Arthur

Sie lagerten die Möbel ein und ließen die Kinder bei Mrs Hawkins. Aus der Feuchtigkeit und dem Nebel von London in die reine, trockene Kälte von Davos, wo Touie im Hotel Kurhaus unter mehrere Lagen Decken gebettet wurde. Wie Dr Powell vorhergesagt hatte, brachte die Krankheit einen sonderbaren Optimismus mit sich, und so wurde Touie mit ihrem gelassenen Wesen nicht nur stoisch, sondern geradezu fröhlich. Es war offenkundig, dass sie innerhalb weniger Wochen von einer Ehefrau und Gefährtin zu einem auf fremde Hilfe angewiesenen Pflegefall geworden war; doch sie machte sich keine Sorgen über ihren Zustand und wütete schon gar nicht, wie Arthur das getan hätte. Er wütete für sie beide, im Stillen und allein. Er verbarg auch seine schwärzeren Gedanken. Bei jedem klaglosen Husten durchzuckte nicht sie, sondern ihn ein Schmerz; wenn sie einen Tropfen Blut spuckte, überkam ihn ein Schwall von Schuldgefühlen.

Doch worin sein Verschulden oder seine Fahrlässigkeit auch bestehen mochte, es war nun einmal geschehen, und jetzt blieb nur eine Möglichkeit des Handelns: ein heftiger Angriff auf die verwünschte Mikrobe, die Touies Organe verzehren wollte. Und wenn Arthurs Anwesenheit nicht erforderlich war, blieb ihm nur eine Möglichkeit der Zerstreuung: heftige sportliche Betätigung. Er hatte seine norwegischen Ski nach Davos mitgenommen und ließ sich von zwei Brüdern namens Branger in deren Gebrauch unterweisen. Als das Können des Schülers dann seinem verbissenen Eifer entsprach, wagten sie sich gemeinsam an die Besteigung des Jakobshorns; auf dem Gipfel wandte Arthur sich um und sah, wie tief unter ihm zum Zeichen des Beifalls die Fahnen der Stadt gedippt wurden. Im selben Winter führten ihn die Brangers über den 2 400 Meter hohen Furggapass. Sie brachen um vier Uhr morgens auf und kamen um die Mittagszeit in Arosa an, und so wurde Arthur der erste Engländer, der einen Alpenpass auf Skiern überquerte. Im Hotel in Arosa füllte Tobias Branger die Meldezettel für alle drei aus. Neben Arthurs Namen schrieb er in die Spalte für den Beruf: Sportsmann.

Die Alpenluft, die besten Ärzte und Geld, Lotties Hilfe bei der Pflege und Arthurs Zähigkeit im Ringen mit dem Teufel trugen dazu bei, dass Touies Zustand sich stabilisierte und dann allmählich besserte. Gegen Ende des Frühjahrs war sie so weit gekräftigt, dass sie nach England zurückkehren konnte, was Arthur die Möglichkeit gab, zu einer Lesereise nach Amerika aufzubrechen. Im folgenden Winter fuhren sie wieder nach Davos. Das erste Urteil von drei Monaten war aufgehoben; alle Ärzte waren sich einig, dass sich der Gesundheitszustand der Patientin leicht gebessert hatte. Den nächsten Winter verbrachten sie in der Wüste bei Kairo im Hotel Mena House, einem niedrigen weißen Gebäude, hinter dem die Pyramiden aufragten. Das Reizklima setzte Arthur zu, doch Billard, Tennis und Golf besänftigten ihn. Er sah ein Leben mit einem alljährlichen Winterexil vor sich, das jedes Mal etwas länger dauern würde, bis schließlich … Nein, er durfte nicht über das Frühjahr, den Sommer hinaus denken. Immerhin konnte er bei diesem Hin und Her zwischen Hotels, Dampfschiffen und Eisenbahnzügen noch schreiben. Und wenn er nicht schreiben konnte, ging er in die Wüste hinaus und schlug einen Golfball, so weit er nur konnte. Im Grunde war der ganze Golfplatz nichts als ein einziges, riesiges Sandloch; man steckte darin fest, wo immer der Ball landete. Wie ihm schien, war sein ganzes Leben jetzt ein solches Sandloch geworden.

