genau darauf wollte ich hinaus.«

»Und dennoch …« Georges Blick wanderte wie magnetisch angezogen zu seinem eigenen Artikel zurück. »Dennoch. ›Der Angeklagte ist, wie aus seinem Namen hervorgeht, asiatischer Herkunft.‹ Das klingt ja, als sei ich ein Chinese.«

»Ich verspreche Ihnen, Mr Edalji, falls die Zeitung Sie jemals als einen Chinesen bezeichnet, werde ich ein Wörtchen mit dem Herausgeber reden.«

Am Montag darauf wurde George aus Stafford nach Cannock zurückgebracht. Diesmal schien die Menge auf dem Weg zum Gericht wütender zu sein. Männer rannten neben der Droschke her, sprangen hoch und schauten hinein; manche schlugen gegen die Türen und schwangen Stöcke in der Luft. George bekam es mit der Angst zu tun; doch die ihn begleitenden Constables taten, als wäre das alles ganz normal.

Dieses Mal saß Captain Anson im Gerichtssaal; George bemerkte eine gepflegte, respekteinflößende Gestalt, die ihn grimmig ansah. Die Richter verkündeten, in Anbetracht der Schwere der Vorwürfe seien drei verschiedene Sicherheitsleistungen erforderlich. Georges Vater hatte Zweifel, ob er so viele beschaffen könne. Daher vertagte sich das Gericht auf die kommende Woche in Penkridge.

In Penkridge wurden die Kautionsbedingungen näher bestimmt. Es wurden folgende Sicherheitsleistungen verlangt: £ 200 von George, je £ 100 von seinem Vater und seiner Mutter sowie weitere £ 100 von dritter Seite. Das waren jedoch vier Kautionen, nicht drei, wie in Cannock verkündet. George empfand das Ganze als eine Farce. Ohne Mr Meeks Äußerung dazu abzuwarten, stand er selbst auf.

»Ich wünsche keine Haftentlassung gegen Kaution«, erklärte er den Richtern. »Mir liegen verschiedene Angebote vor, aber ich verzichte auf die Entrichtung einer Kaution.«

Das Vorverfahren wurde dann auf den folgenden Donnerstag, den dritten September, in Cannock angesetzt. Am Dienstag kam Mr Meek mit schlechten Nachrichten zu George.

»Die Anklage wird um einen zweiten Punkt erweitert, und zwar um den Vorwurf, Sie hätten Sergeant Robinson aus Hednesford die Ermordung durch Erschießen angedroht.«

»Hat man neben meinen Stiefeln auch ein Gewehr auf dem Feld gefunden?«, fragte George ungläubig. »Erschießen? Sergeant Robinson erschießen? Ich habe in meinem ganzen Leben noch kein Gewehr angerührt, und soweit ich weiß, habe ich Sergeant Robinson nie zu Gesicht bekommen. Mr Meek, haben die den Verstand verloren? Was in aller Welt hat das zu bedeuten?«

»Es bedeutet«, antwortete Mr Meek, als sei der Ausbruch seines Mandanten eine schlichte, wohlerwogene Frage gewesen, »es bedeutet, dass der Magistrates’ Court die Sache auf jeden Fall an die nächsthöhere Instanz überweist. Wie schwach die Beweislage auch sein mag, ein Freispruch ist jetzt äußerst unwahrscheinlich.«

Später saß George auf seinem Bett im Krankentrakt. Er war noch immer fassungslos, und das Entsetzen brannte in ihm wie ein Schmerz. Wie konnten sie ihm das antun? Wie konnten sie so etwas denken? Wie konnten sie so etwas auch nur ansatzweise glauben? Wut war ihm ein derart unbekanntes Gefühl, dass er nicht wusste, gegen wen er sie richten sollte – gegen Campbell, Parsons, Anson, den Vertreter der Anklage, die Laienrichter? Nun, für den Anfang mochten die Richter herhalten. Meek hatte gesagt, sie würden das Verfahren auf jeden Fall überweisen – als könnten sie nicht selber denken, als wären sie bloße Handpuppen oder Marionetten. Aber was war so ein Laienrichter denn schon? Ein richtiger Vertreter der Justiz jedenfalls nicht. Die meisten waren nur aufgeblasene Dilettanten, die sich für kurze Zeit mit ein bisschen Autorität schmückten.

