George
George besteht seine Abschlussprüfung mit Second Class Honours und wird mit einer Bronzemedaille der Birmingham Law Society ausgezeichnet. Er eröffnet eine Kanzlei in der Newhall Street 54 und hat für den Anfang Arbeit in Aussicht, die bei Sangster, Vickery & Speight nicht bewältigt werden kann. Er ist dreiundzwanzig Jahre alt, und seine Welt beginnt sich zu verändern.
Obwohl George ein Kind des Pfarrhauses ist, obwohl er als guter Sohn ein Leben lang auf das gehört hat, was von der Kanzel in St Mark’s verkündet wurde, hat er häufig den Eindruck, die Bibel nicht zu verstehen. Nicht alles, was dort steht, und nicht immer; ja, nicht genug und nicht oft genug. Es wird stets ein gewisser Sprung verlangt, von Tatsachen zum Glauben, vom Wissen zum Verstehen, zu dem er sich nicht imstande fühlt. Darum kommt er sich vor wie ein Heuchler. Die Lehren der Kirche von England sind für ihn in immer weitere Ferne gerückt. Er empfindet sie nicht als Wahrheiten, die ihn direkt angehen, und sieht sie nicht täglich und stündlich wirken. Natürlich erzählt er seinen Eltern nichts davon.
In der Schule wurden ihm weitere Geschichten und Erklärungen des Lebens vorgelegt. Die Wissenschaft sagt dies, die Geschichte jenes, die Literatur wiederum das … George entwickelte ein Geschick darin, Prüfungsfragen zu diesen Themen zu beantworten, selbst wenn sie für ihn leblos und tot blieben. Dafür hat er die Jurisprudenz entdeckt, und endlich hat die Welt für ihn einen Sinn. Bislang unsichtbare Verbindungen beginnen sich abzuzeichnen – zwischen Menschen, zwischen Dingen, zwischen Gedanken und Prinzipien.
Zum Beispiel sitzt er im Zug zwischen Bloxwich und Birchills und schaut aus dem Fenster auf eine Hecke. Er sieht nicht das, was seine Mitreisenden sähen – verschlungenes Buschwerk, vom Wind zerzaust, das nistenden Vögeln ein Zuhause bietet –, sondern eine förmliche Grenze zwischen Landbesitzern, eine durch Vertrag oder Gewohnheitsrecht entstandene Demarkationslinie, etwas Aktives, das gutes Einvernehmen oder aber Streit bewirken kann. Im Pfarrhaus sieht er das Hausmädchen den Küchentisch scheuern, und statt eines derben und plumpen Mädchens, das womöglich die Bücher an die falsche Stelle legt, hat er einen Arbeitsvertrag und eine Sorgfaltspflicht vor Augen, ein komplexes und fein gesponnenes Beziehungsgeflecht, geschaffen von einer jahrhundertelangen Rechtsprechung, von der die beteiligten Parteien überhaupt nichts wissen.
Auf juristischem Terrain fühlt er sich glücklich und sicher. Man muss viel Textexegese betreiben, denn ein Wort kann verschiedene Bedeutungen haben; und es gibt fast so viele Kommentare zu den Gesetzen wie zur Bibel. Doch am Ende wird kein weiterer Sprung verlangt. Am Ende hat man eine Vereinbarung, ein Urteil, an das man sich halten muss, eine Übereinkunft darüber, was die Worte bedeuten. Es ist eine Reise von der Konfusion zur Klarheit. Ein betrunkener Seeman schreibt seinen letzten Willen auf ein Straußenei; der Seemann ertrinkt, das Ei wird gerettet, und die Justiz bringt Logik und Fairness in die vom Meerwasser verwaschenen Worte des Seemanns.
Andere junge Männer teilen ihr Leben in Arbeit und Vergnügen ein; ja, sie verbringen das eine, indem sie von dem anderen träumen. George meint, die Juristerei gebe ihm beides. Er hat weder das Bedürfnis noch den Wunsch nach sportlicher Betätigung, Bootsfahrten oder Theaterbesuchen; er hat kein Interesse an Alkohol oder Schlemmereien oder an Pferden, die um die Wette laufen; er hat wenig Lust zu reisen. Er hat seine Praxis, und zum Vergnügen hat er das Eisenbahnrecht. Es ist erstaunlich, dass es für die Zehntausende von Zugreisenden pro Tag keinen praktischen Taschenratgeber gibt, der ihnen Einblick in ihre Rechte gegenüber der Eisenbahngesellschaft verschafft. Er hat sich an die Firma Effingham Wilson gewandt, in deren Verlag »Wilson’s Legal Handy Books« erscheinen, und nach Vorlage eines Musterkapitels haben sie sein Angebot angenommen.