Doch als er wieder in England war, begegnete er durch Zufall Grant Allen: Romanautor wie Arthur und schwindsüchtig wie Touie. Allen versicherte ihm, man könne die Krankheit aufhalten, ohne immer wieder ins Exil zu gehen, und bot sich selbst als lebenden Beweis an. Die Lösung des Rätsels war seine Postadresse: Hindhead in Surrey. Ein Dorf an der Straße nach Portsmouth, fast in der Mitte, wie es sich traf, zwischen Southsea und London. Entscheidender noch, ein Flecken mit ganz eigenem Klima – hoch gelegen, windgeschützt, trocken, mit vielen Fichtenbäumen und sandigem Boden, darum auch die Kleine Schweiz von Surrey genannt.

Arthur war sofort überzeugt. Wenn es etwas zu tun, ein eiliges Vorhaben umzusetzen gab, lebte er auf; er hasste das Warten und fürchtete die Untätigkeit des Exils. Hindhead war die Lösung. Land musste gekauft, ein Haus entworfen werden. Er fand knapp zwei Hektar abgelegenen und mit Wald bestandenen Grund, der in ein kleines Tal abfiel. Gibbet Hill und Devil’s Punchbowl lagen ganz in der Nähe, der Golfplatz von Hankley fünf Meilen entfernt. Die Ideen fielen Arthur wie von selbst zu. Es musste ein Billardzimmer geben, einen Tennisplatz und einen Pferdestall; Räumlichkeiten für Lottie und vielleicht auch für Mrs Hawkins und natürlich für Woodie, der jetzt auf Dauer bei ihm war. Das Haus sollte imposant und doch einladend werden: Wohnsitz eines berühmten Schriftstellers, aber zugleich auch Heim einer Familie und einer Kranken. Es musste von Licht durchflutet sein, und Touie musste das Zimmer mit der schönsten Aussicht bekommen. Die Türen durften keinen Drehknauf haben; Arthur hatte einmal versucht auszurechnen, wie viel Zeit der Menschheit durch die Betätigung des üblichen Türknaufs verloren ging. Man könnte durchaus eine Anlage zur Erzeugung von elektrischem Strom einbauen; und da Arthur jetzt eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte, wäre es nicht unangemessen, sein Familienwappen in farbiges Glas setzen zu lassen.

Arthur skizzierte einen Grundriss und übergab dann alles einem Architekten. Nicht irgendeinem Architekten, sondern Stanley Ball, seinem alten telepathischen Freund aus Southsea. Jene frühen Experimente erschienen ihm jetzt als die passende Vorbereitung. Er wollte mit Touie nach Davos zurückkehren und sich mit Ball brieflich oder, wenn nötig, per Telegramm verständigen. Doch wer wusste schon, welche architektonischen Formen auf sympathetischem Wege zwischen ihren Gehirnen hin und her fliegen könnten, während ihre Körper Hunderte von Meilen voneinander entfernt waren?

Sein Buntglasfenster würde so hoch sein wie die zweistöckige Eingangshalle. Ganz oben sollten die englische Rose und die schottische Distel die ineinander verschlungenen Initialen ACD einrahmen. Darunter sollten drei Reihen heraldischer Schilde stehen. Erste Reihe: Purcell of Foulkes Rath, Pack of Kilkenny, Mahon of Cheverney. Zweite Reihe: Percy of Northumberland, Butler of Ormonde, Colclough of Tintern. Und auf Augenhöhe: Conan of Brittany (Querbalken Silber und Rot, aufsteigender Löwe in gewechselten Tinkturen), Hawkins of Devonshire (für Touie) und dann das Wappen der Doyles: drei Hirschköpfe und die Rote Hand von Ulster. Der eigentliche Wahlspruch der Doyles war Fortitudine Vincit; doch hier setzte er eine abgewandelte Form unter den Schild: Patientia Vincit. Das sollte das Haus aller Welt wie auch der verwünschten Mikrobe verkünden: Er siegt durch Geduld.