Seine verächtlichen Gedanken erregten ihn, und er schämte sich umgehend für seine Erregung. Genau darum war Zorn eine Sünde: Er führte zur Unwahrheit. Die Laienrichter in Cannock waren bestimmt nicht besser und nicht schlechter als anderswo; er konnte sich nicht erinnern, dass sie auch nur ein Wort gesagt hätten, dem er mit Fug und Recht hätte widersprechen können. Und je länger er über die Laienrichter nachdachte, desto mehr gewann der Jurist in ihm wieder die Oberhand. Seine Fassungslosigkeit wich einer bloßen bitteren Enttäuschung und dann einem resignierten Pragmatismus. Es war doch viel besser, dass sein Fall vor ein höheres Gericht kam. Nur mit Hilfe von Barristern und in einer würdigeren Umgebung konnte wahrhaft Recht gesprochen und eine gehörige Rüge erteilt werden. Der Magistrates’ Court von Cannock war dafür ganz und gar nicht geeignet. Er war ja kaum größer als das Schulzimmer am Pfarrhaus. Nicht einmal eine richtige Anklagebank gab es: Die Angeklagten mussten mitten im Saal auf einem Stuhl sitzen.

Und dort musste auch George am Morgen des dritten September Platz nehmen; er fühlte sich von allen Seiten beobachtet und wusste nicht recht, ob er jetzt wie der Klassenprimus aussah oder eher wie der Klassenkasper. Inspector Campbell machte eine längere Aussage, blieb aber im Großen und Ganzen bei seiner früheren Darstellung. Der erste neue Zeuge auf Seiten der Polizei war Constable Cooper, der schilderte, wie er sich in den Stunden nach der Entdeckung des verletzten Tiers einen Stiefel des Angeklagten angeeignet hatte, bei dem ein Absatz eigenartig abgetreten war. Er habe diesen Absatz mit Fußabdrücken auf dem Feld verglichen, wo man das Pony gefunden habe, und auch mit Spuren bei einer hölzernen Fußgängerbrücke in der Nähe des Pfarrhauses. Er habe Mr Edaljis Stiefelabsatz in die feuchte Erde gedrückt und beim Herausziehen des Stiefels festgestellt, dass die Abdrücke zusammenpassten.

Danach bestätigte Sergeant Parsons, dass er die zwanzig Hilfspolizisten befehligt habe, die zur Verfolgung der Verstümmelerbande eingesetzt worden seien. Er erklärte, bei der Durchsuchung von Edaljis Schlafzimmer habe man eine Schachtel mit vier Rasiermessern entdeckt. Eins davon habe feuchte, braune Flecken sowie ein, zwei an der Klinge klebende Haare aufgewiesen. Der Sergeant habe das Edaljis Vater gezeigt, der daraufhin die Klinge mit dem Daumen abgewischt habe.

»Das ist nicht wahr!«, rief der Pfarrer und sprang auf.

»Sie dürfen ihn nicht unterbrechen«, sagte Inspector Campbell, noch ehe die Laienrichter reagieren konnten.

Sergeant Parsons setzte seine Aussage fort und schilderte den Moment, als der Angeklagte in die Arrestzelle in der Birminghamer Newton Street verbracht wurde. Edalji habe sich zu ihm umgedreht und gesagt: »Ich nehme an, das habe ich Mr Loxton zu verdanken. Den mach ich noch fertig.«

Am nächsten Morgen schrieb die Birminghamer Daily Gazette über George:

Er ist 28 Jahre alt, wirkt aber jünger. Sein Anzug war ihm zu klein und hatte ein schwarz-weißes Karomuster. Mit seiner dunklen Gesichtsfarbe, den großen, dunklen Augen, den wulstigen Lippen und dem kleinen, runden Kinn sieht er kaum wie ein typischer Solicitor aus. Er ist eine durch und durch asiatische Erscheinung und von einer Gleichmütigkeit, die ihn keine über ein schwaches Lächeln hinausgehende Gefühlsregung zeigen ließ, während die Vertreter der Anklage diese unerhörte Geschichte aufrollten. Sein betagter Hindu-Vater und die weißhaarige englische Mutter waren im Gerichtssaal anwesend und verfolgten den Prozess mit rührendem Interesse.