George wurde zum Glauben an Fleiß, Ehrlichkeit, Sparsamkeit, Wohltätigkeit und Liebe zur Familie erzogen, und auch zum Glauben daran, dass Tugend sich selbst genug ist. Darüber hinaus soll er als das älteste Kind Horace und Maud ein Vorbild sein. George wird mehr und mehr bewusst, dass seine Eltern zwar ihre drei Kinder gleich lieben, er aber die Hauptlast ihrer Erwartungen trägt. Maud kann immer Anlass zur Sorge geben. Horace ist ein in jeder Hinsicht vollkommen anständiger Kerl, doch das Lernen hat ihm nie so recht gelegen. Er ist von zu Hause ausgezogen und mit Hilfe eines Vetters der Mutter als niederer Verwaltungsbeamter im Staatsdienst untergekommen.
Und dennoch gibt es Momente, in denen George sich dabei ertappt, dass er Horace beneidet, der nun als möblierter Herr in Manchester wohnt und ab und zu fröhliche Postkarten aus einem Badeort am Meer schickt. Es gibt auch Momente, in denen er wünscht, Dora Charlesworth existiere tatsächlich. Aber er kennt keine Mädchen. Es kommen keine ins Haus; Maud hat keine Freundinnen, mit denen er sich in solchen Bekanntschaften üben könnte. Greenway und Stentson prahlten gern mit ihren Erfahrungen auf diesem Gebiet, doch George hatte oft seine Zweifel an ihren Behauptungen und ist froh, die beiden nicht mehr um sich zu haben. Wenn er auf seiner Bank am St Philip’s Place sitzt und seine Sandwiches isst, wirft er vorübergehenden jungen Frauen bewundernde Blicke nach; manchmal merkt er sich ein Gesicht und sehnt es des Nachts herbei, während neben ihm sein Vater brummt und schnieft. Die Sünden des Fleisches sind im fünften Kapitel des Galaterbriefs aufgeführt und George wohlbekannt – sie beginnen mit Ehebruch, Hurerei, Unreinigkeit und Unzucht. Doch er glaubt nicht, dass sein eigenes stilles Verlangen in eine der letzten beiden Kategorien fällt.
Eines Tages wird er verheiratet sein. Er wird sich nicht nur eine Taschenuhr, sondern auch einen jungen Sozius zulegen, und vielleicht auch einen Rechtspraktikanten, und dann eine Frau, kleine Kinder und ein Haus, bei dessen Erwerb er all seine Kenntnisse in der Übertragung von Grundeigentum eingebracht hat. Er stellt sich schon vor, wie er mit ehrwürdigen Kollegen aus anderen Birminghamer Kanzleien beim Mittagessen den Sale of Goods Act von 1893 erörtert. Sie lauschen ehrerbietig seiner Zusammenfassung der verschiedenen Auslegungen dieses Gesetzes und rufen »Der gute alte George!«, wenn er die Rechnung übernimmt. Wie man von hier nach dort kommt, weiß er nicht recht: ob man sich erst eine Frau und dann ein Haus zulegt, oder erst ein Haus und dann eine Frau. Doch er malt sich aus, wie das alles auf einem bislang noch verborgenen Weg geschieht. Für beide Anschaffungen ist es natürlich notwendig, dass er aus Wyrley fortzieht. Danach fragt er seinen Vater nicht. Er fragt ihn auch nicht, warum er nachts weiterhin die Schlafzimmertür abschließt.
Als Horace aus dem Elternhaus auszog, hatte George gehofft, das freie Zimmer zu bekommen. Den kleinen Schreibtisch, der bei seinem Eintritt ins Mason College für ihn in Vaters Studierzimmer gerückt worden war, fand er nun nicht mehr angemessen. Er stellte sich Horaces Zimmer und darin sein Bett, seinen Schreibtisch vor; er stellte sich eine Privatsphäre vor. Doch als er der Mutter seine Bitte vortrug, erklärte sie ihm sanft, Maud sei jetzt so weit zu Kräften gekommen, dass sie allein schlafen könne, und diese Chance wolle er ihr doch nicht nehmen, nicht wahr? George erkannte, dass es nun zu spät war, Vaters Schnarchen anzuführen, das schlimmer geworden war und ihn manchmal am Einschlafen hinderte. Und so arbeitet und schläft er weiter in Reichweite seines Vaters. Man gewährt ihm aber einen kleinen Tisch neben dem Schreibtisch, auf dem er weitere Bücher ablegen kann.