Stanley Ball und seine Handwerker allerdings sahen nichts als Ungeduld. Arthur, der sein Hauptquartier in einem nahe gelegenen Hotel aufgeschlagen hatte, kam ständig herübergefahren und trieb sie zur Eile. Endlich aber nahm das Haus erkennbare Formen an: ein lang gezogenes, scheunenartiges Gebilde aus rotem Backstein mit Ziegeldach und steilem Giebel, in der Talenge gelegen. Arthur stellte sich auf seine frisch verlegte Terrasse und warf einen prüfenden Blick auf die weite, erst vor kurzem planierte und besäte Rasenfläche. Dahinter fiel der Boden in einem immer spitzer werdenden V bis zum Waldrand hin ab. Das Bild hatte etwas Wildes und Magisches: Schon beim ersten Anblick hatte Arthur an eine deutsche Märchenlandschaft denken müssen. Wahrscheinlich würde er hier Rhododendron anpflanzen.

An dem Tag, als das Fenster der Eingangshalle an seinen Platz gehievt wurde, nahm er Touie mit, damit sie der Enthüllung beiwohnen konnte. Sie stand vor dem Fenster, ließ den Blick über die Farben und Namen gleiten und schließlich auf dem Wahlspruch des Hauses ruhen.

»Das wird der Mama gefallen«, bemerkte er. Erst das kleine Zögern seiner Frau, bevor sie lächelte, verriet ihm, dass etwas nicht in Ordnung war.

»Du hast recht«, sagte er sofort, obwohl sie noch immer kein Wort gesprochen hatte. Wie konnte er nur so ein Dummkopf sein? Den eigenen illustren Ahnen huldigen und dabei die Familie der Mutter glatt vergessen? Im ersten Moment wollte er die Arbeiter das ganze verfluchte Fenster wieder ausbauen lassen. Später, nach schuldbewusstem Grübeln, gab er ein zweites, bescheideneres Fenster für die Treppenbiegung in Auftrag. In dessen Mitte sollte das vergessene Wappen und der Name stehen: Foley of Worcestershire.

Er beschloss, das Haus nach dem steilen Wäldchen, unter dem es lag, Undershaw zu nennen. Der Name würde diesem modernen Bau ein vornehmes alt-angelsächsisches Flair verleihen. Hier könnte das Leben weitergehen wie zuvor, wenn auch mit Vorsicht und in gewissen Grenzen.

Das Leben. Wie leicht dieses Wort jedem, ihn selbst eingeschlossen, über die Lippen ging. Das Leben muss weitergehen, sagte man gewohnheitsmäßig, und alle stimmten zu. Doch wie selten fragte jemand, was dieses Leben ist, und warum es ist, und ob es das einzige Leben ist oder ein bloßes Amphitheater für etwas ganz anderes. Es war Arthur häufig ein Rätsel, mit welcher Selbstgefälligkeit die Menschen mit … mit dem fortfuhren, was sie unbekümmert ihr Leben nannten, als wäre ihnen der Sinn des Wortes wie auch dessen, was es bezeichnete, völlig klar.

Sein alter Freund aus Southsea, General Drayson, war zu einem überzeugten Spiritualisten geworden, nachdem auf einer Séance sein Bruder zu ihm gesprochen hatte. Danach behauptete der Astronom, das Weiterleben nach dem Tod sei keine bloße Vermutung, sondern eine beweisbare Tatsache. Arthur hatte ihm damals höflich widersprochen; dennoch standen auf seiner Leseliste in jenem Jahr vierundsiebzig Werke über den Spiritualismus. Er hatte sie alle verschlungen und sich einzelne eindrucksvolle Stellen und Leitsätze notiert. Wie diesen Ausspruch von Hellenbach: »Es gibt einen Skeptizismus, der blödsinniger ist als der einfältigste Tölpel.«