»Ich bin achtundzwanzig, wirke aber jünger«, sagte er zu Mr Meek. »Das könnte daran liegen, dass ich siebenundzwanzig bin. Meine Mutter ist keine Engländerin, sondern Schottin. Mein Vater ist kein Hindu.«

»Ich habe Ihnen davon abgeraten, die Zeitungen zu lesen.«

»Aber er ist kein Hindu.«

»Für die Gazette ist das kein großer Unterschied.«

»Aber Mr Meek, wenn ich Sie nun als Waliser bezeichnen würde?«

»Das wäre nicht ganz unrichtig, da meine Mutter walisisches Blut in den Adern hatte.«

»Oder als Iren?«

Mr Meek lächelte nur, ohne gekränkt zu sein, und sah dabei vielleicht sogar ein wenig irisch aus.

»Oder als Franzosen?«

»Aber, aber, Sir, jetzt gehen Sie zu weit. Jetzt wollen Sie mich provozieren.«

»Und ich bin gleichmütig«, fuhr George nach einem weiteren Blick in die Gazette fort. »Ist das nicht gut so? Sollte ein typischer Solicitor nicht gleichmütig sein? Und doch bin ich kein typischer Solicitor. Ich bin ein typischer Asiate, was immer das heißen mag. Was ich auch bin, ich bin typisch, darauf läuft es wohl hinaus. Wenn ich aufbrausend wäre, so wäre ich dennoch ein typischer Asiate, nicht wahr?«

»Gleichmütig ist doch gut, Mr Edalji. Und zumindest hat man Sie nicht als unergründlich bezeichnet. Oder als verschlagen.«

»Was würde das heißen?«

»Oh, voll von teuflisch böser List. Teuflisch vermeiden wir gern. Diabolisch auch. Mit gleichmütig wird sich die Verteidigung abfinden.«

George lächelte seinem Anwalt zu. »Ich möchte mich entschuldigen, Mr Meek. Und ich danke Ihnen für Ihre vernünftige Einstellung. Ich fürchte, ich werde mehr davon brauchen.«

Am zweiten Verhandlungstag machte William Greatorex, ein vierzehnjähriger Schüler der Walsall Grammar School, seine Aussage. Es wurden mehrere Briefe mit seiner Unterschrift im Gerichtssaal verlesen. Er bestritt sowohl die Urheberschaft an als auch jegliche Kenntnis von diesen Schriftstücken und konnte sogar nachweisen, dass er auf der Isle of Man gewesen war, als zwei der Briefe aufgegeben wurden. Er sagte, er fahre gewöhnlich jeden Morgen mit dem Zug von Hednesford nach Walsall, wo er zur Schule gehe. Andere Jungen, die regelmäßig mit ihm führen, seien Westwood Stanley, Sohn des bekannten Knappschaftsältesten; Quibell, Sohn des Pfarrers von Hednesford; Page, Harrison und Ferriday. Alle diese Jungen waren in den eben verlesenen Briefen namentlich erwähnt worden.

Greatorex erklärte, er kenne Mr Edalji seit drei oder vier Jahren vom Sehen. »Er ist oft im selben Abteil mit uns nach Walsall gefahren. Bestimmt ein Dutzend Mal, würde ich meinen.« Er wurde gefragt, wann der Angeklagte das letzte Mal mit ihm gefahren sei. »An dem Morgen, nachdem zwei von Mr Blewitts Pferden getötet wurden. Ich glaube, das war der 30. Juni. Wir konnten die Pferde auf dem Feld liegen sehen, als wir im Zug vorbeifuhren.« Der Zeuge wurde gefragt, ob Mr Edalji an dem Morgen mit ihm gesprochen habe. »Ja, er fragte mich, ob die getöteten Pferde Blewitt gehörten. Dann schaute er zum Fenster hinaus.« Der Zeuge wurde gefragt, ob sich der Angeklagte auch davor schon zu den Verstümmelungen geäußert habe. »Nein, nein, nie«, antwortete er.