Er bleibt bei seiner Gewohnheit, die jetzt zu einer Notwendigkeit geworden ist, nach der Rückkehr aus der Kanzlei etwa eine Stunde über die Feldwege zu streifen. Das ist ein Aspekt seines Lebens, in den er sich nicht hineinreden lässt. Er hat ein Paar alte Stiefel an der Hintertür stehen und macht seinen Spaziergang bei Sonne und Regen, Hagel und Schnee. Der Landschaft schenkt er keine Beachtung; sie interessiert ihn so wenig wie die massigen, brüllenden Tiere darin. Was die Menschen angeht, so meint er bisweilen, ein Gesicht aus der Dorfschule in Mr Bostocks Zeiten zu erkennen, ist sich aber nie ganz sicher. Aus den Bauernjungen sind jetzt bestimmt Landarbeiter geworden, und die Bergarbeitersöhne fahren selbst in den Schacht ein. An manchen Tagen grüßt George jeden Entgegenkommenden andeutungsweise mit einer seitlichen Kopfbewegung; ein andermal grüßt er niemanden, selbst wenn er sich erinnert, das am Vortag getan zu haben.
Eines Abends schiebt er seinen Spaziergang auf, weil er auf dem Küchentisch ein kleines Päckchen liegen sieht. Dessen Größe und Gewicht sowie der Londoner Poststempel verraten ihm sofort, was es enthält. Er will den Moment so lange wie möglich hinauszögern. Er knotet den Bindfaden auf und wickelt ihn sorgfältig um seine Finger. Er entfernt das braune Wachspapier und streicht es zur Wiederverwendung glatt. Maud ist inzwischen furchtbar aufgeregt, und selbst die Mutter zeigt Anzeichen von Ungeduld. Er schlägt das Buch auf und sieht sich das Titelblatt an.
Dann blättert er weiter zum Inhaltsverzeichnis. Einschlägige Bestimmungen und deren rechtliche Gültigkeit. Dauerfahrkarten. Unpünktlichkeit von Zügen etc. Gepäck. Der Transport von Fahrrädern. Unfälle. Vermischtes. Er zeigt Maud die Fälle, die sie mit Horace im Schulzimmer erörtert haben. Hier ist der mit dem dicken Monsieur Payelle, und hier der mit den Belgiern und ihren Hunden.
Dies ist gewiss der stolzeste Tag seines Lebens; beim Abendessen stellt sich heraus, dass seine Eltern ein gewisses Maß an Stolz als gerechtfertigt und christlich gestatten. Er hat studiert und seine Examina bestanden. Er hat sich mit einer eigenen Kanzlei selbständig gemacht, und nun erweist er sich als Kapazität auf einem juristischen Gebiet, das für viele Menschen von praktischem Nutzen ist. Er ist auf dem richtigen Weg: Dies ist der wahre Beginn seiner Lebensreise.
Er geht zu Horniman & Co. und lässt Werbezettel drucken. Aufmachung, Schriftbild und Auflage bespricht er mit Mr Horniman persönlich, von Fachmann zu Fachmann. Eine Woche später ist er im Besitz von vierhundert Reklamezetteln für sein Buch. Dreihundert lässt er in der Kanzlei, da er nicht großspurig erscheinen will, und hundert nimmt er mit nach Hause. Auf dem Bestellformular werden Interessenten gebeten, eine Postanweisung über 2 Shilling 3 Pence – die drei Pence sind für das Porto – an die Newhall Street 54 in Birmingham zu schicken. Einige Packen dieser Werbezettel gibt er seinen Eltern mit der Aufforderung, sie allen in die Hand zu drücken, die Bedarf an seinem Buch haben könnten. Am nächsten Morgen überreicht er dem Stationsvorsteher von Great Wyrley & Churchbridge drei Zettel und verteilt weitere an ehrbare Mitreisende.