Bevor Touies Krankheit offenbar wurde, hatte Arthur alles, was ein Mann nach landläufiger Meinung zu seiner Zufriedenheit brauchte. Und doch wurde er das Gefühl nie recht los, was er erreicht hatte, sei nichts als ein belangloser, trügerischer Anfang, und er sei für etwas ganz anderes geschaffen. Doch was mochte dieses andere sein? Er nahm seine Beschäftigung mit den Weltreligionen wieder auf, fand sie aber allesamt so wenig passend für sich wie einen Knabenanzug. Er trat der Rationalist Association bei und hielt ihr Wirken für notwendig, aber im Grunde destruktiv und daher fruchtlos. Die Zerstörung überholter Religionen war eine wesentliche Bedingung für den Fortschritt der Menschheit gewesen; doch wo sollte der Mensch, da die alten Gebäude nun geschleift waren, in dieser verdorrten Landschaft Zuflucht finden? Wie konnte jemand kurzerhand verfügen, die Geschichte dessen, was die Menschheit seit Jahrtausenden einvernehmlich die Seele nannte, sei nun zu Ende? Die Menschen würden sich weiterentwickeln, daher musste sich das, was in ihrem Innern war, gleichfalls weiterentwickeln. Das konnte doch selbst ein skeptischer Tölpel einsehen.

In der Umgebung von Kairo hatte Arthur, während Touie in tiefen Zügen die Wüstenluft einatmete, historische Abhandlungen über die ägyptische Kultur gelesen und die Pharaonengräber besichtigt. Er kam zu dem Schluss, dass die alten Ägypter zwar die Künste und Wissenschaften unbestreitbar zu neuer Blüte gebracht hatten, ihre Denkweise aber in vielerlei Hinsicht nur zu verachten war. Vor allem ihre Einstellung zum Tod. Die Vorstellung, der tote Körper – ein alter, abgetragener Mantel, der einmal für kurze Zeit die Seele umhüllt hatte – müsse um jeden Preis erhalten werden, war nicht nur lachhaft, damit wurde auch der Materialismus auf die Spitze getrieben. Und dass man Körbe mit Proviant in die Gräber stellte, damit die Seele auf ihrer Wanderung etwas zu essen hatte: Wie konnte ein hochkultiviertes Volk geistig so verweichlicht sein? Religiöser Glaube, durch Materialismus verstärkt: ein doppelter Fluch. Und derselbe Fluch verdarb späterhin sämtliche Völker und Kulturen, die unter die Herrschaft einer Priesterschaft gerieten.

Damals in Southsea hatten ihn General Draysons Argumente nicht überzeugen können. Nun aber wurden übersinnliche Erscheinungen auch von hervorragenden und erwiesenermaßen redlichen Wissenschaftlern wie William Crookes, Oliver Lodge und Alfred Russel Wallace bezeugt. Demnach führten die Männer, die am meisten von der natürlichen Welt verstanden – die großen Physiker und Biologen –, uns auch in die übernatürliche Welt.

Wallace, zum Beispiel. Der Mitbegründer der modernen Evolutionstheorie, der Mann, der an Darwins Seite stand, als sie gemeinsam der Linnaean Society das Prinzip der natürlichen Selektion vortrugen. Furchtsame und phantasielose Naturen hatten das so verstanden, als hätten Wallace und Darwin uns in einem gottlosen und mechanistischen Universum ausgesetzt und im finsteren Tal alleingelassen. Doch man bedenke, was Wallace selbst glaubte. Dieser größte Mann der modernen Zeit war der Ansicht, die natürliche Auslese erkläre lediglich die Entwicklung des menschlichen Körpers; irgendwann müsse auch eine übernatürliche Macht in den Evolutionsprozess eingegriffen haben, und da sei die Flamme des Geistes in das noch unfertige, sich in der Entwicklung befindende Lebewesen eingesetzt worden. Wer wagte da noch zu behaupten, die Wissenschaft sei der Feind der Seele?