Thomas Henry Gurrin bestätigte, dass er Handschriftenexperte mit langjähriger Erfahrung sei. Er gab sein Gutachten zu den Briefen ab, die vor Gericht verlesen worden waren. In der verstellten Handschrift habe er etliche deutlich ausgeprägte Eigenheiten entdeckt. Genau dieselben Eigenheiten hätten sich auch in den Briefen von Mr Edalji gefunden, die ihm zum Vergleich übergeben worden waren.

Dr. Butter, der Amtsarzt, der die Flecken auf Edaljis Kleidern untersucht hatte, erklärte, die von ihm durchgeführten Analysen hätten Spuren von Säugetierblut ergeben. Auf Mantel und Weste habe er neunundzwanzig kurze, braune Haare gefunden. Diese habe er mit Haaren auf der Haut eines Grubenponys verglichen, das am Abend vor Mr Edaljis Festnahme verstümmelt worden war. Unter dem Mikroskop hätten sie sich als ähnlich erwiesen.

Mr Gripton hatte sich in der fraglichen Nacht in Gesellschaft einer jungen Dame nahe der Coppice Lane, Great Wyrley, aufgehalten und sagte aus, er habe Mr Edalji gesehen und sei gegen neun Uhr an ihm vorübergegangen. Mr Gripton konnte nicht genau sagen, wo das gewesen war.

»Nun«, meinte der Anklagevertreter. »Dann nennen Sie uns das Wirtshaus, das der Stelle, wo Sie ihn gesehen haben, am nächsten liegt.«

»Die alte Polizeiwache«, antwortete Mr Gripton fröhlich.

Die Polizei verbat sich streng das Gelächter, mit dem diese Bemerkung aufgenommen wurde.

Miss Biddle, die Wert auf die Feststellung legte, dass sie mit Mr Gripton verlobt sei, hatte Mr Edalji ebenfalls gesehen; desgleichen mehrere andere Zeugen.

Die Verstümmelungen wurden genauer dargestellt: Die Wunde des Grubenponys der Colliery Company war der Beschreibung nach achtunddreißig Zentimeter lang.

Auch der Vater des Angeklagten, der Hindu-Pfarrer von Great Wyrley, sagte als Zeuge aus.

Der Angeklagte erklärte: »Ich bin vollkommen unschuldig im Sinne der Anklage und behalte mir vor, mich dagegen zu verteidigen.«

Am Freitag, dem 4. September wurde George Edalji zur Verhandlung über zwei Anklagepunkte an den Court of Quarter Sessions in Stafford überwiesen. Am nächsten Morgen las er in der Birminghamer Daily Gazette:

Edalji machte einen frischen und fröhlichen Eindruck und unterhielt sich, auf seinem Stuhl in der Mitte des Gerichtssaals sitzend, lebhaft mit seinem Anwalt; sein scharfer Blick für die Beweislage ist Ergebnis einer gründlichen juristischen Ausbildung. Meist saß er jedoch mit verschränkten Armen und übereinandergeschlagenen Beinen da und sah den Zeugen mit gleichmütigem Interesse zu, wobei er einen Stiefel anhob und dem Betrachter einen deutlichen Blick auf den eigenartig abgetretenen Absatz gewährte, der eins der stärksten Indizien in der Beweiskette gegen ihn ist.

George war froh, noch immer als gleichmütig zu gelten, und überlegte, ob er sich noch vor der Verhandlung in den Quarter Sessions anderes Schuhwerk besorgen könnte.

Ihm entging auch nicht, dass eine andere Zeitung William Greatorex als einen »gesunden englischen Knaben mit offenem, sonnenverbrannten Gesicht und angenehmer Wesensart« beschrieb.

Mr Litchfield Meek war zuversichtlich, dass es am Ende einen Freispruch geben werde.

Miss Sophie Frances Hickman, die Ärztin, wurde weiterhin vermisst.